Streulicht (eBook)

Roman | Frankfurt liest ein Buch 2023

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
287 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75349-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Streulicht -  Deniz Ohde
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem gefeierten Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Sie spürt den Sollbruchstellen im Leben ihrer Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, ehe sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst - zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.



<p>Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie heute auch lebt. Für ihren Debütroman <em>Streulicht</em>, der 2020 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet.</p>

Die Luft verändert sich


Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht. Ich übertrete die Schwelle an der Endhaltestelle, wo die Busse eine Schleife fahren und dann vor dem Haupteingang des Friedhofs eine Pause einlegen. Hier verändert sich das Licht, wie gestrichener Ton spannen sich mir die Wangen über den Knochen, und mit jedem Schritt ragt eine der Laternen aus der Dunkelheit. Die Dächer der neben dem Weg zur Großen Eiche aufgereihten Einfamilienhäuser heben sich so scharf vom dahinterliegenden Himmel ab, dass ich sie selbst dann noch sehe, wenn ich für kurze Zeit die Augen schließe, als hätte ich zu lang in die Sonne gestarrt. Als ich an der Großen Eiche ankomme, ist mein Blick schon zu meinem alten geworden, ich bemühe mich, keinen bestimmten Punkt zu fixieren, obwohl mich niemand dabei sehen kann, sich niemand auf der Straße befindet, dem meine Blicke auffallen könnten, nur hinter einzelnen Fenstern ist noch Licht, und Schattenrisse bewegen sich in den Räumen, stehen von ihren Fernsehsesseln auf, um sich bettfertig zu machen oder das Tablett mit dem Abendessen wegzubringen. Es kommt mir vor, als müsste hinter jeder Fassade der Tod lungern, müssten hinter den dunklen Fenstern Krankenbetten mit Dahinsiechenden verborgen sein. Kein Geräusch dringt durch die Straßen bis auf das leise Brummen, das den Ort zu jeder Zeit erfüllt, nachts fällt es besonders auf. Ein weißes Rauschen, das von der anderen Seite des Flusses herrührt und sich schon in meine Ohrmuschel gräbt, weich und rau zugleich, wie ein vertrauter Deckenbezug sich auf der Haut anfühlt. Auch das ist eine Eigenart des Ortes, die mir wie allen anderen hier schon nach wenigen Stunden nicht mehr ungewöhnlich vorkommen wird. Einzig an der letzten Kreuzung vor dem Haus begegnet mir doch jemand, ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die an seiner Hand geht und unter einer der Laternen ihren eigenen Schatten entdeckt, er fächert sich um sie herum auf, mit ausgewaschenem Rand. Sie versucht im Spiel auf ihm herumzuspringen. »Stirb, du Schatten!«, ruft sie begeistert, und der Vater lächelt mich stolz an. Ich lächle zurück und erwarte, dass mir dabei die Wangen von den Knochen bröckeln wie ausgedörrte Erde.

Der Schlüssel dreht sich leichtgängig im Schloss der maroden Holztür, sie gibt das gleiche Geräusch von sich wie immer, als würde ich gerade von der Schule nach Hause kommen, Schweiß vom Schulsport zwischen den Schulterblättern, leere Brottüten in den Fächern des Rucksacks, aber es ist dunkel, und ich schalte das Licht im Treppenhaus an. Im ersten Stock stapeln sich Kartons neben der Wohnungstür und Holzkörbe mit Kartoffeln und Zwiebeln. Der Schlüssel steckt hier von außen, dieser dicke Metallschlüssel mit altmodischem Bartprofil. »Mach das Licht zu«, hat meine Mutter immer gesagt, wenn wir nach Hause kamen, denn die Treppenhausbeleuchtung hat keine Zeitschaltung; »das Licht zumachen«, so hat sie es genannt. Ich öffne die Tür und schließe das Licht. Der Geruch von Zigarettenrauch schlägt mir entgegen. Alles in diesem Haus riecht nach Rauch, nichts entkommt dem wabernden Dampf, der sich durch jede Ritze drückt, die Bettbezüge, die Handtücher und Sofakissen werden regelmäßig durch die Waschmaschine gedreht und mit duftendem Pulver überschüttet, aber sobald sie aus der Maschine gezogen werden, verklebt der Rauch die Fasern. Auch dass mein Vater sich angewöhnt hat, die Küchentür zu schließen, hilft wenig. Ich drücke die Klinke herunter, das Holz des Türrahmens knackt, noch mehr Rauch steht in der Küche, und mein Vater sitzt auf der Bank, dreht mit freudigem Ausdruck der Erwartung den Kopf zu mir, bis er mich sieht, mit dem Rucksack auf den Schultern, der gegen die zurückspringende Tür schlägt, weil sie sich nicht ganz öffnen lässt. Die Lebensmittel, die sich auf der Küchenzeile stapeln, die blaue Plastiktüte mit dem alten Brot, dieser Überfluss an Essen und billigen Möbeln, die niedrigen Decken, das Weiß der Wände, das sich über die Jahre gelb gefärbt hat, die sich stapelnden Fernsehzeitungen, der PVC-Boden vor dem Herd und der Korkboden im Flur, der sich an einigen Stellen löst; all diese Dinge, die ich wiedererkenne. Die fleckige Tischdecke, die zur Hälfte mit Tassen vollgestellt ist, die alte Thermoskanne mit von kaltem Kaffee verkrusteter Öffnung, der Kühlschrankmagnet einer Käsefirma, den mein Vater und ich einmal als Werbegeschenk bekommen haben, als wir auch diesen rosa Reiswein gekauft haben, weil er im Angebot war, und den ich in der Nacht ins Klo gekotzt habe. Die rote Klammer, mit der meine Mutter früher ihr Haar im Nacken zusammengehalten hat, die jetzt in dem Korb mit alten Werbeflyern liegt. Die große Papiertüte an der Türklinke, in der Verpackungsmüll gesammelt wird, bis er überquillt.

