Geschichte der Sonderpädagogik (eBook)
384 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-8765-8 (ISBN)
Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt ist Professorin im Ruhestand und lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt ist Professorin im Ruhestand und lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches7
Vorwort zur 2. Auflage9
1 Einleitung 11
2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert20
2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen20
2.2 Die ersten Institutionen33
Paris33
2.2.1 Die Taubstummenanstalt33
2.2.2 Die Blindenanstalt 38
Wien 46
2.2.3 Das Taubstummen-Institut 46
Leipzig 50
2.2.4 Die Taubstummenanstalt50
2.3 Die Erfindung neuer Methoden 62
3 Bildung und bürgerliche Gesellschaft: Das 19. Jahrhundert (bis etwa 1860)72
3.1 Die preußische Reformära und die Bildung behinderter Menschen72
3.2 Die Berliner Institute für Gehörlose und Blinde 78
3.3 Bildung und Erziehung geistig behinderter Menschen 87
3.4 Weitere Ausdifferenzierungen: Rettungshausbewegung und Erziehungsanstalten für krüppelhafte Kinder99
3.5 Versuch einer institutionellen Absicherung des Bildungsanspruches: Die "Verallgemeinerungsbewegung"108
3.6 Zwischenbilanz 124
4 Industrialisierung und soziale Ungleichheit: Das Wilhelminische Kaiserreich (1871–1918)131
4.1 Heilpädagogik zwischen Biologie, Ökonomie und Pädagogik131
4.2 Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung sonderpädagogischer Bildungsinstitutionen 142
4.3 Entstehung und Ausbau der Hilfsschule 152
4.4 Kritik an der Hilfsschule 163
4.5 Ein Blick zum Nachbarn: Die Debatte um lernschwache Schüler in Frankreich173
4.6 Professionalisierung der Sonderpädagogen und Interessenvertretung behinderter Menschen184
5 Demokratischer Aufbruch und "Blüte der Heilpädagogik": Die Weimarer Republik (1918–1933)199
5.1 Heilpädagogik und Allgemeine Pädagogik199
5.2 Heilpädagogik und Reformpädagogik207
5.3 Erneutes Streben nach Internationalität 214
5.4 Jüdische Heilpädagogik und Wohlfahrtspflege216
5.5 Frauen in der Sonderpädagogik 225
6 Rassenpolitik und gesellschaftliche Ausgrenzung: Das "Dritte Reich" (1933–1945)242
6.1 Ideologische Grundlagen242
6.2 Zur Praxis der NS-Behindertenpolitik249
6.3 Hilfsschule im "Dritten Reich"255
6.4 Zur Rolle der Sonderpädagogen267
6.5 Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus278
7 Traumatisierung und Neuanfang: Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1989)291
7.1 Keine "Stunde Null"291
7.2 Restauration, Wiederaufbau und Reform der Sonderpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland 293
7.3 Sonder- und Rehabilitationspädagogik in der sowjetisch besetzten Zone und in der DDR310
7.4 Vergleichende Perspektiven und Desiderata324
8 Ausblick: Erfolge, Niederlagen, Gefährdungen 331
Anhang 337
Anmerkungen337
Literatur339
1 Quellen339
2 Darstellungen345
Bildquellennachweis359
Verzeichnis der Abkürzungen360
Verzeichnis der Archive361
Zeittafel362
Namenregister378
2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert
„Menschlichkeit (Moral)
Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte die ganze Welt durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen […] Es macht ihr Freude, die Wohltätigkeit auf alle Wesen auszudehnen, die die Natur neben uns gestellt hat. Ich habe diese Tugend […] zwar in vielen Köpfen bemerkt, aber nur in wenigen Herzen.“
(Diderot/d’Alembert 1765)
2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen
Johann Amos Comenius
„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften […] Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte […]“ (Comenius 1985, 55f u. 194)
Aufklärung
Allen, die als Menschen geboren werden, also auch jene mit einer Behinderung, das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) von Comenius allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen, Pläne und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren.
