Im Frühling (eBook)

Mit Bildern von Anna Bjerger
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-18744-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Frühling -  Karl Ove Knausgård
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Die Jahreszeiten-Bände von Karl Ove Knausgård: 'Im Frühling' ist der dritte Teil einer aus vier Bänden bestehenden grandiosen Liebeserklärung an das Leben und die sinnlich erfahrbare Welt. Enthalten: ein Tag im Leben einer Familie, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.

In diesem Kurzroman begleiten wir einen Vater und seine drei Monate alte Tochter durch einen Tag im Frühling. Ein Tag, geprägt vom Anfang des Lebens, von Aufbruch und Licht, aber auch von Dunkelheit und Beschwernis.

'Noch hing etwas Sparsames über allem, die Landschaft war ohne diese tiefe Fülle, die der Sommer brachte, das Grün der Bäume war vorerst nur ein Schimmer, denn so ist der April: Knospen, Keime, Ungewissheit, Zögern. Der April liegt zwischen dem großen Schlaf und dem großen Sprung. Der April ist die Sehnsucht nach etwas Anderem, wobei dieses Andere noch unbekannt ist.'

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

Du weißt nicht, was Luft ist, dennoch atmest du. Du weißt nicht, was Schlaf ist, dennoch schläfst du. Du weißt nicht, was Nacht ist, dennoch ruhst du in ihr. Du weißt nicht, was das Herz ist, dennoch schlägt es regelmäßig in deiner Brust, Tag und Nacht, Tag und Nacht, Tag und Nacht.

Du bist drei Monate alt und in alltägliche Abläufe gehüllt, liegst tagein, tagaus auf einem Lager aus immer Gleichem, denn du hast keinen Kokon wie die Raupen, du hast keinen Beutel wie die Kängurus, du hast keinen Bau wie die Dachse oder Bären. Du hast das Fläschchen mit Milch, du hast die Wickelauflage mit Windeln und feuchten Tüchern, du hast den Kinderwagen mit Kissen und Decke, du hast die großen, warmen Körper deiner Eltern. Umgeben von all dem wächst du so langsam, dass niemand es merkt, am wenigsten du selbst, denn erst wächst du nach außen, indem du greifst und erfasst, was dich umgibt, mit den Händen, dem Mund, den Augen, den Gedanken, die so erschaffen werden, und erst, wenn du dies etwa ein Jahr lang getan hast und die Welt eingerichtet ist, entdeckst du nach und nach, was dich selbst erfasst, und du wächst auch nach innen, zu dir selbst.

Wie ist die Welt für ein neugeborenes Kind?

Hell, dunkel. Kalt, warm. Weich, hart.

Das gesamte Arsenal von Dingen, die sich in einem Haus befinden, all der Sinn, den die Beziehungen in einer Familie stiften, all die Bedeutung, in der alle Menschen wohnen, ist unsichtbar, nicht im Dunkeln verborgen, sondern im Licht des Undifferenzierten.

Jemand erzählte mir einmal, Heroin sei so fantastisch, weil die Gefühle, die es zum Leben erweckt, mit jenen verwandt sind, die wir als Kinder empfinden, wenn sich um alles gekümmert wird, diese unendliche Geborgenheit, in der wir daraufhin leben und die so grundlegend gut ist. Alle, die diesen Rausch erlebt haben, wollen ihn wieder erleben, denn nun wissen sie, es gibt ihn und er ist möglich.

Das Leben, das ich führe, ist von deinem durch einen Abgrund getrennt. Es ist voller Probleme, Konflikte, Pflichten, voller Dinge, die erledigt, getan, bewältigt werden müssen, voller Willen, die befriedigt, Willen, die abgewiesen und vielleicht auch verletzt werden müssen, alles in einem steten Strom, in dem kaum etwas stillsteht, sondern alles in Bewegung ist, und in dem auf alles reagiert werden muss.

Ich bin sechsundvierzig, und das ist meine Erkenntnis, das Leben besteht aus Ereignissen, auf die reagiert werden muss. Und dass sämtliche Glücksmomente um das Gegenteil kreisen.

Was ist das Gegenteil davon, zu reagieren?

