Blue Skies (eBook)
400 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27811-0 (ISBN)
Der Countdown zur Apokalypse läuft: Kalifornien geht in Flammen auf, Überschwemmungen bedrohen Florida. 'Der Planet stirbt, siehst du das nicht?', wirft Cooper seiner Mutter vor, die ihre Küche gehorsam auf frittierte Heuschrecken umstellt. Heftige Diskussionen gibt es auch mit Schwester Cat. Sie hat sich als Haustier einen Tigerpython namens Willie angeschafft, die sie sich wie ein glitzerndes Juwel um die Schultern hängt. Die Frage nach dem Verhältnis zur Umwelt geht wie ein Riss durch die Familie, bis eines Nachts Willie aus dem Terrarium verschwindet. Mit 'Blue Skies' hat T.C. Boyle den ultimativen Roman über den Alltag in unseren Zeiten geschrieben. Unheimlich, witzig und prophetisch.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in vielen Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Stories, 2018), Das Licht, (Roman, 2019) Sind wir nicht Menschen (Stories, 2020) sowie Sprich mit mir (Roman, 2021).
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1
SIE WAREN WIE SCHMUCK
SIE WAREN wie Schmuck, wie ein lebendiger Schmuck, und sie stellte sich vor, wie sie sich eine um die Schultern legen und vor Bobo oder dem Cornerstone an einem Tisch auf dem Bürgersteig sitzen würde, und Leute würden vorbeigehen und so tun, als würden sie sie nicht bemerken. Es wäre ein Statement, so viel war sicher. Sie würde ein Tube-Top tragen, das einen schönen Kontrast zu ihrer nackten Haut bildete — in Schwarz, auf jeden Fall in Schwarz, und dazu eine schwarze Jeans und vielleicht ihren Fedora —, und sie würde einfach ihr Glas oder Todd ansehen, als wäre alles ganz normal. Und er würde mitspielen, da war sie ganz sicher — sie waren jetzt in dieser Phase ihrer Beziehung: Er hatte ihr einen Ring geschenkt, sie waren zusammengezogen, und sie konnte praktisch alles haben, was sie wollte.
Außer einem Baby. Soll das ein Witz sein oder was? Ich bin nicht mal annähernd so weit, dass ich bereit dazu wäre. Mal ganz abgesehen davon, was das kostet, Herrgott. Nicht mal einen Hund oder auch nur eine Katze wollte er ihr erlauben. Er war allergisch. Haare. Hautschuppen. Flöhe. Hatte sie eigentlich eine Vorstellung davon, wie viel seine Eltern für Inhalatoren und Spritzen und den ganzen Rest hatten ausgeben müssen, als er ein Kind gewesen war? Nein, hatte sie nicht. Und im Moment war es ihr auch vollkommen egal. So was nannte man Impulskauf: Kaum war sie eingetreten und hatte sie schimmernd in ihren Plexiglasterrarien liegen sehen, da hatte sie gewusst, dass sie unbedingt eine haben wollte.
Der Laden hieß Herps und lag am Rand des Einkaufsviertels, wo die Schnellimbisse waren und die Autowerkstatt und ein paar haitianische und kubanische Klitschen. Sie hätte ihn gar nicht bemerkt, geschweige denn betreten, wenn sie sich nicht so gelangweilt hätte. Todd ließ gerade den Wagen durchsehen und auf Hochglanz bringen, aber er konnte das Ding nicht einfach abliefern und darauf vertrauen, dass die Leute schon wussten, was zu tun war — nein, er musste ihnen über die Schulter sehen, während sie sich mit Poliertüchern und Zahnbürsten und Versiegelungen darüber hermachten. Es sollte alles schön gründlich sein. So war er eben, ein Perfektionist, und er sagte gern, dass sie gut zusammenpassten, denn sie sei eine Unperfektionistin. Was vielleicht ein bisschen passiv-aggressiv, aber eigentlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Gegensätze zogen sich an — war das nicht geradezu biologisch vorgegeben?
Sie war auf der Suche nach einer Bar, denn sie fand, ein Mojito würde ihren Nachmittag vielleicht ein bisschen aufhellen, da fiel ihr Blick auf die Schlange im Schaufenster: Dick wie ein Lastwagenreifen lag sie ausgestreckt auf einem diagonal aufragenden künstlichen Ast. Sie war schokoladenbraun und mit einem goldenen Geflecht überzogen, das wie ein Muster in einem Katalog aussah. Ihre Augen waren kalte, harte Perlen, ihre Zunge schnellte vor und zurück. Vor allem aber war sie auf eine Weise präsent, wie die meisten anderen Dinge auf dieser Welt es mit Sicherheit nicht waren. Sie starrte die Schlange für einen langen Augenblick an und fiel in eine Art Trance, bis die Reflexion eines hinter ihr vorbeifahrenden Wagens sie zurückholte. Natürlich hatte sie schon mal Schlangen gesehen — im Zoo, in Dokumentarfilmen oder plattgefahren auf dem Asphalt irgendwelcher Landstraßen —, doch erst jetzt sah sie sie wirklich, erst jetzt, da Abstraktion und Wirklichkeit zu einer Idee verschmolzen, zu einem Wunsch, einem Bedürfnis, so dringend, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Sie kramte die Mineralwasserflasche aus ihrer Handtasche, trank einen großen lauwarmen Schluck, wandte sich zur Tür und trat in den Laden.
