Dschinns (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
368 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-27333-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dschinns -  Fatma Aydemir
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Fatma Aydemirs großer Familienroman - Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022
Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt 'Dschinns' nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren, sie lebt in Berlin. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman 'Ellbogen', für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie 'Eure Heimat ist unser Albtraum'. Ihr zweiter Roman 'Dschinns' (Hanser, 2022) wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet.

HÜSEYIN ... WEISST DU, wer du bist, Hüseyin, wenn du die glänzenden Konturen deines Gesichts im Glas der Balkontür erkennst? Wenn du die Tür öffnest, auf den Balkon trittst und dir warme Luft übers Gesicht streicht und die untergehende Sonne zwischen den Dächern der Wohnblocks von Zeytinburnu leuchtet wie eine gigantische Apfelsine? Du reibst dir die Augen. Vielleicht, denkst du, vielleicht war jede Hürde und jeder Zwiespalt in diesem Leben nur dazu da, um irgendwann hier oben zu stehen und zu wissen: Ich habe mir das verdient. Mit dem Schweiß meiner Stirn.

Du hörst den ersten Abendezan auf dem Balkon deiner Wohnung, deiner geräumigen 3 + 1-Zimmer-Wohnung im vierten Stock, für die du fast dreißig Jahre gearbeitet und gespart hast, während du vier Kinder aufgezogen und deiner Frau ein zwar bescheidenes, aber nie notdürftiges Leben geboten hast. Du hast deine Tage in drei Schichten gelebt, Hüseyin, hast alle Sonntagsdienste, Feiertagsdienste, Überstunden übernommen, hast von allen vorhandenen Zulagen in der Metallfabrik zu profitieren versucht, um die Familie durchzubringen, um dem Kleinen Fußballschuhe zu kaufen, um die Schulden des Großen zu begleichen, um ein bisschen was zur Seite zu legen. Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer. Wenn in ein paar Jahren Ümit die Schule beendet und du endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kannst, dann gibt es diese Wohnung hier in Istanbul mit deinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Du hast endlich einen Ort gefunden, den du dein Zuhause nennen kannst.

Genieß es, Hüseyin. Hör, wie die laute Musik aus den Läden der Straße unter dir jetzt plötzlich verstummt und da nur noch der Ezan ist und die Hupen und Stimmen von Millionen von Menschen, die weiter durch die Straßen irren, um ihren Geschäften nachzugehen. Lausch dem Geschrei der Möwen. Saug die schwüle Luft ein, die nach Abgasen und verbranntem Müll riecht, lass deinen Blick ruhig noch ein paar Minuten auf dem Gewusel da unten zwischen den Häusern ruhen, bevor du beten gehst.

Schau, gegenüber hat eine Filiale von Ibrahim Tatlıses’ Lahmacun-Restaurantkette aufgemacht. Du mochtest doch seine Lieder früher so gerne, Hüseyin, du hattest dir eine Platte von ihm besorgt, hast dir jeden Abend im Heim eine Flasche Kristallweizen geöffnet, auf das Zischen des Kronkorkens folgte das Rauschen des Plattenspielers, die Bağlama zu Beginn von Tükendi Nakdi Ömrüm. Weißt du noch, Hüseyin, zu diesem Lied hast du so viele Zigaretten geraucht, dass dein Körper sich zu einer einzigen weißen Rauchwolke auflöste in der engen Heimküche am Ende des Flurs, dieses langen, dunklen Flurs. Du fühltest Ibo, weil er in seinen Liedern von all den Menschen sang, denen keiner Gehör schenkte, den armen und dunklen und hart arbeitenden Menschen vom Land, denen wie du, Hüseyin. Und du fühltest Ibo, weil auch er die Sprache seiner Eltern abgelegt hatte wie einen unnützen Sack voll Kieselsteine.

Inzwischen aber kannst du ihn nicht mehr ertragen, du verabscheust Ibo sogar, wie er jeden Freitagabend in seiner Fernsehsendung herumhampelt und blödes Zeug spricht und seine Bauchtänzerinnen angafft, dieser ehrlose Mann, der einen einfachen Händler auf dem Markt von Urfa erschießen ließ, weil der ihn nicht bedienen wollte. So jedenfalls stand es in den Zeitungen.

Nein, Hüseyin, das ist bei aller Liebe nicht die Art von Mensch, dessen Kassetten du kaufen und hören willst. Außerdem ist Ibo auch noch von Volksmusik zu Arabesk gewechselt, und du hast doch dem Alkohol und dem Tabak längst abgeschworen, und ohne Alkohol ist dieser Arabesk ja wohl kaum zu ertragen. Und selbst wenn: Was können dir Lieder von einem solchen Menschen noch geben? Einem Mann, der seine Frauen schlägt und sich damit auch noch öffentlich schmückt? Nichts. Aber Perihan und Hakan und Ümit wird das Restaurant bestimmt trotzdem beeindrucken. Es gehört eben dem berühmtesten Menschen des Landes, und du wirst nichts dagegen sagen können, Hüseyin, wenn deine Kinder jeden Tag dorthin eilen werden, um sich mit dem Zeug vollzustopfen.

