Oper (eBook)
220 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75929-5 (ISBN)
Drei Opern sind es mittlerweile, an denen der österreichische Komponist Johannes Maria Staud und der deutsche Dichter Durs Grünbein zusammenwirkten: eine fortgesetzte Kooperation, die ihre ganz eigene Arbeitsweise hervorgebracht hat. Dieser Band zeigt die drei bisher entstandenen Texte. So sehr Opern sich in der Synthese von Musik und Sprache verwirklichen, so sehr verdienen die abgründig-virtuosen Libretti von Durs Grünbein ihre eigene Beachtung.
Unheimlich bis grotesk die erste Oper Berenice (2004) nach Edgar Allan Poe: Der Geist der Oper selbst erscheint als Vamp in Form einer Meta-Oper. - Sodann der mehraktige Schwindelanfall Die Antilope (2014), ein kammermusikalisches Schauspiel um den Angestellten eines Start-ups. Der Gesellschaft mit seinesgleichen überdrüssig, singt er in einem seltsamen Kauderwelsch aus Esperanto und 'Antilopisch', einer Lautsprache aus Sinnfetzen. Nach einem Sprung aus dem Fenster sieht er die nächtliche Großstadt und die in ihr treibenden Gestalten plötzlich überscharf. - Ein Strom in Mitteleuropa und die Flussreise zweier Paare mit naturkatastrophischem Endspiel werden, nach einer Idee von Algernon Blackwood, zum Gegenstand der dritten Oper: Die Weiden (2018). Ein abendfüllendes Werk, aus dem die verdrängten Verbrechen der Geschichte emporsteigen, die alles Heimatliche unheimlich machen.
<p>Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.</p>
Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er lebt und arbeitet als Dichter, Übersetzer und Essayist in Berlin und Rom. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Peter-Huchel-Preis, den Georg-Büchner-Preis, den Literaturpreis der Osterfestspiele Salzburg 2000, den Friedrich Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt 2004 und den Berliner Literaturpreis der Preußischen Seehandlung verbunden mit der Heiner-Müller-Professur 2006. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Erster Akt
1. Szene
CHOR DER FAMILIENGEISTER
Mannigfaltig ist alles Elend.
Vielerlei Formen kennt irdische Not.
Den Horizont übersteigend, den weiten,
In Farben des Regenbogens spielt sie,
Dem Himmel gleich, dem fernen Gewölb —
Deutlich sichtbar wie dieses, zuinnerst
Mit feinsten Schatten vermischt.
Den Horizont übersteigend, den weiten,
Ganz wie der Regenbogen! Wie kam es,
Daß vom Schönen nur das Abscheuliche blieb?
Ein Gleichnis des Elends nur
Von dem, was einst Frieden verhieß?
Quälgeist Erinnerung: entweder rückt er
Als dauernder Schmerz uns zuleibe
Oder es hat, was als Todesangst bleibt,
Mit den Ekstasen begonnen,
Die es dereinst vielleicht gab.
2. Szene
EGAEUS
Egaeus, so bin ich getauft. Mein Familienname? Vergeßt ihn.
Im ganzen Land steht kein zweites Gemäuer, so alt,
So erhaben wie dies graue, düstere Stammhaus der Unsern.
Ein Geschlecht von Phantasten hat man die Sippe genannt.
Der Indizien sind übergenug, die den Steckbrief bestätigen —
Einzelheiten, die für sich sprechen — der lokale Charakter allein
Des Familiensitzes — im Festsaal die Fresken — die Gobelins
In den Schlafgemächern — die Steinmetzkunst mancher der Pfeiler
In der Waffenkammer — und jene Aura erst unserer Galerie
Mit den Werken der Alten Meister — die Manier der Bibliothek,
Höchst absonderlich, was ihren Bücherbestand angeht —
Gedenk ich der Kindheit, sehe ich diesen Raum —
Sehe die Bücherwände … Doch still jetzt, kein Wort mehr.
Hier starb meine Mutter.
3. Szene
ECHO
… starb meine Mutter.
EGAEUS
Hier kam ich zur Welt.
ECHO
… kam ich zur Welt.
EGAEUS
(Lauscht dem Echo nach. Singt:)
»Anima mia, Jahrtausende wandernd,
In wie vielen Körpern schon hast du gelebt?«
Nur Trägheit bestreitet der Seele ihr früheres Leben. Aus Trägheit
Vergessen die Menschen, wie oft sie gelebt.
ECHO
… oft sie gelebt.
EGAEUS
Ihr zweifelt? — Was solls, wir wollen nicht streiten.
Selbst überzeugt, muß ich nicht überzeugen. Mir reicht
Mein Gedächtnis. Ich weiß von ätherischen Wesen — von Augen,
Absolut ausdrucksvoll — von Klängen, traurig und schön zugleich.
Es gibt ein Erinnern, das keiner je abstreift. Es gibt ein Gemüt,
Dem Schatten gleich — wechselhaft, unbestimmt, flüchtig und vage.
Und wie einen Schatten wirst du es niemals mehr los,
Solange Vernunft dich, die eigene Sonne, bescheint.
In jenem Zimmer kam ich zur Welt.
Aufgetaucht aus Jahrtausenden Nacht,
Die uns scheint wie das Nichts und ist doch das Immer,
Verschlug es mich in ein Zauberreich eines schönen Tags,
In die wilden Domänen klösterlicher Gelehrsamkeit.