Er war trübe beleuchtet, alles Licht kam von den Terrarien, die an den Wänden und auf niedrigen Tischen mitten im Raum gestapelt waren. In manchen waren Eidechsen, Frösche oder Schildkröten, doch die meisten enthielten Schlangen, die reglos dalagen wie Tuchballen in einem Stoffgeschäft. Ein zarter, trockener Geruch lag in der Luft, ein Geruch nach Stoffwechsel, und sie dachte daran, dass Schlangen ihren Unterkiefer aushakten, wenn sie ihre Beute verschlangen — meist Mäuse oder Ratten, nicht? Die größeren bekamen vielleicht Kaninchen. Und was wurde aus denen? Wahrscheinlich Scheiße. Schlangenscheiße, und wie sah die wohl aus? War es das, was sie hier roch? Eigentlich müssten sie ja auch pinkeln, aber hatte sie nicht irgendwo gelesen, dass Schlangen den größten Teil ihrer Körpersäfte resorbierten? Vielleicht hatte Cooper es ihr mal erzählt, ihr Bruder, der Biologe, der alles wusste.
Die Schlangen rührten sich kaum, nur eine, genau vor ihr, reckte den Kopf in Zeitlupe zum durchsichtigen Plastikdeckel des Terrariums, so gelassen und gemächlich, als wäre sie betäubt. Eine Schlange in einem Kasten, und sie konnte nirgendwohin — der Kasten war alles, der Kasten war die Welt. Das fand Cat irgendwie traurig. Sollten diese Tiere nicht viel mehr Platz haben — ein Terrarium, wo sie sich in voller Länge ausstrecken konnten, mit Steinen und Erde oder wenigstens Sand? Das mochten Schlangen doch, oder? Oder galt das nur für Wüstenschlangen? Das Wort Sidewinder schoss ihr durch den Kopf, zusammen mit einer kurzen Sequenz aus einem Dokumentarfilm: eine braune Schlange, die sich durch eine kahle Landschaft schlängelte, eine zielgerichtete Maschine. Aber die hier, die Schlange direkt vor ihr, war schön, sie waren allesamt schön. Als hätte jemand den Pinsel in Acrylfarbe getaucht und Linien gezeichnet, die in den Winkeln des Mauls mit einem V begannen und sich auf dem Rücken und an den Seiten zu einem Netzmuster verflochten. Sie ging jetzt von einem Terrarium zum nächsten und schaute hinein, sichtete das Angebot, als plötzlich aus einer Tür im hinteren Teil, die sie bis dahin gar nicht bemerkt hatte, ein Mann auftauchte, und ihr wurde bewusst, dass er sie bestimmt auf dem Bildschirm der Überwachungskamera beobachtet hatte, vielleicht hingefläzt in einem dieser ergonomischen Bürosessel, die man in eine beinahe liegende Position kippen konnte, denn es gab ja keinen Grund, warum er zur Mittagszeit in einem Laden ohne Kunden herumstehen sollte.
»Suchen Sie was Bestimmtes?«
Er lehnte sich lässig an einen hüfthohen Tisch mit ein paar Terrarien. Sein Gesicht wurde von unten beleuchtet und sah aus wie eine Halloweenmaske, das Licht schien in seine Nasenlöcher und ließ die Nase spitzer wirken. Er war etwa so alt wie sie selbst, vielleicht ein, zwei Jahre älter, und nicht stämmig oder dick, sondern bloß unförmig wie so viele Männer seiner Generation, die jeden Tag zwanghaft und stundenlang Videospiele spielten und zu denen Todd Gott sei Dank nicht gehörte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Erzählen Sie mir was über sie. Ich meine, sie sind fantastisch. Und die Zahlen an der Seite sind die Preise?«
»Ja, genau. Aber wenn Ihnen eine besonders gefällt, lässt sich über den Preis reden. Ich züchte sie, müssen Sie wissen. Meine Leidenschaft.«
»Die da zum Beispiel«, sagte sie und beugte sich zu dem Terrarium vor ihr, in dem eine vollkommen reglose, ins Nichts starrende, milchig bleiche Schlange lag, einen halben Meter lang und mit klar umrissenen zitronengelben Streifen geschmückt. »Was ist mit der da?«
»Das ist eine amelanotische Form. Eine Königspython-Hybride.« Er machte eine ausladende Geste. »Das sind alles Königspython-Hybriden. Ich bin gerade von der Repticon in Kissimmee zurück — Sie wissen schon, die große Reptilienausstellung.«
Sie nickte, hatte aber keine Ahnung, wovon er da redete. Er versuchte, ihr etwas zu verkaufen, und sie war bereit, es zu kaufen. Das hier war nur die Einleitung. Dass sie ihm zuhörte, war Bestandteil des Preises.
...Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Blue Skies |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 21. Jahrhundert • Apokalypse • Flammen • Florida • Gesellschaft • Haustier • Heuschrecken • Kalifornien • Klimawandel • Natur • Ökologisch • Realismus • Tigerpython • Überschwemmung • Umwelt • Umweltkatastrophe • US-amerikanisch • Waldbrand |
ISBN-10 | 3-446-27811-7 / 3446278117 |
ISBN-13 | 978-3-446-27811-0 / 9783446278110 |
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