Elternarbeit und Behinderung -

Elternarbeit und Behinderung (eBook)

Partizipation - Kooperation - Inklusion
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
266 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043008-2 (ISBN)
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Mit einem behinderten Kind zu leben, stellt Eltern und Familien vor verschiedenste Herausforderungen. Fachlich einfühlsame und kompetente Angebote wie Beratung, Begleitung, Therapie und Assistenz vermögen Entwicklungschancen für alle Familienmitglieder zu unterstützen sowie lebensweltbezogene Empowermentprozesse zu fördern. Daraus können lebensbedeutsame Potentiale erwachsen, die zu einer nachhaltig gelingenden Lebensführung beitragen. Die Autorinnen und Autoren thematisieren aus verschiedenen Perspektiven (Wissenschaft, Praxis, eigene Betroffenheit) relevante Aspekte, die Lebenslauf und Lebenswelt in ihrer Diversität betreffen und auf Möglichkeiten der Partizipation, Kooperation und Inklusion zielen.

Prof. Dr. phil. Udo Wilken lehrte an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit. Prof. Dr. phil. Barbara Jeltsch-Schudel ist Sonderpädagogin und war Leiterin des Studienprogramms Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Freiburg/Schweiz.

Prof. Dr. phil. Udo Wilken lehrte an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit. Prof. Dr. phil. Barbara Jeltsch-Schudel ist Sonderpädagogin und war Leiterin des Studienprogramms Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Freiburg/Schweiz.

Familie und Familien in besonderen Lebenslagen im Kontext sozialen Wandels – soziologische Perspektiven


Ernst von Kardorff & Heike Ohlbrecht

Familie und Familien im gesellschaftlichen Diskurs


Diskurse über die Familie in der modernen Gesellschaft sind in ein schwer zu entwirrendes Geflecht alltagsweltlicher, politischer, normativer und ideologischer Dispositive verwoben. Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Familiengeschichte, kann von beglückenden, unterstützenden und bereichernden, aber auch von enttäuschenden, beengenden oder bedrückenden Erfahrungen mit der eigenen Familie und Verwandtschaft berichten, weiß intuitiv, was Familie »ist«, und besitzt in der Regel recht klare Vorstellungen darüber, wie eine »richtige« Familie beschaffen sein, das Aufwachsen in einer »guten« Familie aussehen und was sie leisten sollte und wie der Staat die Familie unterstützen und entlasten und dabei zugleich ihre Autonomie wahren sollte. Diese Überzeugungen werden von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt; das gilt auch für Alltagstheorien über Familie wie etwa die biologisierende Analogie, die Familie als universelle »Keimzelle« der Gesellschaft betrachtet und sie den höheren und »kalten« staatlichen Organisationsformen als ursprünglicheres, verlässliches und emotional schützendes Gebilde gegenüberstellt. Die hohe Wertschätzung der Familie1 seitens der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung weltweit findet ihre Entsprechung und Legitimation in religiösen Glaubenssystemen und in der staatlichen Familienpolitik – wenngleich nicht immer aus denselben Gründen und Motiven.

Ein Blick in die aktuelle Empirie der Familienwirklichkeit‍(en) liefert ein differenzierteres Bild und verweist auf starke Veränderungen in den Familienformen, der Familiengröße, dem Grad der verwandtschaftlichen Unterstützung, den Zeitpunkten der Eheschließung oder der Einstellung zur lebenslangen Ehe und Partnerschaft (Ecarius & Schierbaum 2022). Diese Veränderungen lassen sich als Reaktionen auf Prozesse sozialen Wandels auf makrosozialer Ebene verstehen: hierzu gehören u. a. die demografische Entwicklung als besondere Herausforderung für die Familien, etwa im Bereich der Pflege alt gewordener Familienangehöriger bei abnehmender Kinderzahl und gestiegener Lebenserwartung; hinzu kommen der säkulare Trend zu Individualisierung und Singularisierung mit Folgen für die familiale Geschlechterordnung und die Kindererziehung, die veränderten Bedingungen der Arbeitswelt mit Folgen für das Verhältnis von Arbeits- und Familienzeit, die gestiegenen Anforderungen an die (Aus-)‌Bildung der Kinder mit der Folge höherer Ausgaben und verlängerten Zeiten des Verbleibens der jungen Menschen in der Herkunftsfamilie. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der Medien auf familiale Lebensführung und Konsumpräferenzen; besonders bei Eltern aus den Mittelschichten wird eine »Bildungspanik« beobachtet (Bude 2011), die durch Staat und private Bildungsanbieter geschürt wird und mit Ängsten vor sozialem Abstieg und einem Verlust des Anschlusses an Aufstiegsperspektiven verbunden ist. Darauf reagieren Familien in Abhängigkeit von Bildungsstand, Milieuzugehörigkeit und ihren jeweiligen familialen Traditionen und Ressourcen mit unterschiedlichen und unterschiedlich erfolgreichen Anpassungsstrategien, flankiert von staatlichen Anreizsystemen, steuerlicher Entlastung und einem differenzierten Hilfesystem, das ein breites Spektrum von steuerlichen Anreizen von Kindergeld und der geplanten Kindergrundsicherung bis zu Familienberatungsstellen und familienentlastenden Angeboten umfasst.