Dieser Impetus, Bildungsanstrengungen für die im ökonomischen Sinne armen und behinderten Menschen zu unternehmen, ist besonders hervorzuheben, denn in den höheren Gesellschaftsschichten hatte es zu allen Zeiten pädagogische Anstrengungen für Personen mit Sinnes- und Körperbehinderung gegeben. Nach Jürgen Oelkers war „die Verschulung der ‚unteren Stände‘ der ‚Testfall‘ der pädagogischen Aufklärung“ (Benner/Oelkers 2004, 102). Die von ihm herausgestellten drei wesentlichen Innovationen der Aufklärung, nämlich das experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften, das Konzept der öffentlichen Bildung sowie die sensualistische Lerntheorie, waren notwendige Bedingungen für die ersten planvollen Erziehungsversuche für junge Menschen mit einer Behinderung.
Menschen mit Behinderung im Altertum
Doch zunächst sei daran erinnert, dass es bereits im Altertum gebildete Menschen mit einer Behinderung gab. Das blinde Mädchen von Brauron etwa gehörte zum Kreis gehobener Töchter Athens, deren Mädchenbildung im Rahmen des Artemiskultes erfolgte und das „nicht nur in den Kreis der sehenden Mädchen integriert, sondern […] wahrscheinlich sogar eine herausgehobene Position“ innehatte (Hoof 1990, 270). Auch in anderen Kulturkreisen gab es frühe Bildungsbemühungen um Menschen mit Blindheit, die meist handwerklicher Natur waren. So berichtet Wanecek (1969, 28f) von Zusammenschlüssen blinder Musiker und Masseure in Japan und China, die ihren Nachwuchs selbst heranbildeten, und Grosse (1993) erwähnt die Aufmerksamkeit, die in der Kultur der Sumerer einzelnen behinderten Menschen entgegengebracht wurde. Für das frühe Christentum wird von dem gelehrten Blinden Didymus (313–398 n. Chr.), ägyptischer Herkunft, erzählt, der ein aus Holz angefertigtes Alphabet benutzte, mit Hilfe des Tastsinns das griechische Alphabet erlernte und es bis zum Leiter der theologischen Hochschule von Alexandria brachte (Azer 1990). Und auch für das häufig als finster bezeichnete Mittelalter kann nicht pauschal von Ablehnung und Ausschluss von Menschen mit Behinderung die Rede sein:
„Von den verschiedenen Arten der Darstellung Gehörloser im Mittelalter her […] scheint es, daß die Gehörlosen trotz ihrer Andersartigkeit im Mittelalter weniger benachteiligt waren als andere Behinderte.“ (de Saint-Loup 1993, 447)
„Wolfskinder“
Selbst verwahrlosten, wilden, geistig zurückgebliebenen „Wolfskindern“, die, einmal aufgegriffen, die Menschen des Mittelalters vor große Rätsel hinsichtlich ihrer Wesenshaftigkeit stellten, wurde keinesfalls pauschal die Fähigkeit zur Entwicklung abgesprochen. Am Beispiel des bislang ältesten Berichtes über ein Wolfskind aus dem 14. Jahrhundert, dem hessischen Wolfsjungen, lesen wir als Fazit einer gründlichen Quellenanalyse folgendes Urteil:
„Es wird deutlich, daß der Junge – so befremdlich er auch gewirkt haben mag – für seine Zeitgenossen nur eine relative Gefahr dargestellt haben kann, denn sonst hätte man sich nicht um ihn gekümmert, ihn ernährt, ihm den aufrechten Gang beizubringen versucht und ihm eine Sprachfähigkeit zugeschrieben. Der Wolfsjunge konnte ohne ‚Verdammung‘ das bleiben, was er war: ein Kind, das Hilfe brauchte. Wahrscheinlich geschah dies nicht zuletzt deshalb, weil man in dem Kind eher ein Kuriosum und ein menschliches Wesen, aber kein Teufelswerk sah, weil man weniger eine schaurige Geschichte erzählen wollte, sondern vielmehr einen Hinweis geben auf die […] Lernfähigkeit der Kinder.“ (Saathoff 2001, 104f)
Abb. 2.1: Altägyptisches Grabrelief
Angehörige der Oberschicht mit Behinderung
Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang schließlich die nachgewiesenen Bildungsanstrengungen für hochgradig Hörgeschädigte aus den höheren Gesellschaftsschichten, die bereits im 16. Jahrhundert in Spanien durch den Benediktinermönch Pedro Ponce de Leon (1510–1584) unternommen wurden und die Nachahmer sowohl in England und den Niederlanden als auch in Frankreich und Deutschland fanden. Nach Löwe (1992, 25ff) liegt in diesen ersten planmäßigen Unterrichtsversuchen der Beginn der Beschulung hörgeschädigter Kinder, denn im Unterschied zu früheren Zeiten, wo es sich in der Regel nur um den Unterricht einzelner, meist erwachsener Personen handelte, wandten sich diese Lehrer nun bewusst Kindern und Jugendlichen zu, die sie zunehmend in kleinen Gruppen zusammenfassten.