Es ist nicht Regression, es ist nicht, sich deiner Welt aus Licht und Dunkel, Wärme und Kälte, Weichem und Hartem zuzuwenden. Es ist auch nicht das Licht des Undifferenzierten, es ist nicht der Schlaf oder das Ruhen. Das Gegenteil davon, zu reagieren, ist, zu erschaffen, zu machen, etwas hinzuzufügen, was vorher nicht da war.

Du warst vorher nicht da.

Liebe ist kein Wort, das ich oft in den Mund nehme, im Verhältnis zu dem Leben, das ich führe, im Verhältnis zu der Welt, die ich kenne, erscheint es mir zu groß. Außerdem bin ich in einer Kultur aufgewachsen, die mit Worten vorsichtig umging. Meine Mutter hat mir niemals gesagt, dass sie mich liebt, und ich habe niemals gesagt, dass ich sie liebe. Für meinen Bruder gilt das Gleiche. Hätte ich zu meiner Mutter oder meinem Bruder gesagt, dass ich sie liebe, wären sie entsetzt gewesen. Ich hätte ihnen eine Bürde auferlegt, in brachialer Weise das Gleichgewicht zwischen uns verschoben, in etwa so, als wäre ich bei einer Kindstaufe betrunken umhergetorkelt.

Als du geboren wurdest, wusste ich nichts über dich, trotzdem wurde ich von Gefühlen für dich erfüllt, zunächst überwältigenden, denn eine Geburt ist überwältigend, auch für den Zuschauer – als würde sich alles im Raum verdichten, als entstünde eine Schwerkraft, die jeglichen Sinn anzieht, so dass er sich für ein paar Stunden nur dort befindet, danach immer geglätteter werdend, gleichsam in den Alltag eingeordnet, verdünnt durch die Ereignislosigkeit aller Stunden, aber trotzdem immer da.

Ich bin dein Vater, und du kennst mein Gesicht, meine Stimme und die verschiedenen Arten, wie ich dich halte, aber abgesehen davon könnte ich für dich irgendwer sein, erfüllt von irgendetwas. Mein eigener Vater, dein Großvater, der nicht mehr lebt, verbrachte die letzten Lebensjahre mit seiner Mutter, und ihr Dasein war erbarmungslos. Er war Alkoholiker und regressiv, er besaß nicht mehr die Kraft, auf etwas zu reagieren, hatte stattdessen alles losgelassen, saß nur noch da und trank. Dass er dies bei seiner Mutter tat, bedeutete etwas. Sie hatte ihn geboren, sie hatte ihn gewickelt und mit sich herumgetragen, dafür gesorgt, dass er warm, trocken, satt gewesen war. Das Band, das so zwischen ihnen entstand, wurde niemals zerrissen. Er versuchte es, das weiß ich, schaffte es aber nicht. Deshalb war er dort. Darin konnte er untergehen. Ganz gleich, wie verquer, ganz gleich, wie hässlich dies sein mochte, war es doch auch Liebe. Irgendwo im tiefsten Inneren gab es Liebe, eine bedingungslose Liebe.

Damals hatte ich noch keine Kinder, deshalb wusste ich das nicht. Ich sah nur das Hässliche, Unfreie, die Regression. Heute weiß ich es. Liebe ist viel, das Meiste an ihr ist flüchtig, verbunden mit allem, was geschieht, allem, was kommt und geht, allem, was uns erst erfüllt, uns dann entleert, aber die bedingungslose Liebe ist konstant und glüht schwach das ganze Leben hindurch, und ich möchte, dass du das weißt, denn auch du wurdest in sie hineingeboren, und sie wird dich umschließen, egal, was auch geschieht, solange deine Mutter und ich leben.

Mag sein, dass du gar nichts von ihr wissen willst. Mag sein, dass du dich von ihr abwendest. Aber eines Tages wirst du verstehen, dass dies keine Rolle spielt, dass es nicht das Geringste ändert, dass die bedingungslose Liebe die einzige Liebe ist, die nicht bindet, sondern befreit.

Was uns bindet, das ist etwas anderes, eine andere Form von Liebe, weniger rein, stärker vermengt mit dem Menschen, der liebt, und sie hat größere Kraft, sie kann einen Schatten auf alles andere werfen, sogar zerstören. Dann muss auf sie reagiert werden.