»Da bist du!«, sagt mein Vater.

Eine Weile geht es hin und her, ob die Fahrt gut war, ob ich den Weg noch gefunden habe, »sieht noch alles gleich aus, oder, hier hat sich nichts verändert«, sagt er verschmitzt. Ich lege meine Sachen ab, setze mich ebenfalls, bekomme einen Tee. »Hier ist alles beim Alten«, sagt mein Vater nochmal, »außer, dass du jetzt alt genug bist und deine Freunde heiraten, ist das nicht unglaublich? So geht es los. So geht alles seinen Gang.« Die Stimme meines Vaters klingt seltsam tief und verbraucht, ähnlich der meines Großvaters damals. »Das war aber auch lang in der Mache mit den beiden. Eine richtige Sandkastenliebe. Das gibt es sonst nur im Film. Der Pikka und die Sophia – «, er blickt ins Leere, eine Hand noch am Griff des Wasserkochers, den er gerade wieder auf seinen Fuß gestellt hat. »Ich seh die manchmal im Supermarkt, richtige Erwachsene sind das geworden, die Sophia so fein in ihren weißen Blusen und Röcken, aber fein war sie ja schon immer, schon fast zu fein für ein Kind. Es gibt einfach welche, die kommen als Erwachsene zur Welt. Und Pikka, ich weiß noch, wie der sich früher Sorgen wegen der Grasflecke auf seinen Hosen gemacht hat, weil seine Mutter immer sauer geworden ist, wenn er dreckig heimkam. Immer fast den Tränen nah, der Arme. Ihr habt ja viel Zeit auf der Flusswiese verbracht, und so gehört sich das auch: dass Kinder draußen sind. Das hab ich wenigstens nie gemacht. Geschimpft wegen ein paar Flecken. So fein waren wir nie. Wann geht es denn morgen los?«

»Um zwölf«, sage ich.

»Na ja – «

Dann kommt mein Vater wie immer auf die Bahnverbindungen und den Straßenverkehr auf der A66 zu sprechen, auf das Wetter, das früher anders war, auf das Fernsehprogramm. Am liebsten sind ihm Sendungen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen oder alte Formate neu aufrollen: Abenteuer 1900, Anno 1476, das Remake von Winnetou, die Chartshow mit den größten Hits der Siebziger. Die vom Geschichtsverein des Stadtteils mühsam zusammengestellte Chronik über den Ort liegt neben ihm auf dem Küchentisch, auf weißem Kopierpapier gedruckt und in A4 gebunden, mit pixeligen Abzügen von Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Frauen in Schürzen, die vor dem Haus stehen. Immer wieder sein wie es früher war.

Vierzig Jahre hat er in derselben Firma gearbeitet, auch darauf kommt er immer wieder zu sprechen. Dieser Arbeiterstolz, gemischt mit Trotz und aus Not geborener Arroganz (das Kinn, das er leicht hebt, die Lider, die einige Millimeter sinken, die Schultern, die er dabei nach unten drückt); mein Vater tunkte vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen, vierzig Stunden in der Woche.

Die Hilflosigkeit bei allem, was darüber hinausgeht.

Er nimmt nicht teil an den Gottesdiensten, er ist in keinem Verein (auch nicht im Männerchor Fortuna), er lässt niemanden ins Haus, Besuch, das ist etwas, was er nicht kennt und was er mir verboten hat, als ich noch bei ihm wohnte, Besuch, das waren Fremde, die in unser...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte abendschule • Abitur • aktuelles Buch • Alkoholismus • Annie Ernaux • Arbeiterkind • Arbeiterklasse • aspekte-Literaturpreis • Aufstieg durch Bildung • Bestseller bücher • Bildung • Bildungsgleichheit • Biografie • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Debütroman • Deutscher Buchpreis 2020 Longlist • Deutscher Buchpreis 2020 Shortlist • Deutscher Buchpreis Longlist • Deutscher Buchpreis Shortlist • Deutschland • Didier Eribon • Diskriminierung • Elite • Familie • Felix Lobrecht • Frankfurt am Main • Frankfurt-Höchst • Frankfurt liest ein Buch • Frau • Gewalt • Großvater • Gymnasium • Habitus • Herkunft • Hochzeit • Industrie • Jürgen Ponto-Preis • Kindheit • Klassengesellschaft • Klassismus • Migration • Milieu • Mutter • Neuerscheinungen • neues Buch • Open Mike • Rassismus • Scham • Shortlist Deutscher Buchpreis • Sozialer Aufstieg • soziale Scham • Spiegel-Bestseller-Liste • Studium • Türkei • Vater • Weiblichkeit • Westdeutschland
ISBN-10 3-518-75349-5 / 3518753495
ISBN-13 978-3-518-75349-1 / 9783518753491
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99