Fremdsprachen lernen an Waldorfschulen - kommunikativ, aktivierend, nachhaltig (eBook)
235 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8022-3 (ISBN)
Angelika Wiehl, Dr., lehrt am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft.
In einer Fremdsprache zu Hause sein
Erfahrungsbericht aus dem Spanischunterricht an Waldorfschulen
Anne Wolf
1Einleitung
Alle Menschen, die sich heute beruflich der pädagogischen Begleitung von Kindern oder Jugendlichen in der Schule zuwenden, also Lehrer*innen werden und sein wollen, dürfen auf vielfältige Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten zählen. Auch können sie schriftliche Anregungen wie Lehrwerke oder Aufgabensammlungen zum Selbststudium nutzen. Pädagogische und didaktische Literatur gibt es meterweise, darunter viele hilfreiche Publikationen. Dennoch ist manchmal zu erleben, dass junge Kolleg*innen etwas rat- und hilflos vor der Fülle der Angebote stehen und sich fragen, ob und wie sie den Anforderungen wohl jemals gerecht werden können.
Die inneren Fragen sind sicher berechtigt. Wir wollen den Unterricht für die uns anvertrauten jungen Menschen so vorbereiten und gestalten, dass er sie in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt und ihnen verlässliche Kenntnisse vermittelt. Das ist eine große Aufgabe, der wir uns verantwortungsbewusst und gründlich, aber auch ohne übermäßige Sorgen nähern möchten. Damit das gelingt, dürfen wir uns – neben allen fachlichen und anthropologischen Aspekten natürlich – ein paar grundsätzliche Voraussetzungen bewusst machen: Wozu dient Sprache? Warum wollen Menschen Fremdsprachen lernen? Welche innere Haltung, welches alltägliche Verhalten gegenüber der Sprache und Kultur, die wir unterrichten, pflegen wir als Lehrer*innen? Diesen Fragen widmet sich der folgende Text und gibt anschließend exemplarisch aus Praxiserfahrungen einen Einblick auf einen Teilbereich des Sprachunterrichts: Wie können wir die Schüler*innen zum Sprechen in der Fremdsprache anregen?
2Verstehen und verstanden werden
Fremdsprachen stehen in unserer vernetzten Welt hoch im Kurs. Heutzutage werden sie organisiert gelehrt, geprüft, zertifiziert; sie gehören wie Auslandsaufenthalte zu einem aussagekräftigen Lebenslauf. Manch eine*r vergisst darüber, wozu die Kenntnisse verschiedener Sprachen eigentlich dienen: natürlich dem Austausch zwischen Menschen. Und so war das schon immer. Nomadische Gruppen begegneten einander und einigten sich über Jagdgründe und Lagerplätze; sesshafte Gemeinschaften begannen, Handel zu treiben, über immer weitere Entfernungen hinweg; Eroberer zogen in die Welt; Gelehrte machten sich auf lange Reisen; kriegführende Völker nahmen Gefangene mit in ihre Heimat; Menschen wurden versklavt und verschifft. Trotz der Heterogenität der angeführten Beispiele bestand in all diesen Situationen die Notwendigkeit, sich miteinander zu verständigen.
Dazu gehören Hinsehen und Zuhören. Wenn wir andere Menschen verstehen wollen, dann müssen wir selbst zunächst still und aufmerksam sein. Dann werden wir wahrnehmen, wie sich ihre Ausdrucksweise anfühlt und welche Gesten das Gesagte begleiten; auch ohne Kenntnis der Worte wissen wir, wie der emotionale Gehalt einer Aussage zu bewerten ist. Begegnen uns weitere Sprecher*innen derselben, uns fremden Sprache, so können wir einschätzen, welche Gemeinsamkeiten bezüglich des seelischen Gehalts von Mimik, Gestik und gesprochener Sprache die Angehörigen dieser Gruppe möglicherweise auszeichnen und wann wir es mit individueller Stimmung und Ausdrucksweise zu tun haben. Wir bemerken, dass die Sprecher*innen einer anderen Sprache, deren Leben wahrscheinlich auch von anderen Gewohnheiten geprägt ist als unseres, sich als Einzelne und als Gruppe von uns unterscheiden; und wir bemerken auch, was wir mit ihnen gemeinsam haben. Wenn wir uns auf eine neue Sprache einlassen, so entdecken wir eine neue Welt, die in uns eine Resonanz findet. Vielleicht vertiefen wir uns so umfassend in dieses Neue, dass wir es uns ganz zu eigen machen und sich dadurch die bisherigen Grenzen unserer Persönlichkeit und Ausdrucksmöglichkeiten in befreiender Weise erweitern.
