Handbuch Migration und Gesundheit (eBook)
496 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-75995-1 (ISBN)
|25|Einführung
Zahra Mohammadzadeh, Ahmet Kimil
Oberflächlich betrachtet ist Migration das Resultat eines urwesentlichen Bedürfnisses des Menschen, nämlich der Mobilität, um sich an einem anderen als dem bisherigen Ort niederzulassen, gleich ob dauerhaft oder nur für eine gewisse Zeit. In der menschlichen Geschichte ist von allen Entwicklungen die Herausbildung politischer Strukturen diejenige, die wahrscheinlich am meisten dieses Bedürfnis gefördert und es gleichzeitig behindert hat. Die freie Bewegung von Menschen über nationale Landesgrenzen hinweg betrifft wesentliche Merkmale der von modernen Staaten ausgeübten Herrschaft unmittelbar, und so sind alle politischen Systeme bemüht, Migration einzugrenzen, zu kontrollieren und zu regulieren bzw. gar zu verhindern. Dafür nutzen sie nicht nur eng auf die Wanderungsbewegungen selbst bezogene Gesetze, die auch die Anwendung von physischer Gewalt einschließen können, sondern auch die Gestaltung der Rahmenbedingungen, unter denen sich Menschen innerhalb ihres Herrschaftsbereichs niederlassen können. Aber Migration birgt nicht nur Risiken für den Einzelnen oder die aufnehmende Gesellschaft, sondern bietet gleichzeitig auch vielfältige Chancen. Migrant*innen besitzen viele Potenziale und Ressourcen (z. B. Sprach-, Kultur-, Bildungs- und soziales Kapital). Die daraus resultierenden Chancen rücken aber leider in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in krisenhaften Zeiten zugunsten der Risiken in den Hintergrund. Dies hat auch Auswirkungen auf die gesundheitliche Chancengleichheit und die Integration der Migrant*innen in das Sozial- und Gesundheitswesen. Ohne eine Reflexion dieser politischen und historischen Kontexte kann die Entwicklung von nachhaltigen Lösungen und Konzepten für diese gesundheitlichen Herausforderungen erheblich erschwert werden. Die folgenden Artikel beleuchten daher unterschiedliche Aspekte dieses Themas und bieten den Leser*innen wichtige Hintergrundinformationen dahingehend, wie sie aktuelle Entwicklungen und Prozesse differenzierter verstehen und einordnen können.
In ihrer Kritischen Betrachtung des Begriffes und der Definitionen eines „Migrationshintergrundes“ (Kap. 1) geben Ulrike Kluge und Lisa Rau Einblicke in die vielfältige Weise, in der schon die Definition der Betroffenen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu einer repressiven Gestaltung dieser Rahmenbedingungen beiträgt. Sie richten dabei den Fokus auf den Begriff des Migrationshintergrundes. Dieser Begriff wird in der gegenwärtig in Deutschland etablierten Definition bis in die dritte Generation eingewanderter Familien angewandt. Die Autorinnen erkennen darin eine ethnisch begründete „Differenzmarkierung“, die letztlich eine ausgrenzende Funktion erfüllt. In der englischsprachigen Literatur wird dafür häufig der Begriff des „Othering“ verwendet. Nicht nur sei damit eine wertfreie Differenzierung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Gesellschaft verbunden, sondern eine Wertung per se. Das „Eigene“, befinden Kluge und Rau, werde als positiv und das „Andere“ als negativ konnotiert. Wie in anderen Rassismen auch, beeinflusse eine solche Konnotation der Minderheit durch die Gesellschaft auch die Selbstwahrnehmung der so |26|Markierten. Das wiederum führe, wie die Autorinnen anhand von Beispielen verdeutlichen, zu re-ethnisierenden Gegenreaktionen bis hin zur Tendenz bei Migrant*innen aus dem Nahen und Mittleren Osten der dritten Generation, „die sich stärker mit dem Islam identifizieren als ihre Eltern“. Kluge und Rau hinterfragen den empirischen und praktischen Nutzen der Kategorie des Migrationshintergrundes für die Gesundheitsversorgung und plädieren für eine stärkere Berücksichtigung sozialer und individueller Einflüsse neben den migrations- und kulturbedingten.
