Favorita -  Michelle Steinbeck

Favorita (eBook)

Roman | Eine wilde, wütende, witzige und spielerische Geschichte, die Fragen nach Identität, Zugehörigkeit, sexuellem Begehren und patriarchalischer Gewalt auf den Punkt bringt.
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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3176-8 (ISBN)
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»Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.« Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Großmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmaßlichen Mörder - und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein. Diese italienische Reise rauscht durch Städte und Wälder, durch Einsamkeit und Feierei in die Abgründe unserer Zeit: Favorita ist ein literarischer Rachekrimi mit eigenwilligem Humor, der Fragen nach Identität, Zugehörigkeit, sexuellem Begehren und patriarchaler Gewalt spielerisch auf den Punkt bringt. »Was für ein urgewaltiger Erzählstrom, was für ein neuer, traumwandlerischer Ton! Eine junge Frau gräbt sich an ihrer weiblichen Linie entlang in die Tiefe, sie sucht nach der Geschichte ihrer Mutter und Großmutter und sie findet zwischen all den Toten und Geistern und zwischen all der Schuld und Scham deren vergessene Schwester, die Schönheit!« Florian Illies »Ein Geistertanz durch Italien, so wild und schön gemalt, wie es nur Michelle Steinbeck kann.« Mercedes Lauenstein

Michelle Steinbeck ist eine Schweizer Autorin. Ihr Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Die englische Übersetzung wurde vom Leseklub des Shotts Prison zum Best Book of Edinburgh Book Festival 2019 gekürt. 2018 erschien ihr Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ - Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des feministischen Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Sie lebt in Basel. 

Michelle Steinbeck ist eine Schweizer Autorin. Ihr Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Die englische Übersetzung wurde vom Leseklub des Shotts Prison zum Best Book of Edinburgh Book Festival 2019 gekürt. 2018 erschien ihr Gedichtband Eingesperrte Vögel singen mehr. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des feministischen Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Sie lebt in Basel. 

I


In der Küche meiner Großmutter hängt ein lyonerfarbiges Telefon mit Drehscheibe. Es schellt. Ich hebe den Hörer ab und schweige hinein.

Es spricht eine Italienerin. Sie fragt nach meiner Großmutter. Ich reibe mir den Hörer über die Stirn, er ist kühl; ich merke, wie sie darin ungeduldig wird, ich räuspere mich und sage: Meine Großmutter lebt hier nicht mehr, sie lebt gar nicht mehr.

Die Stimme wartet gerade lange genug, um als höflich durchzugehen. Dann sagt sie: Es tut mir leid, ich habe nicht viel Zeit. Sie fragt, ob ich die Tochter meiner Mutter sei. Sie sagt den Vornamen meiner Mutter, Magdalena, und einen Nachnamen, den ich nicht kenne.

Sie sei Ärztin, die Ärztin meiner Mutter, sie sei genauer Leberärztin und habe meine Mutter wegen ihrer Krankheit behandelt. Zirrhose, sagt sie, Schrumpfleber, sogenannte. Sie sei aber nicht deswegen gestorben.

Es tut mir leid, sagt sie, deine Mutter ist gestorben.

Sie macht eine Pause, gerade lang genug, dass mir eine Leber vor Augen treten kann, gebraten, mit Petersilie, und sagt dann: Hör zu, deine Mutter ist gestorben, und sie sagen, es sei wegen der Leber, aber ich kann dir versichern, es war nicht die Leber. Die Leber habe ich persönlich letzte Woche noch gesehen, also geröntgt, und sie war ganz in Ordnung.

Hör zu, sagt sie wieder, es ist am besten, wenn du herkommst. Aber glaub ihnen nicht, wenn sie sagen, es war die Leber. Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.

Sie gibt mir Adresse und Telefonnummer eines Krankenhauses in Neapel und sagt: Sie wollte nicht sterben. Ich habe noch nie eine so um ihr Leben kämpfen sehen.

Ich frage nach ihrem Namen, aber die Leitung ist schon tot.

Ich nicke am Küchentisch vor mich hin.

Gut, sage ich laut, das hätten wir also erledigt.

Zum ersten Mal bin ich froh, dass meine Großmutter nicht mehr hier ist. Ihre größte Angst hat sich erfüllt. Und meine? All die Jahre ist meine Mutter eine Möglichkeit gewesen, eine Aufgabe, die ich aufschob. Nun bin ich sie endgültig losgeworden.