Studien zu den Lebenslagen von Familien2 verweisen auf soziale und gesundheitliche Ungleichheiten, vielfältige Krisenphänomene und besondere Belastungen, etwa von Alleinerziehenden und von Familien in Armutslagen oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor. Familien mit einem behinderten oder chronisch erkrankten Familienmitglied stellen hierbei eine besonders vulnerable Gruppe dar, die häufig Erfahrungen von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt ist (Nehring et al. 2015), oftmals im Gesundheits- und Versorgungssystem Benachteiligungen oder unzureichende Unterstützung erfährt, zusätzliche finanzielle Belastungen zu tragen hat, oft nur schwer an einschlägige Informationen gelangt und mit vielfältigen Barrieren zur gesellschaftlichen Teilhabe konfrontiert ist (bmas 2013; 2016; 2021). Dies wirkt sich belastend auf die Binnenstruktur des Familiensystems und die Beziehungen ihrer Mitglieder aus: zusätzlich zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Sorge um das betroffene Familienmitglied, der Suche nach einer sinnhaften Einordnung der neuen und besonderen Lebenssituation in die Lebens- und Zukunftsgestaltung der Familie, den erforderlichen Umstellungen des Familienalltags, der individuellen Bilanzierung von Verlust- und Verzichtserfahrungen usw. kommt die Auseinandersetzung mit dem Angewiesensein auf professionelle Hilfen und damit einhergehenden Abhängigkeiten und Bedrohungen der familiären Autonomie hinzu. Weil Familien mit einem behinderten oder chronisch erkrankten oder pflegebedürftigen Familienmitglied aber in erster Linie Familien sind, zeichnen wir zunächst die großen Entwicklungstrends der modernen Familie allgemein aus soziologischer Perspektive nach.

Der Einzelne und seine Familie im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang


Jeder Mensch bleibt lebenslang Kind seiner Eltern und damit Mitglied einer unkündbaren Familie‍(nformation)3, in die sie/er zufällig hineingeboren wurde. Als »physiologische Frühgeburt« (Portmann 1969) bleibt das Neugeborene zunächst auf direkte Fürsorge angewiesen, als instinktoffenes »Mängelwesen« (Gehlen 1997) ist es auf Unterweisung, Schutz und Sorge im jeweils zuständigen Familien- oder Verwandtschaftsverband angewiesen; die Enkulturation, also das Vertrautgemachtwerden und das Einüben kultureller Traditionen, sozial geforderter Tugenden und der Üblichkeiten des gesellschaftlichen Alltags sowie die Aneignung komplexer Wissensbestände erfordern die Begleitung und Förderung seitens der Eltern, die dabei heute von einer Vielzahl von Ratgebern und dafür ausdifferenzierten Institutionen und Professionen unterstützt, aber auch gelenkt und ggf. unter Stress gesetzt werden. Zugleich bringen Kinder eine hohe Anpassungsfähigkeit, Lernpotentiale und die Anlage zur Bildsamkeit mit. Im Verlauf der »beiläufigen« familialen Sozialisationsprozesse und gezielter Erziehungsbemühungen werden dem Einzelnen die für das (Über-)‌Leben in der jeweiligen Gesellschaft wesentlichen Grundlagen vermittelt, die auch Optionen zur Entwicklung zu einer eigenständigen Person und die Voraussetzungen zur Ablösung und Neugründung einer eigenen Familie umfassen. Gleichwohl bleibt jeder Mensch seiner Herkunftsfamilie lebenslang emotional, etwa durch gesellschaftlich codierte Verpflichtungsgefühle und sozial sanktionierte Erwartungen zur Sorge und Solidarität verbunden und auch noch nach der Ablösung von der Herkunftsfamilie in Abgrenzung oder Ablehnung dauerhaft an sie gebunden. In seiner Identitätsfindung bleibt der/die Einzelne von familialen Traditionen und der darüber vermittelten gesellschaftlichen Werte-‍, Normen- und Wissensordnung sowie von ihren Gewohnheiten und Ritualen geprägt, die in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt individuell gestaltet und angeeignet werden müssen.

Eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Werteordnungen, Normen- und Regelsysteme und gesetzliche Rahmungen stellt die Familie nach wie vor die erste und zentrale gesellschaftliche Sozialisationsinstanz dar, die für ein gelingendes Hineinwachsen der Individuen in die durchschnittlichen Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft an normkonformes Verhalten, zentrale Wissensbestände und nicht zuletzt für die Ausbildung der »Gewohnheiten des Herzens« (Bellah et al. 1985), der emotional verankerten Wahrnehmungsformen und kulturellen Interpretationsmuster gesellschaftlicher Wirklichkeit‍(en) und ihrer Dynamiken verantwortlich ist. Die Entwicklung und die Chancen des Einzelnen in der Gesellschaft hängen vom emotionalen Klima in der Familie, dem milieuabhängig vermittelten sozialen und kulturellen Kapital, der finanziellen Ausstattung und der gesellschaftlichen Statusposition der Eltern sowie von ihrer Zugehörigkeit zu den gesellschaftlich bestimmenden oder eher marginal‍(isiert)‌en Gruppen oder zu den besonders auf Hilfen angewiesenen Familien ab.

Weil die Familie den ersten und nachhaltig prägenden sozioemotionalen Kontakt für jeden Menschen darstellt, Einstellungen und Verhaltensweisen nachhaltig prägt und der Ort für die Erfahrung von Gemeinschaft und für das Verhältnis zur sozialen Mitwelt ist, entzünden sich an säkularen Veränderungen der Familie immer wieder gesellschaftliche Kontroversen, die sich in der Auseinandersetzung um die »richtige« Familienpolitik niederschlagen. Dies verweist darauf, dass Prozesse des sozialen Wandels schnelleren und machtvolleren ökonomischen, technologischen und politischen Konjunkturen und Zeitperspektiven folgen als die widerständigeren und...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Behindertenarbeit • Behindertes Kind • Familienberatung • Geschwister
ISBN-10 3-17-043008-4 / 3170430084
ISBN-13 978-3-17-043008-2 / 9783170430082
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