Kein Wunder, daß ich mich staunend umsah,
Die Augen weit aufgerissen, im Palast der Vorstellungskraft.
Daß die Knabenzeit mir über den Büchern verging,
Vergeudet mit Träumen, die Jugend. Das Wunder
War dies: daß die Jahre vorbeimarschierten, und ich
Saß noch immer im Vaterhaus, ein erwachsener Mann.
Seltsam auch dies: daß der Quell meines Lebens
Mit einem Mal stockte und stillstand.
Erstaunlich, wie in den einfachsten Alltagsfragen
Alles ins Gegenteil umschlug, seitenverkehrt.
Das Reale der Welt, als Vision übermannte es mich,
Und war nur mehr Vision. Wie ausgetauscht war,
Was in wilden Träumen mir zustieß. Was einmal Stoff,
Bloßer Stoff war fürs Leben, war nun das Leben selbst.
4. Szene
EGAEUS (DER SÄNGER), BERENICE
Duett »Ballade von den Geschwisterkindern«
EGAEUS
Berenice und ich warn Gespielen,
Cousin und Cousine, vom selben Stamm.
Von früh an erwählt unter vielen,
Im Haus meines Vaters zusammen.
EGAEUS
Selten warn zwei so verschieden wie wir.
Der Kränkliche ich, ein düsterer Junge.
Sie überschäumend, das muntere Tier,
Voll Anmut, stets auf dem Sprung.
EGAEUS
Ihrs war am Berghang das wilde Streifen,
Meins das Studieren in mönchischer Klause.
Ich saß versunken, verliebt ins Begreifen.
War in uralten Folianten zu Haus.
EGAEUS
So strahlend schön, kaum von dieser Welt.
O Sylphe verborgen in Arnheims Hecken!
Du Nymphe am Springbrunnen dort, am Quell!
Und plötzlich — war da nur Rätsel und Schrecken:
Ein Schauermärchen, und kein Wort beschreibts.
Ein Übel, unheimlich, hielt sie umkreist.
Wie Sandsturm durchfuhr es den zarten Leib.
Die Wandlung, ich sah sie. Ein böser Geist,
BERENICE
Der machte mich Arme zuschanden.
EGAEUS
Er raubte die Anmut dem holden Ding,
Verwirrte den Geist ihr: jetzt war sie die Andre.
BERENICE
Der grausame Räuber — er kam und er ging.
CHOR
Und das Opfer? Wo blieb sie, seit er sie ließ?
EGAEUS
Ich hab sie gekannt kaum. Und die ich da sah,
Das war nicht mehr sie, nicht sie — Berenice!
5. Szene
DER HAUSARZT
In der endlosen Folge von Gebrechen, ausgelöst von jener allerersten
Verhängnisvollen Krankheit, die einen so furchtbaren Wandel,
Seelisch wie körperlich, im Zustand seiner Cousine bewirkte,
Sei als besonders bösartig und zermürbend erwähnt eine Art Epilepsie.
Jene Fallsucht, die mitunter zu völliger Trance führte — einer Trance,
Die fast einer Selbstauflösung glich. Doch jedesmal,
Mit bestürzender Plötzlichkeit erwachte sie wieder.
6. Szene
Auftritt Edgar Allan Poe — ein Mann von zarter Statur, wie ihn die Photographien zeigen. Er ist vor allem nervös. Ihm folgt der Vamp — ein laszives Wesen von einiger Übergröße.
EDGAR ALLAN POE
Baltimore ist eine so scheußliche Stadt, besonders nachts. Wer als Dichter
Verdammt ist, in so einer Stadt zu leben, der braucht keine Feinde.
Der Horror ist ihm ein treuer Begleiter.
»Der Terror, von dem ich schreibe, kommt nicht aus Deutschland —
Es ist ein Terror der Seele.«
DER VAMP
(Äfft ihn nach:)
»Es ist ein Terror der Seele …«
EDGAR ALLAN POE
Wer bist du? Es kommt mir bekannt vor, dein langes Gesicht.
DER VAMP
Ich bin, der sich nachts an die Bettkante schleicht — dein Phantom.
Dein Körper weiß mehr von mir als dein Gehirn.
EDGAR ALLAN POE
Hinweg, du Gespenst der Novelle.
DER VAMP
(Lacht schallend:)
Wies beliebt, auf der Stelle.
Beide ab.
7. Szene
EGAEUS
Unterdessen nahm meine eigene Krankheit — denn keine andere
Bezeichnung verdiente mein Zustand — nahm meine eigene Krankheit
Rasch ihren Lauf. Schließlich wuchs sie sich aus zu einer seltenen
Form der Monomanie — die mit jeder Stunde,
Jedem Augenblick heftiger wurde — bis sie zuletzt
Völlig die Herrschaft gewann über mich. Jene Monomanie,
Wie die Ärzte sie nannten, zeigte...
Erscheint lt. Verlag | 12.11.2018 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Blackwood • Dichtung • Donau • Drama • Komponist • Libretti • Partitur • Poe • Premio Internazionale NordSud 2023 • Staud • Tranströmer-Preis 2012 • Vampire • Zbigniew Herbert Literary Award 2020 |
ISBN-10 | 3-518-75929-9 / 3518759299 |
ISBN-13 | 978-3-518-75929-5 / 9783518759295 |
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