Singularitäten (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31063-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Singularitäten -  John Banville
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Ein vielschichtiges Katz-und-Maus-Spiel, ein Roman über Nostalgie, Leben, Tod und Quantentheorie. Felix Mordaunt, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen wurde, fährt am Haus seiner Kindheit vor. Doch weder das schicke Auto noch der Name, mit dem er sich vorstellt, gehören wirklich ihm. In dem zugigen alten Gutshaus lebt eine neue Familie: die Godleys, Nachkommen des verstorbenen weltberühmten Wissenschaftlers Adam Godley, dessen Existenztheorie das Universum ins Chaos stürzte. Felix muss sich nun mit der eigenwilligen Familie Godley und deren nervösen Haushälterin auseinandersetzen. Ein ungeheurlicher Vorwurf steht im Raum: War der verstorbene Adam Godley wirklich der Urheber der Existenztheorie, oder war er ein Betrüger?  Mit funkelnder Intelligenz und rasantem Witz lässt John Banville einige der denkwürdigsten Figuren seines Werks in einem ebenso schelmischen wie brillant konzipierten Roman wieder aufleben. 

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin.

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin. Christa Schuenke, geboren 1948, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Englischen, u. a. Werke von Banville, Melville, Singer, Shakespeare. Sie erhielt u.a. den Wielandpreis und den Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW.

Helen Godley war’s, die ihn erspähte, als er zielstrebig von hinten näher kam. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock blieb sie vor dem hohen Bogenfenster stehen, ihre Rechte ruhte leicht auf dem Geländer. Auf ihn aufmerksam geworden war sie durch den sahnig gelben Farbton seines Mantels, den sie kurz hatte leuchten sehen, als er hinter der Hecke hervortrat. So aus der Ferne war sie sich zuerst nicht sicher, was er war. Er konnte auch ein Tier sein, irgendeines, ein Leopard, ein Lama, ein Känguru, das Einzige, was ihr nicht einfiel, war ein Kamel – das, was am nächsten lag. Im letzten Sommer – oder war’s der vorletzte oder der davor? – hatte Adam eins der Felder an der Hunger Road für eine Woche an einen Zirkus vermietet, da sah man auf den Feuchtwiesen dort unten alle möglichen exotischen Geschöpfe grasen, ein Zebrapärchen, ein nervöses kleines Shetlandpony, dem die hübschen rostroten Ponyfransen in die Augen hingen, und sogar eine Giraffe, die ganz langsam, wie auf Stelzen, lief und an den Ginsterbüschen knabberte mit ihren heiklen Lederlippen, denen die Dornen gar nichts ausmachten.

Wie hieß die Truppe gleich noch mal? Sowiesos Sowieso-Zirkus. Eigentlich war es eher eine Art Wandertheater: so was wie eine Bühne mit ein paar Stuhl- und Bankreihen an einer Seite. Sie hatte Adam überredet, einmal mit ihr in eine Vorstellung zu gehen. Er wollte erst nicht, aber sie hatte einen Flunsch gezogen und, wie nicht anders zu erwarten, hatte er schließlich nachgegeben. Zwischen den Dressurakten waren Lieder, Clownsnummern und kleine Spielszenen eingestreut. Es gab nur eine Handvoll Darsteller, die jeweils in mehreren verschiedenen Rollen auftraten: der Jongleur, der Muskelprotz, der Zauberer im bunten Glitzerumhang, das kleine Mädchen kam als Schlangenmensch, dann wieder der Zauberer, diesmal im angeschmuddelten weißen Frack. Er machte Kartentricks, er klemmte sich ein Huhn unter den Arm und hypnotisierte das arme Ding, indem er ihm den Zeigefinger an den Schnabel legte und ihn dann langsam, ganz langsam hob, sodass das Tier schielte, er loslassen konnte und das Huhn sich nicht rührte, sondern mit eingezogenen Beinen unter seiner Achsel sitzen blieb und wie gebannt nach oben schaute. In der Pause saß der Mann, der offenbar der Direktor war, ein untersetzter, muskulöser, schnauzbärtiger Bursche in speckiger Lederhose und Tirolerweste, vor der Bühne auf einem Stuhl, hatte die feisten rosa Knie übereinandergeschlagen und spielte auf einer Ziehharmonika Evergreens. Eines davon war Abdul Abulbul Amir, erinnerte sie sich, und dann Ausgerechnet Bananen und The Boys of Wexford. Das grelle Licht, der Lärm, die scheppernde Musik – das alles machte, dass sie sich wieder wie ein Kind vorkam; sie saß dort in der ersten Reihe wie das hypnotisierte Huhn und reckte das Gesicht zum Licht empor, das, wimmelnd von Millionen Stäubchen, von der Bühne auf sie fiel. Der Muskelprotz, der jetzt als dicker Clown verkleidet war – er hatte unter dem Kostüm den Schlauch von einem Autoreifen um den Bauch –, versuchte, sie auf die Bühne zu locken, damit sie mitmachte bei seiner Nummer, doch sie wollte nicht, weil er sie garantiert zum Narren halten würde, und außerdem hatte sie vor Clowns schon immer Angst gehabt. Er roch nach Schweiß und Schminke und nach irgendwas mit Essig, das er vor seinem Auftritt noch schnell heruntergeschlungen zu haben schien. Als sie sich weigerte, zu ihm nach vorn zu kommen, wurde er wütend, verfluchte sie leise zischend mit seinem ekelhaften Mundgeruch und kehrte ihr den Rücken. Und Adam tat natürlich so, als würde er es nicht bemerken.

Prospero! Das war der Name, mit einem Mal war er ihr wieder eingefallen, einfach so. Prosperos Zauberzirkus.

Helen fragte sich, ob die Truppe immer noch auf Tournee war; wohl kaum, dachte sie, solche Darbietungen gehörten ja sicherlich der Vergangenheit an. Aber falls doch, würde sie bestimmt wieder hingehen. Der Jongleur, der eine eng anliegende schwarze Weste, hautenge schwarze Hosen und schwarze Gymnastikschuhe trug, hatte ein zierliches Profil und war schlank wie ein Mädchen; ihr waren seine spitzen Hüftknochen und seine schmalen Handgelenke aufgefallen. Nachdem die Truppe weg war, das Zelt hatten sie zusammengefaltet und auf einen von zwei Karrenpferden gezogenen Wagen geschnallt, fand Duffy, der Kuhknecht, am nächsten Tag eine aus ihrem Käfig entwichene Schlange, die in einen Graben gekrochen und offenbar dort verendet war, ohne dass sich die Zirkusleute vor ihrer Abreise noch die Mühe gemacht hatten, sie zu suchen. Es war ein mächtiges Ding, dick wie ein Männeroberarm. Ein Python, oder vielleicht eine Boa constrictor, sagte Duffy. Er hatte Helen angeboten, mit ihr in die Sümpfe zu gehen, damit sie sich das Biest ansehen konnte, aber sie hatte sich geekelt, und außerdem war sie nicht so dumm, dass sie mit so einem dreisten Burschen wie Mr Duffy mitging in eine derart abgelegene Gegend.

Nun stand sie mit einem Fuß auf der untersten Stufe der Treppe und mit dem anderen auf dem Treppenabsatz. Sie sah sich dort posieren, in einem kleinen See aus flirrendem Sonnenlicht, bewunderte die Wölbung ihrer Hand auf dem geschwungenen Geländer, ganz wie in einer von den Hauptrollen, die sie früher spielte, zum Beispiel Antonius’ Kleopatra oder die Hedda oder Torvalds verzweifelte Frau, wenn sie ihren großen Auftritt hatte mit der ganzen Dramatik dessen, was da kommen würde, den Reden, dem Lachen, dem Schreien und den Tränen, und am Ende dann die Schlange, der Pistolenschuss, die zugeschlagene Tür des Puppenheims. Ja, es fehlte ihr noch immer, jenes alte Leben, in dem sie all die vielen anderen Leben spielen durfte.