Ich versuche, ihr Gesicht heraufzubeschwören, die Einzelteile zusammenzufügen. Das teerschwarze Haar auftoupiert. Dicke Puderschichten Rouge, falsche Wimpern. Aufgerissene Augen, ein riesiger roter Mund. Und dann die Zähne: lang und vorstehend, richtige Pferdezähne.

Es gelingt nicht.

Ich denke an den Tag, an dem ich meine Mutter zuletzt gesehen habe. Es ist sehr lange her. Ich erinnere mich gut.

Ich kam von der Schule nach Hause und roch sie sofort. Blieb vor der Wohnungstür stehen. Auf dem Treppenabsatz stand eine riesige Plüschgiraffe. Durch die Tür drang unverkennbar sie: die raue Stimme, das hustende Lachen, knallende Schritte. Ich überlegte, nicht reinzugehen, einfach umzukehren, durch die Straßen zu laufen, bis alles vorbei und sie wieder verschwunden war.

Aber ich drückte die Klinke, und da war sie. Lehnte im Türrahmen zur Küche, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, redete auf meine Großmutter ein. Auf den ersten Blick wirkte sie weniger groß und furchteinflößend, als ich sie in Erinnerung hatte.

Sie stieß einen Schrei aus, als sie mich sah.

Schieß mich tot, rief sie, ist das wirklich meine Filù? Dich hätt ich ja auf der Straße nicht erkannt! Erinnerst du dich, Mamma, wie sie ewig kein einziges Haar auf dem Kopf hatte? Du bist ja ’ne richtige kleine Bombe geworden!

Sie wandte sich an meine Großmutter, die protestierte: War nur ’n Scherz, sie ist ’ne Scheuche, gibst du ihr überhaupt zu essen?

Sie streckte die Arme nach mir aus, griff treffsicher mit je zwei Krallen meine Wangen, kniff fest und drehte das Fleisch, als wollte sie es abreißen.

Daran erinnere ich mich, seit ich denken kann; ihre Besuche waren immer verbunden mit diesem Schrecken und Schmerz. So im Schraubstock konnte ich mich nicht wehren, wenn ihr Gesicht auf mich zukam und meinen verzerrten Mund küsste.

Sie schrie entsetzt auf: ob ich etwa meine Augenbrauen zupfen würde.

Ich sagte: Sicher nicht, ich bin noch ein Kind.

Sie hörte gar nicht zu und meinte, ich hätte schon zu viel gezupft – komm, lass mich dir zeigen, wie es geht!

Ich duckte mich weg, und meine Großmutter, die am offenen Fenster rauchte, sagte gereizt: Jetzt lass doch das Kind erst mal ankommen. Du machst ihr ja Angst.

Magdalena ließ beleidigt von mir ab. Sie meinte, ich solle auf alle Fälle aufpassen und nur die Haare nehmen, die wirklich stören: weil Augenbrauen wachsen nicht nach.

Sie kniff meine Großmutter in die Wange und rief: Ich habe mir leider alle ausgerissen, weil meine Mutter mir das nie gesagt hat.

Meine Großmutter haute ihr auf die Hand, damit sie loslässt, ihre Wange war rot. Magdalena wandte sich wieder mir zu.

Deine sind sowieso perfekt, sagte sie und strich meine Brauen mit den Zeigfingern nach: Das hast du mir zu verdanken. Was hab ich bei der Madonna gefleht: Mach, dass die Kleine nicht kurz und kahl wird wie ihr Vater.

Meine Großmutter zischte: Schrei nicht so! Frau Müller schaut schon aus dem Fenster.

Magdalena lachte: Wir haben doch keine Geheimnisse.

Sie trat neben meine Großmutter und winkte wild auf die Straße: Frau Müller, juhu!

Meine Großmutter schlug das Fenster zu: Bist du verrückt, sie ist jetzt Hausmeisterin!

Eine schreckliche Frau, sagte Magdalena, und meine Großmutter zuckte mit den Schultern. Für einmal waren sie sich einig.

Magdalena schüttelte den Kopf: Wisst ihr noch, wie sie mit dem Besenstiel das Schwalbennest unterm Dach kaputt gemacht hat? Die Vogelbabys lagen tot auf dem Gehweg. Sie hatten noch nicht mal Federn.

Das macht sie jedes Jahr, sagte ich.

Magdalena riss das Fenster wieder auf und rief: He, Zitronengesicht, ja, dich mein ich! Pass bloß auf, dass ich nicht dich mal mit dem Besen vom Dach schubse. Mörderin!

Sie lachte, lehnte sich weit hinaus, pfiff: Wo seid ihr denn alle? Frau Schneider? Will mich niemand begrüßen? Hoi, Signora!

Meine Großmutter zerrte sie vom Fenster weg.

Frau Schneider wohnte in der Wohnung unter uns, sie war auch Italienerin, auch mit einem Schweizer verheiratet gewesen, auch Witwe. Sie kam manchmal auf einen Kaffee herauf, und wenn wir sie auf der Straße trafen, blieben wir stehen und fragten, wie es geht.

Magdalena setzte sich und murmelte: Ist doch kein Verbrechen, wenn ich Frau Schneider Guten Tag sagen will. Die war immer anständig zu mir.

Dann schnellte sie mit einer Hand vor, klemmte mein Kinn zwischen die Finger, zog mein Gesicht nah an ihres heran. So musterten wir uns, bis in die Poren. Ich roch ihr Parfüm und den Rauch an den Fingern, betrachtete die zerlaufene Tusche in den Falten der zarten Haut der Unterlider. Blau gemalte Brauenstriche, die Kluft dazwischen: Zornesfalten. Auf den Nasenflügeln Äderchen, darunter Schweißperlen; Lippenstift, in Furchen geflossen und getrocknet. Ihre Augen hatten etwas Beunruhigendes, sie schwammen und zitterten, bis sie mich abrupt losließ und ausrief: Mamma, die ist so grässlich bleich! Hat sie etwa … etwas bekommen?

Ich versteinerte. An diesem Morgen hatte ich tatsächlich etwas bekommen und war darüber tief verstört. Ich hatte niemandem davon erzählt, die Unterhosen voll blutigem Toilettenpapier und den Rücken voller Krämpfe. Ich war entsetzt, dass es auffliegen könnte, panisch, mit Magdalena darüber sprechen zu müssen. Und schwer beeindruckt, dass sie es mir einfach so angesehen hatte.

Meine Großmutter sagte: Was? Sicher nicht, sie ist noch ein Kind.

Ich musste flüchten, murmelte etwas von einer Verabredung. Magdalena wollte mich begleiten.

Eine Party, rief sie, ich komme mit. Wo geht ihr Jungen heute aus? Vielleicht kenn ich noch wen – warte, ich muss mich umziehen, und du, was trägst du?

Ich antwortete kühl, wählte die Worte mit Bedacht, als wäre sie schwer von Begriff: Wir gehen nicht aus. Wir treffen uns auf der Straße und reden, das ist nicht interessant für dich.

Alles ist interessant für mich, rief sie, du bist so scheißerwachsen, schau dich an, ich fass es nicht.

Sie sah aus, als überlegte sie, in Tränen auszubrechen, und das wollte ich wirklich nicht miterleben.

Ich schlich mich hinaus. Auf der Straße hörte ich vom Fenster ihr Bellen, sie lachte mich aus, wie ich rannte. Als ich heimkam, war die Giraffe weg. Alle Fenster standen offen, es zog, und meine Großmutter fegte durch die Wohnung und tilgte die Spuren. Sie war sehr aufgewühlt. Ich durfte nichts fragen.

Deine Mutter ist verrückt, sagte sie nur, deine Mutter ist gefährlich, ich will, dass sie uns in Ruhe lässt, hörst du, es ist besser für alle.

Wir haben sie nicht mehr gesehen.

Ich hatte erwartet, dass sie zurückkehren würde, so wie ich zurückgekehrt war. Jeden Abend, wenn ich aus dem Hospiz kam, wo meine Großmutter als nacktes Vögelchen lag, rechnete ich damit, sie hier in der Küche vorzufinden. Ich schloss mit klopfendem Herz die drei Schlösser der Wohnungstür auf, auf ihre Fingerzangen gefasst. Ich fürchtete die Begegnung und glaubte an ein Wunder. Meine Großmutter wollte nicht, dass Magdalena informiert wurde; überhaupt sollte niemand wissen, wie es um sie stand. Als sie noch...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Elena Ferrante • geheimnisvolle Mutter • Identifikationssuche • Identität • Roadtrip • Roman Italien • Roman Neapel • Roman Schweiz • sexuelles Begehren • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-8437-3176-4 / 3843731764
ISBN-13 978-3-8437-3176-8 / 9783843731768
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