Einen Überblick über die Geschichte der Migration nach und aus Deutschland und Europa seit dem 19. Jahrhundert gibt Jannis Panagiotidis (Kap. 2). Darin beschreibt er, wie sich die Bevölkerungsmobilität insbesondere in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten entwickelt hat. In dieser Zeit sei Europa von einem Kontinent der Auswanderung zu einem der Einwanderung geworden. Parallel dazu habe sich in Deutschland die gleiche Entwicklung vollzogen. Gleichzeitig sei eine Richtungsänderung der Bevölkerungsbewegungen feststellbar, von einer primären Ost-West-Migration vor dem Zweiten Weltkrieg hin zu einer vorwiegenden Süd-Nord-Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im späten 20. Jahrhundert habe dann wieder eine Ost-West-Migration Bedeutung gewonnen. Vor dem Hintergrund dieser globalen Bewegungen fragt Jannis Panagiotidis nach der migrationshistorischen Einordnung der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015. Er kommt zu dem Schluss, dass die „Flüchtlingskrise“ den bis dahin etablierten Umgang mit dem Thema Migration in Europa ins Wanken gebracht habe und zur Folge hatte, dass die „bereits länger andauernde humanitäre Krisensituation jenseits von Mittelmeer und Ägäis ins europäische Bewusstsein“ gerückt sei.
Özlem Konar und Johannes Grafs Beitrag Soziodemografie der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und rechtliche Grundlagen des Aufenthalts ausländischer Staatsangehöriger (Kap. 4) gibt einen fundierten Überblick über die Bevölkerungsgruppe „mit Migrationshintergrund“ (zur Problematik des Begriffs siehe Kluge und Rau im ersten Beitrag dieses Buchteils). Sachlich und klar stellen die Autor*innen die zentralen demografischen, sozialen und politischen Fakten zusammen, die einen gewichtigen Einfluss auf die Gesundheitsversorgung der Migrant*innen in Deutschland haben. Der Beitrag beschreibt auch die wichtigsten Rechtsgrundlagen, die wesentlicher Teil der Rahmenbedingungen von Zuwanderung nach Deutschland sind.
In ihrem Beitrag Health Policy and Systems Responses to Forced Migration – Influencing policy: the Norwegian Experience (Kap. 3) beschreiben Bernadette N. Kumar, Anand Bhopal und Esperanza Diaz, welchen Einfluss die Migration (insbesondere die erzwungene infolge von Kriegen, Umweltzerstörungen, Genozide etc.) auf die Gesundheitspolitik in Norwegen hat und wie das Gesundheitssystem auf diese Entwicklungen in den letzten Jahren reagiert hat. Die Autor*innen machen deutlich, dass die norwegischen Erfahrungen der letzten Jahre angesichts der jüngsten Entwicklungen (z. B. Krieg in Syrien) einen wichtigen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und damit auch auf die Politikentwicklung gehabt haben. Sie beschreiben sehr dezidiert, welche Faktoren die Gesundheit von Migrant*innen in Norwegen begünstigen und welche sie behindern. Systematisch analysieren und bewerten sie das norwegische Gesundheitssystem (Politik und Praxis) im Hinblick darauf, wie die Leistungserbringer sich mit der Gesundheit von Migrant*innen befassen und diese versorgen. Gleichzeitig stellen sie wichtige politische Leitlinien und Ziele im Kontext der Migration vor, an denen sich die norwegische Gesundheitspolitik in den letzten Jahren orientiert hat. Der Artikel bietet den Leser*innen aus dem deutschsprachigen Raum eine gute Vergleichsmöglichkeit in Bezug auf den aktuellen Standpunkt deutscher Gesundheitspolitik zum Thema Migration.
Im Kapitel Kommunikation und Ethik in interkulturellen Behandlungssituationen (Kap. 5) erörtert Ilhan Ilkilic die Gegenseitigkeit des |27|Kommunikationsgeschehens zwischen Ärzt*innen einerseits und Patient*innen andererseits. Der Autor legt dar, dass die Verständigung nicht nur über Beschwerden und wie man sie behandeln könnte, sondern auch über Werte und Präferenzen, die den Erfolg einer Behandlung beeinträchtigen können, aus verschiedenen, keineswegs zu vernachlässigenden Gründen beeinträchtigt werden kann. Auswege aus der allgegenwärtigen Sprachbarriere seien häufig nicht professionell, beklagt der Autor, sondern werden mit wenig bis gar nicht qualifizierten Hilfspersonen bewerkstelligt, was oft keine authentische Kommunikation zulasse. Die erforderliche und dem vorhandenen Bedarf entsprechende professionelle Sprach- und Kulturmittlung sei in Deutschland, so Ilkilic, bisher nicht realisiert, trotz guter, auch versorgungsethischer Gründe, sie flächendeckend zu etablieren.
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2021 |
---|---|
Zusatzinfo | 36 Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Einwanderungsmedizin • Einwanderungspolitik • Flüchtlinge • Gesundheitsversorgung • Migrationshistorie |
ISBN-10 | 3-456-75995-9 / 3456759959 |
ISBN-13 | 978-3-456-75995-1 / 9783456759951 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
![EPUB](/img/icon_epub_big.jpg)
Größe: 6,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich