Die Stimme meiner Schwester (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491531-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Stimme meiner Schwester -  Itamar Vieira Junior
Systemvoraussetzungen
22,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Itamar Vieira erzählt eine ungehörte Geschichte: Zwei Frauen erheben ihre Stimme gegen die alte Welt Brasiliens  Beim Spielen finden Bibiana und Belonísia unter dem Bett ihrer Großmutter einen alten Koffer, darin eingewickelt ein großes Messer. Im Rausch dieser Entdeckung ereignet sich ein tragischer Unfall: Eine der Schwestern verliert ihre Zunge, die andere ersetzt fortan ihre Stimme.  Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts spricht Großmutter Donana mit den Toten, der Vater ist ein angesehener Geistheiler. Dieser Welt stellt sich Bibiana entgegen, als sie mit ihrem Geliebten das Dorf verlässt, und Belonísia, indem sie sich gegen die Schläge des ihr zugewiesenen Mannes wehrt. Itamar Vieira Junior erzählt in »Die Stimme meiner Schwester« vom Leben in einer Siedlung von Plantagenarbeitern und Nachkommen früherer Sklaven. Die Kraft der beiden Schwestern und die Solidarität unter den Frauen verändern ihre Welt. Im Rahmen seiner Doktorarbeit hat der Autor die Gemeinschaften der Nachkommen ehemaliger Sklaven und seine eigene Ahnengeschichte erforscht. Er lebte mehrere Jahre mit ihnen und setzt ihnen mit diesem kraftvolle Debüt, das in Brasilien zum preisgekrönten Bestseller wurde, ein Denkmal.

Itamar Vieira Junior, geboren 1979 in Salvador da Bahia, ist Geograph und Ethnologe mit Schwerpunkt auf afrobrasilianischer Kultur. Er wurde als Erster mit einem Milton-Santos-Stipendium für Schwarze Jugendliche aus einkommensschwachen Familien ausgezeichnet. Im Rahmen seiner Doktorarbeit erforschte er die Gemeinschaften der Nachkommen ehemaliger Sklaven und seine eigene Ahnengeschichte. Er lebte mehrere Jahre mit ihnen und setzt ihnen mit seinem Roman ein Denkmal. In seinen Kolumnen in »Folha de S. Paulo«, der größten Tageszeitung Brasiliens, schreibt er gegen Bolsonaro und Rassismus. »Die Stimme meiner Schwester« ist sein erster Roman, der auf der Shortlist des International Booker Prize 2024 stand.

Itamar Vieira Junior, geboren 1979 in Salvador da Bahia, ist Geograph und Ethnologe mit Schwerpunkt auf afrobrasilianischer Kultur. Er wurde als Erster mit einem Milton-Santos-Stipendium für Schwarze Jugendliche aus einkommensschwachen Familien ausgezeichnet. Im Rahmen seiner Doktorarbeit erforschte er die Gemeinschaften der Nachkommen ehemaliger Sklaven und seine eigene Ahnengeschichte. Er lebte mehrere Jahre mit ihnen und setzt ihnen mit seinem Roman ein Denkmal. In seinen Kolumnen in »Folha de S. Paulo«, der größten Tageszeitung Brasiliens, schreibt er gegen Bolsonaro und Rassismus. »Die Stimme meiner Schwester« ist sein erster Roman. Barbara Mesquita, geboren in Bremen, arbeitet als Literaturübersetzerin und Dolmetscherin aus dem Portugiesischen und Spanischen. Neben Portugal selbst liegt ihr Interesse vor allem auf den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas sowie auf Brasilien und dem spanischsprachigen Raum. Barbara Mesquita lebt in Hamburg und zeitweilig in Lissabon.

Vieira schafft einen Einblick in die brasilianische Gesellschaft, den es so noch nie gab.

Wer sich für Brasiliens jüngere Geschichte und vor allem die der schwarzen Bevölkerung interessiert, wird den Roman verschlingen.

Eine furiose literarische Reise in den Norden Brasiliens.

4


Als sie zurückkehrte, war Donanas Rocksaum nass. Sie erklärte, sie sei am Flussufer gewesen und habe das Übel dort gelassen. Unter »Übel« verstand ich das Messer mit dem elfenbeinernen Griff, und selbst aus der Ferne spürte ich, wie sein Glanz meine Erinnerung blendete. Das Messer musste in dem »Bündel« gewesen sein, das sie Dona Tonhas Worten zufolge bei sich gehabt hatte. Sie wirkte niedergeschlagen, war blass, die geschwollenen Augenlider waren gesenkt. Sie kam auf uns zu, um uns mit derselben Hand zu streicheln, die sie auf unsere Köpfe hatte niederfahren lassen. Ihre knochigen Hände strichen über unsere Gesichter; gleich darauf ging sie wortlos in ihr Zimmer. Bis zum nächsten Tag sollte sie es nicht mehr verlassen.

Unser Vater begab sich in den Raum mit den Heiligen und entzündete eine Kerze. Unsere Mutter brachte uns in ihre Schlafkammer und forderte uns auf, still in ihrem Bett zu bleiben. Sie band die Gardine fest, die den Raum vom Wohnzimmer trennte, damit sie uns von überall, wo sie ging und stand, im Blick hatte. Offenbar hatte sie Angst, wir könnten erneut irgendetwas anstellen. Sie sagte, sie wolle die blutgetränkte Wäsche waschen gehen, die sie auf die Fahrt ins Krankenhaus mitgenommen hatte. Ich hörte vom Schlafzimmer aus, wie Dona Tonha anbot, das Waschen der Tücher zu übernehmen. Unsere Mutter war eine hochgewachsene Frau, größer als unser Vater, von kräftiger Statur und mit großen Händen. Ihre Vornehmheit wurde von allen um sie herum bewundert, und auch bei den Nachbarn war sie deswegen beliebt. Doch an diesem Tag schien ihr die vornehme Haltung abhandengekommen zu sein, denn ihre Schultern waren gebeugt, und sie wirkte erschöpft.

Ich merkte, wie Belonísia ihre Hand nach mir ausstreckte und meine fest drückte. Da wir nicht imstande waren zu sprechen, lernten wir instinktiv, dass Gebärden Dinge ausdrücken können, die nicht in Worte zu fassen sind. So schliefen wir an jenem ersten Tag ein.

Donana erholte sich nie wieder von dem Ereignis. Sie verließ kaum mehr das Haus, um in den Garten oder auf den Hof zu gehen. Für gewöhnlich saß sie auf der Bettkante und räumte ihren alten Lederkoffer aus und wieder ein. Sie nahm heraus, was darin war, Kleidungsstücke, eine leere Parfumflasche, ein kleiner Spiegel, eine alte Haarbürste, ein Messbuch, Papiere, anscheinend waren es Urkunden. Sie bedauerte, kein einziges Bild von ihren Kindern zu besitzen. Unsere Anwesenheit störte sie nicht mehr, nicht einmal in diesen verschwiegenen Momenten, wenn sie ihre Habseligkeiten aus- und einräumte. Sie tat es, um die Zeit zu füllen. Seit langem schon ging sie nicht mehr zur Pflanzung und beschränkte sich auf das Versorgen dessen, was im Garten wuchs, und auch diese Beschäftigung, eine der seltenen Freuden am Ende ihres Lebens, stellte sie nach und nach ein. Sie hatte das Interesse an den Pflanzen, um die sie sich kümmerte, an dem Wurzelsirup, den sie den Nachbarn und der eigenen Familie immer verordnete, verloren. Unsere Mutter übernahm die wenigen Aufgaben, die Donana als ihre betrachtet hatte. Sie versuchte noch, ihre Schwiegermutter aufzumuntern, und rief sie in den Garten, um ihr zu zeigen, wie prächtig eine bestimmte Pflanze gedieh, oder um zu prüfen, ob der Umbu-Baum blühte oder irgendeine Schädlingsplage in dem Wildwuchs unseres Gemüsegartens ausgebrochen war. Unsere Großmutter sah sich alles teilnahmslos an, brummte vor sich hin und kehrte zurück in ihr Zimmer, um sich wieder mit dem Ein- und Auspacken ihres alten Koffers zu beschäftigen, ganz so, als erwartete sie jeden Augenblick eine Einladung zu einer Reise auf die Fazenda, auf der sie geboren worden war, dem einzigen Ort im Leben, der sie zu interessieren schien.

In den darauffolgenden Monaten, der Zeit, in der wir genasen und die eine lernte, die Wünsche der anderen zu artikulieren, während die andere lernte, sich verständlich zu machen, war das Einzige, was Donana aus der Welt ihrer Erinnerungen und ihrem täglichen Kofferpacken herausreißen konnte, ein verletzter Hund, den Belonísia auf dem Weg zur Pflanzung gefunden hatte. Er wedelte eifrig mit dem Schwanz und vollführte auf drei Beinen kleine Sprünge. Ein Knochen der linken Vorderpfote war gebrochen, so dass sie beim Laufen auf herzzerreißende Weise in der Luft baumelte. Etwas an dem Tier hatte die allgemeine Stummheit der letzten Monate aufgebrochen, und Donana rief plötzlich nach allen und jedem im Haus, um von jeder kleinen Besserung in den Bewegungen des Hundes zu berichten. Eine Weile vergaß sie den Koffer und verbrachte mehr Zeit am Fenster, um Fusco zu beobachten. Den Namen hatte sie selbst ausgewählt, und Fusco schien die einzige Gesellschaft zu sein, die ihr etwas bedeutete.

Dann verlangte sie, wir sollten bei ihr in ihrem kleinen Zimmer schlafen, um nicht allein zu sein. Wir gehorchten. Donana erzählte nicht enden wollende Geschichten. Und schlief ein, bevor sie am Schluss angelangt war. Da ich wusste, dass die Geschichten kein Ende hatten, schlief ich manchmal auch vor ihr ein. Ich hörte sie, wenn sie in aller Frühe aufstand, um die Gartentür zu öffnen, und noch im Morgendunst leise, fast flüsternd, mit Fusco zu sprechen. Dennoch konnte ich den Klang ihrer Stimme vernehmen. Nie zuvor in unserem ganzen Leben hatte Donana uns so geschlagen wie an dem Tag, an dem wir gegen das, was ihr heilig war, verstoßen hatten, an dem wir ihre Vergangenheit entweiht und Dinge ausgegraben hatten, an die sie sich vermutlich nicht gern erinnerte. Sie wollte nicht, dass wir den Grund für ihr Leid in unseren unschuldigen Händen hielten, zugleich wollte sie sich ihrer Erinnerungen aber nicht vollständig entledigen, weil sie durch sie am Leben gehalten wurde. Sie gaben den Tagen, die ihr noch blieben, einen Sinn und bewiesen, dass sie sich von den Schwierigkeiten, die ihr auf ihrem Weg begegnet waren, nicht hatte bezwingen lassen.

Eines Morgens nannte mich Donana, als sie wach wurde, Carmelita und sagte, sie werde alles richten, ich solle mir keine Sorgen machen, sie werde nicht mehr verreisen müssen. Ich war damals zwölf Jahre alt und Belonísia fast elf. An den folgenden Morgen hörte ich, wie Donana auch Belonísia mit Carmelita anredete. Meine Schwester lachte nur über die Verwechslung. Wir schauten uns an und amüsierten uns über das Durcheinander, das sich in Donanas Sprache eingenistet hatte. Für sie hatte Fusco sich in einen Jaguar verwandelt, sie bat uns, vorsichtig zu sein. Sie forderte uns auf, mit ihr unseren Vater abholen zu gehen, der angeblich unter einem Jatoba-Baum neben dem zahmen Jaguar schlief, in den der Hund sich verwandelt hatte. Wir wussten, dass unser Vater jeden Tag auf der Pflanzung arbeitete, daher ergab das, was meine Großmutter sagte, keinen Sinn. Trotzdem bat unsere Mutter uns, sie zu begleiten und aufzupassen, dass ihr nichts zustieß und sie sich nicht im Wald verlief.

»Lasst sie nicht an die Uferböschung gehen. Seid vorsichtig wegen der Schlangen. Und lacht nicht über eure Großmutter.«

Als der Dezember begann, sammelten wir unterwegs entlang der Pfade die schon süßen Früchte. Manchmal vergaßen wir Donana völlig und verliefen uns, blieben stehen, bis ein Ruf mitten aus dem Wald ertönte und Carmelita und den Kindern befahl, Zeca holen zu gehen, und dann liefen wir ihr entgegen.

Wenn unser Vater nach Hause kam und wir Kinder unserer Großmutter sagten, er stehe doch direkt vor ihr, behauptete sie, das stimme nicht, sie wolle von ihm nur seinen Hut mitnehmen.

An einem Nachmittag im Februar ging Donana fort, ohne dass wir es in der Trägheit der Hitze bemerkten. Als unsere Mutter, die auf einem Stück Land in der Nähe des Hauses arbeitete, hereinkam, um ein Glas Wasser zu trinken, fiel ihr auf, dass ihre Schwiegermutter nicht da war. Sie bat mich, ihr hinterherzugehen und nachzusehen, wo sie steckte. Ich suchte Belonísia, sie sollte mit mir kommen, konnte sie aber nicht finden. Also lief ich allein den Weg hinunter, den meine Großmutter für gewöhnlich nahm, wenn sie in Begleitung der »Kinder« unseren Vater abholen ging. Unterwegs kam ich an einer großen Buriti-Palme vorüber; der Boden darunter war von Früchten übersät. Bevor ich weiter nach Donana suchte, die dort sein musste, wo sie immer war, sammelte ich so viele Früchte, wie ich nur konnte, in den Rocksaum meines Kleides. Es waren harte, kupferfarbene Früchte, die gar nicht so aussahen, als ob sich darin das saftige Mark befinden würde, das die Frauen, über und über davon bekleckert, in der Stadt verkauften. Von dem Erlös kauften wir alles, was wir brauchten, wenn die Pflanzungen der Dürre oder dem Hochwasser des Flusses nicht widerstanden. So gelangte ich zum Ufer des Rio Utinga, an der flachen Stelle, an der man ihn bei dem Sumpfgebiet auf dem Weg zu den Pflanzungen immer überqueren konnte, und fand Donana wie ein totes Tier bäuchlings im Wasser liegend vor. Ihr weißes Haar sah aus wie ein leuchtender Schwamm, der das Sonnenlicht reflektierte. Ich erkannte sie an ihrem schäbigen Kleid, dem Kleid, das so alt war, dass es vielleicht dasselbe war, in dem sie zusammen mit meinem Vater kurz vor meiner Geburt von einem Lastwagen zu uns mitgenommen worden war. Verstört von dem Anblick, es war wohl der erste dieser Art in meinem Leben, ließ ich die Früchte fallen und in den Fluss rollen. Ich schüttelte meine Großmutter – ob sie wohl aufwachte? –, drehte ihren kleinen, zerbrechlichen Körper auf die Seite, zerrte vergeblich an ihr, aber ich hatte keine Kraft, sie aus dem Wasser zu ziehen.

Niedergeschmettert von dem, was ich gesehen hatte, rannte ich nach Hause, um Hilfe zu holen. Unter derselben Buriti-Palme, unter der ich die Früchte...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2022
Übersetzer Barbara Mesquita
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte afro-brasilianische Kultur • Anspruchsvolle Literatur • Ausbeutung von Frauen • Ein Buch von S. Fischer • Emanzipation • Empowerment • Familengeschichte • Familiengeschichte • Freiheit • Gerechtigkeit • Heimat • Sklaverei • Solidarität • Unterdrückung
ISBN-10 3-10-491531-8 / 3104915318
ISBN-13 978-3-10-491531-9 / 9783104915319
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99