Im Gegenteil, du wirst ihnen das Essen selbst spendieren, wirst ihnen friedlich zusehen und dich daran erfreuen, dass du ihnen endlich ermöglichen kannst, von nun an jeden Sommer in Istanbul zu sein, in dieser prachtvollen Stadt, für die seit Jahrhunderten so viele Kriege geführt wurden, so viel Blut geflossen ist, und alles umsonst. Denn niemand hat verstanden, dass sich diese Stadt niemals erobern lässt, von niemandem. Am Ende nämlich erobert die Stadt immer dich. Am Ende wirst du nicht mehr sein als nur eine weitere Staubschicht in der Erde zu den Füßen neuer Eroberer mit den immer gleichen Sehnsüchten, und Istanbul wird auch sie alle in sich aufnehmen und verschlingen und zu Staub machen und sich an ihnen nähren und immer weiter wachsen zu noch strahlenderer Pracht.

Du, Hüseyin, hast schon gewusst, dass du irgendwann nach Istanbul zurückkehren würdest, als du das erste Mal hier ankamst. Du kamst damals mit dem Zug aus dem Dorf und stiegst hier in Istanbul für eine Woche bei Verwandten ab, ehe du den Bus und dann die Bahn nach Süddeutschland nahmst, um dir dort eine Arbeitsstelle zuweisen zu lassen. Sie haben dich in eine Reihe mit anderen Arbeitern gestellt, haben eure nackten Körper inspiziert und euch in die Unterhosen geschaut. Das war im Frühjahr 1971.

Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat. Aber was solltest du tun, Hüseyin? Du konntest doch nicht einfach zurück in dein Dorf. Also bliebst du und tatst das, was du tun musstest, damit dein Herkommen wenigstens einen Sinn ergab.

Wie doch die Zeit vergeht, Hüseyin. Du hast in den letzten achtundzwanzig Jahren deines Lebens mehr Geld verdient, als du dir in der Türkei auch nur hättest erträumen können. Du hast es verdient, weil du dir nie zu schade für die Arbeit warst, die kein Deutscher machen wollte. Du hast nicht geahnt, dass dein Körper schon derart bald und noch lange vor dem Rentenalter genauso müde sein würde wie die deutsche Wirtschaft nach der Wende. Du wolltest in dem Moment, in dem beide Erschöpfungen zusammentrafen und die Metallfabrik schloss, wie die meisten deiner Kollegen auch in Frührente gehen, doch man gab dir leider kein Attest dafür, obwohl dein Rücken sich nach all den Jahren am Schmelzofen wie ein verkehrtes C nach innen gekrümmt hatte und dein Knie schon nach kurzen Spaziergängen furchtbar zu schmerzen begann.

Aber das hatte alles seine Richtigkeit, Hüseyin. Denn wovon hättet ihr leben sollen damals, mit noch drei Kindern zuhause, bei 900 Mark Rente? Von deinen Ersparnissen? Hättest du auf diese Wohnung hier verzichten wollen, Hüseyin, bloß damit du ein paar Jahre früher hättest anfangen können, dich auszuruhen, aber für immer in Deutschland? Natürlich nicht, Hüseyin. Also gingst du in eine andere Fabrik, mit weniger Stundenlohn und weniger Zulagen, aber immerhin reichte es, um die Ersparnisse noch auf das Nötige aufzustocken, noch ein bisschen mehr Rente einzuzahlen. Und das Zusammenfalten von Kartons konntest du nach dem jahrelangen Zusammenschmelzen von Metallresten bei 1500 Grad auch schon nicht mehr richtige Arbeit nennen. So hast du fünf weitere Jahre geschuftet, Hüseyin, bis du letztes Jahr beim Karton-Chef höchstpersönlich und betont höflich um deine Entlassung batst. Er kam dir entgegen und du fandst endlich Zeit, dich nach einer Wohnung in Istanbul umzusehen. Zeit, dich wieder deinem Glauben zu widmen, der viele Jahre wie eine ungegossene Blume vor sich hin gewelkt war. Zeit, in dich hineinzuhören und Frieden mit deinen Dämonen zu schließen. Und nächste Woche, wenn du sechzig wirst, beginnt auch für dich endlich die Rente, Hüseyin. Sie nennen es Frührente, doch nichts daran fühlt sich früh an.

Wie doch die Zeit vergeht. Wer weiß, vielleicht gehst du gar nicht mehr zurück nach Deutschland, vielleicht bleibst du einfach hier. Vielleicht wollen Emine und deine Kinder auch bleiben, wenn sie erst einmal hier sind und sehen, wie schön du die Wohnung für sie hergerichtet hast. Vielleicht macht Ümit die Schule hier fertig. Vielleicht ...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-446-27333-6 / 3446273336
ISBN-13 978-3-446-27333-7 / 9783446273337
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