Aber wer war wohl der da, dieser Bursche in dem eleganten Mantel, der forschen Schrittes durch den Durchgang kommt und ganz genau zu wissen scheint, wo er hinwill? Niemand kam mehr von hinten hier zum Haus, durchs sogenannte Lady’s Gate. Er war sehr selbstsicher, das sah sie schon von weitem an seiner ganzen Haltung, untersetzt, doch ziemlich hochgewachsen und derart entschlossen, ganz so, als sei er hier der Hausherr. Vielleicht war er ein Verwandter, vielleicht hatte ihr verstorbener Schwiegervater einen lange verschollenen Bruder oder ein Kind der Liebe, das würde ihm ähnlich sehen, einen heimlichen Sohn, von dem er keinem was erzählt hat und der jetzt kommt, um sein Erbteil einzufordern. Sie war ganz kribbelig vor Aufregung bei dem Gedanken, dass nun hier alles mit Gewalt auf den Kopf gestellt werden würde, und gleichzeitig war sie über sich selbst erschrocken. Anscheinend ging ihr das hier alles noch mehr auf die Nerven, als sie angenommen hatte. Oder noch mehr auf den Zeiger, wie man früher sagte, in ihrer Schulzeit. Ehrlich, Mädels, das geht mir too-taal auf den Zeiger, die schlaff herunterhängende Hand an die Stirn gedrückt, den gequälten Blick zur Decke gerichtet, Schauspielerin halt, schon damals. Na schön, der Fremde in dem vanillepuddingfarbenen Mantel würde die Sache hier garantiert ein bisschen auflockern. Aber wahrscheinlich war er einfach bloß ein Vertreter, ein wohlhabender Viehhändler oder noch einer von diesen abgefeimten Grundstücksmaklern, die sich von hinten anschleichen, um Adam zu überrumpeln und ihm mal wieder irgendein todsicheres Geschäft aufzuschwatzen, das sie einen Haufen Geld kostet und sich nie rentiert. Warum hatte sie ihn überhaupt geheiratet und sich hierher verschleppen lassen, in die Wildnis? Sie gehörte nicht aufs Land, das war einfach nicht ihr Ding und würde es auch nie werden. Die Straßen der Großstadt, die Lichter, der niemals ruhende Verkehr, die schwere warme Luft der Restaurants, das weiche Halbdunkel der Bars, der Geruch nach Zigarettenrauch und Wein und Menschen und all das, all das hatte sie aufgegeben. Weil der Vater eine Berühmtheit war, hatte sie gehofft, dass sie an der Seite des Sohnes ein aufregendes Leben haben würde, dass ständig irgendwelche anderen Berühmtheiten vorbeikommen und die Journalisten bei ihr Schlange stehen und sie anflehen würden, ihnen exklusiv irgendwelche Storys über den alten Knaben zu erzählen. Dass vielleicht ihr Bild wieder in der Zeitung wäre, so wie früher, als sie selbst eine Berühmtheit war. Hoffnungen halt.

Sie war noch nicht angezogen, denn sie war heute länger im Bett geblieben, was in letzter Zeit immer öfter vorkam. Sie trug ihren lachsfarbenen Seidenpyjama mit den Schlapperärmeln und Adams verwaschenen alten blauen Morgenrock. Sie war barfuß. Oben in ihrem Zimmer hatte sie sich die Zehennägel lackiert, und der Lack war noch nicht richtig trocken. Ihre Haare waren sicherlich total verwuschelt. Wenn sie näher an das französische Fenster träte, ob sie der Mann im Mantel dann wohl bemerken würde, jetzt, wo die Sonne auf die Scheibe fiel? Sie könnte ja ganz dicht herangehen, sich an das Glas drücken, vielleicht den einen oder anderen Knopf aufmachen, damit er was zu sehen kriegt, da würde er schon aufmerksam werden, na gewiss doch.

Sie ging ins Schlafzimmer zurück, zog die Pyjamahose aus und einen Rock an. Schrecklich, dieser süßliche und dennoch beißende Geruch, den der Nagellack im Raum hinterlässt; und obendrein ihr eigener Geruch, schal, fleischig, wattewarm, das fiel ihr jetzt erst auf. Sie betrachtete das zerwühlte Bett, das Hochglanzmagazin, das mit dem Titelblatt nach unten auf dem Laken lag, die Kuhle im Kissen, wo ihr Kopf die ganze Nacht gelegen hatte. Sie kam sich vor wie ihr eigener Geist, der zurückgekehrt ist, um an jenem Ort zu spuken, an dem sie erst vor wenigen Minuten gestorben war. Sterben ist so was Seltsames, dachte sie, so was Seltsames. Sie verließ das Zimmer wieder, zog die Tür ins...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Übersetzer Christa Schuenke
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adam Godley • Existenztheorie • Familie • Generationen • Irland • Quantentheorie • Schicksal • Singularities
ISBN-10 3-462-31063-1 / 3462310631
ISBN-13 978-3-462-31063-4 / 9783462310634
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