Das geht nur dann, wenn echte Begegnungen möglich sind. Die Schriftsprache kann man studieren, Konjugationstabellen auswendig lernen, Vokabeln üben. All das darf, kann und muss zu einem späteren Zeitpunkt Teil der Lernprozesse sein, sofern die Verhältnisse, beispielsweise in einer Schule, es erlauben und verlangen. Aber der Anfang ist ein anderer. Als Menschen interessieren wir uns vor allem für andere Menschen. Wir wollen sie verstehen; ihnen wollen wir uns mitteilen; von ihnen wollen wir lernen. Und das erfordert zunächst das lebendige, gesprochene Wort – egal, in welcher Sprache.
3In der „fremden“ Sprache zu Hause sein und Brücken bauen
An Waldorfschulen werden zwei Fremdsprachen ab der ersten Klasse angeboten. Nachahmend tauchen die Kinder in fremde Klänge, Spiele, Geschichten ein. Sie sprechen nach, was sie hören. Sie spielen, was sie sagen. Sie erleben das Wesen und die Struktur gleich zweier Sprachen, die sie sich mehr und mehr aneignen. Später kommen die geschriebenen und gelesenen Worte hinzu, wird die Ausdrucksweise eigenständiger, erwacht das Bewusstsein für die grammatikalischen Regeln, verfeinert sich der persönliche Stil. Die Kinder und Jugendlichen wachsen mit zwei ihnen zunächst fremden Sprachen auf und letztlich in zwei eigene Sprachen hinein.
Was bedeutet das für uns als Fremdsprachenlehrer*innen?
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wirklich ganz in der Fremdsprache zu Hause zu sein – und zwar mit Freude und Interesse. Nicht jede*r hat die Möglichkeit, Jahre in Spanien, Peru oder Äquatorialguinea zu verbringen (wer Englisch, Französisch, Russisch oder Mandarin unterrichtet, möge sich passende geographische Bezüge denken). Aber wir sind irgendwann dort gewesen, wo jene Sprache, die wir den Kindern und Jugendlichen nahebringen möchten, die Alltagssprache ist. Wir haben Gewohnheiten beobachtet, Gesten verstanden, das Leben in einer anderen Kultur eine Weile geteilt und uns mit großer Selbstverständlichkeit in Worten ausgedrückt, die uns irgendwann einmal fremd gewesen waren. Die Unsicherheit, die wir als Anfänger*innen in der ersten, fünften oder neunten Klasse vielleicht selbst empfunden haben, ist hoffentlich schon lange vorbei. In Situationen, in denen wir früher nach Worten suchten, können wir uns heute über komplexe Themen mühelos unterhalten, und wir verstehen die subtilen Nuancen in Gesichtsausdruck, Bewegung und Wortwahl sowie den Inhalt der Beiträge unserer Gesprächspartner*innen. Wieder zu Hause, lesen wir Romane, Gedichte, Landeskundliches, Biografien, Zeitungsartikel, Werke über Kunst, Geschichte und Kultur auf Spanisch. Wir hören traditionelle wie topaktuelle Musik und interessieren uns für das gegenwärtige politische und gesellschaftliche Geschehen. Wir nehmen intensiv Anteil an den Ereignissen in jenen Ländern, die unsere Schüler*innen noch nicht so gut kennen wie wir. Unser Interesse wird vielleicht keine große inhaltliche Relevanz für unseren Unterricht entfalten, aber den Hintergrund für die Spanischstunden bilden. Es geht um eine tiefe Verbundenheit mit den anderen Kulturen, in denen unsere Unterrichtssprache lebt; nicht um angelesene, theoretische, sondern von uns selbst als Persönlichkeiten authentisch vertretene Kenntnisse.
Für die Dauer der 45 oder 90 Minuten, in denen wir mit jungen Menschen an sprachlichen und inhaltlichen Fragen arbeiten, sind wir die Brücke in eine andere Welt, die sie sich erst erschließen. Wenn wir das Spanische lieben, uns auskennen in vielen kulturellen Fragen und unsere eigene Begeisterung in jede Unterrichtsstunde mitbringen, dann können wir die Schüler*innen auf einen spannenden gemeinsamen Lernweg mitnehmen. Manche Fremdsprachenlehrer*innen haben das Spanische als...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8022-3 / 3779980223 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8022-3 / 9783779980223 |
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