europäische Aufklärung
Auch wenn es bereits in früheren Jahrhunderten immer wieder Bildungsbemühungen um Menschen mit Behinderung gegeben hat, so kann von einem planvollen Beginn jedoch erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Rede sein. Die „Entdeckung der Bildbarkeit Behinderter“ (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998) war möglich geworden, weil mit den Ideen der europäischen Aufklärung das allgemeine Bildungsrecht für jeden und damit auch für den behinderten Menschen proklamiert wurde. Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat Aufklärung wie folgt definiert:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Herrmann 2005, 99)
pädagogisches Jahrhundert
Weil jeder Mensch auf Lernprozesse angewiesen ist, weil Bildung und Erziehung den „neuen Menschen“ schaffen wollen, der in der Lage ist, sich seines Verstandes zu bedienen, wird das 18. Jahrhundert immer wieder als das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (Herrmann 1981; 1993; 2005; Tenorth 2008).
John Locke
Bedeutsam für die Pädagogik der Aufklärung waren vor allem die Ideen des englischen Philosophen John Locke (1632–1704), der als Sensualist die Bedeutung der Sinne für Wahrnehmung, Denken und Erkenntnis als zentral hervorhob. Die Aussage, dass Ideen nicht etwa göttlichen Ursprungs, also angeboren seien, sondern durch sinnliche Erfahrungen entwickelt und aufgebaut werden, eröffnete eine radikal neue Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen und unterstrich zugleich die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung.
Locke beeinflusste vor allem die Vertreter der französischen Aufklärung, wie etwa die Enzyklopädisten d’Alembert und Diderot, aber auch Rousseau, Condorcet und Condillac (Hofer-Sieber 2000).
„Brief über die Blinden“
Diderots „Brief über die Blinden“ von 1749 gewann entscheidenden Einfluss auf eine gewandelte Einstellung gegenüber behinderten Menschen (Möckel 2006). Indem Diderot eine Sinnesbehinderung nicht mehr unter dem Aspekt eines Defizits betrachtete, sondern sich für...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2019 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Aufklärung • Behinderung • Blindenanstalt • Bundesteilhabegesetz • Euthanasie • Gehörlosen-Pädagogik • Geschichte • Heilpädagogik • Hilfsschulen • Inklusion • Jüdische Heilpädagogik • Lehrbuch • Lernbehindertenpädagogik • lernschwache Schüler • Maria Montessori • NS-Behindertenpädagogik • Reformpädagogik • Rehabilitationspädagogik • Sonderpädagogik • Sonderpädagogik studieren • sonderpädagogische Bildungsinstitutionen • Studium Sonderpädagogik • Taubstummen-Institut • Taubstummen-Pädagogik • UTB • Verhaltenspädagogik • Wohlfahrtspflege |
ISBN-10 | 3-8463-8765-7 / 3846387657 |
ISBN-13 | 978-3-8463-8765-8 / 9783846387658 |
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