Ich weiß nicht, wie dein Leben aussehen wird, ich weiß nicht, was aus uns wird, aber ich weiß, wie dein Leben ist und wie es uns heute geht, und da du dich an nichts davon erinnern wirst, absolut nichts, werde ich dir von einem Tag in unserem Leben erzählen, in jenem ersten Frühling, den du erlebt hast. Du hattest dünne Haare, im Licht sahen sie rötlich aus, und sie wuchsen ungleich verteilt; in einem Kreis an deinem Hinterkopf gab es kein einziges Haar, wahrscheinlich, weil er fast immer auf etwas gepresst lag, auf Kissen und Decken, Couch und Stühle, aber ich fand es trotzdem merkwürdig, denn deine Haare waren doch nicht wie das Gras, das nur dort sprießt, wo die Sonne scheint und die Luft strömt?

Dein Gesicht war rund, dein Mund klein, aber die Lippen waren relativ breit, und deine Augen waren rund und recht groß. Du schliefst in deinem Gitterbett am einen Ende des Hauses, wo ein Mobile mit afrikanischen Tieren über dir hing, während ich in einem Bett neben deinem schlief, denn mein Job war es, dich nachts zu behüten, weil deine Mutter so einen leichten Schlaf hatte, während ich tief und fest schlief wie ein Kind, egal, was um mich herum geschah. Es kam vor, dass du in der Nacht aufwachtest und schriest, weil du hungrig warst, aber da ich nicht wach wurde oder dich nur als irgendetwas in weiter, sehr weiter Ferne hörte, musstest du auf die brutale Art lernen, dass du nichts zu erwarten hattest, solange es dunkel war, so dass du nach ein paar Wochen die ganze Nacht durchschliefst, von sechs Uhr abends, wenn du ins Bett gelegt wurdest, bis sechs Uhr morgens, wenn du wach wurdest.

Dieser Morgen begann wie alle anderen. Du wurdest im Dunkeln wach und begannst zu schreien.

Wie viel Uhr war es?

Ich tastete nach dem Smartphone, das eigentlich auf dem Fensterbrett gleich über meinem Kopf liegen sollte.

Da war es.

Das Licht des Bildschirms, der nicht größer war als meine Hand, erfüllte fast das ganze dunkle Zimmer mit vager Helligkeit.

Zehn nach halb sechs.

»Oh, das ist aber früh, mein Mädchen«, sagte ich und setzte mich auf. Es rasselte und pfiff in meiner Brust durch die Bewegung, und ich hustete eine Weile.

Du warst still geworden.

Ich ging die zwei Schritte zum Gitterbett, beugte mich über dich, legte links und rechts eine Hand um deinen kleinen Brustkorb und hob dich hoch, drückte dich an meinen Oberkörper, eine Hand unter deinen Nacken und Hinterkopf gelegt, obwohl du den Kopf inzwischen selbst halten konntest.

»Hallo«, sagte ich. »Hast du gut geschlafen?«

Du atmetest ruhig und hieltst deine Wange an meine Brust gepresst.

Ich trug dich den Flur hinab und ins Bad. Durch das Fenster sah ich einen schmalen Lichtstreif knapp über dem Horizont im Osten, rötlich im Kontrast zum schwarzen Himmel und der schwarzen Erde. Es war kalt im Haus, die Nacht war sternenklar gewesen und die Temperatur mit Sicherheit gefallen, aber zum Glück war in der Nacht der Wäschetrockner gelaufen, und etwas von seiner Wärme, die manchmal beinahe tropisch war, hielt sich noch im Raum.

Behutsam legte ich dich auf die Wickelauflage, die eingeklemmt zwischen Badewanne und Waschbecken lag, und hustete erneut. Ein Pfropfen löste sich im Hals, ich spuckte ihn ins Becken, drehte den Hahn auf, um ihn hinunterzuspülen, sah, wie er auf der kleinen Metallwand im Abfluss liegen blieb, glatt und zäh, während ihn das Wasser von beiden Seiten überspülte, bis er sachte auf die eine Seite...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2018
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Om våren
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anna Bjerger • Die Jahreszeiten-Bände • eBooks • Frühling • Geburt • Knospen • Landschaft • Liebe • Sehnsucht • Skandinavien • Sommer
ISBN-10 3-641-18744-3 / 3641187443
ISBN-13 978-3-641-18744-6 / 9783641187446
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