Karriere und Familie (eBook)
420 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3207-9 (ISBN)
Es war ein Paukenschlag aus der Stockholmer Akademie für Wissenschaften: Eine Frau erhält den Wirtschaftsnobelpreis, und sie arbeitet über – Frauen. Seit Jahrzehnten und auf der Grundlage von über 200 Jahre zurückreichenden Daten forscht Claudia Goldin zu der großen Gerechtigkeitslücke, an der viele gutausgebildete Frauen und Mütter bis heute scheitern. Warum übernehmen sie den größten Teil der Care-Arbeit? Warum verdienen sie weniger als Männer, in Deutschland durchschnittlich 18 Prozent? Warum arbeiten so viele von ihnen Teilzeit, obwohl sie dadurch hohe Abstriche bei der Altersversorgung in Kauf nehmen müssen?
Claudia Goldin beschreibt, wie Generationen von Frauen mit dem Problem der Vereinbarkeit von Karriere und Familie gekämpft haben. Ihre bahnbrechenden Forschungen erklären, wie Frauen in der Arbeitswelt benachteiligt wurden – und warum sich das bis heute kaum geändert hat. In ihrem wegweisenden Buch weist die Nobelpreisträgerin nach, was viele Frauen nur ahnten. Und mehr noch: Sie liefert den Schlüssel zur Veränderung.
Claudia Goldin, geboren 1946 in New York, ist studierte Volkswirtin und seit 1990 Professorin an der Universität Harvard. 2023 wurde sie mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Sie erhielt den Preis für die »Aufdeckung der wichtigsten Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt«, so das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung.
»Ein Weckruf für mehr Chancengleichheit«
DHI-Präsident Marcel Fratzscher über den Nobelpreis für Claudia Goldin
1 Das neue Problem ohne Namen
Arbeit und Familie, Arbeits- und Privatleben unter einen Hut zu bringen ist für Paare aller Art heute schwieriger als je zuvor. In den Vereinigten Staaten bemerken wir gerade kollektiv, wie wichtig, wie wertvoll für die Gegenwart und für zukünftige Generationen Care-Arbeit ist. Die Kosten dieser Care-Arbeit werden uns erst langsam bewusst: das geminderte Einkommen, die abgeflachte Karriere und die Kompromisse, die Paare (heterosexuell und gleichgeschlechtlich) dafür eingehen müssen, sowie die besondere Belastung für alleinerziehende Mütter und Väter.
Betty Friedan schrieb 1963 über Collegeabsolventinnen, die über ihr Hausfrauen- und Mütterdasein frustriert waren, sie hätten »ein Problem ohne Namen«. Fast 60 Jahre später stehen die meisten Collegeabsolventinnen im Berufsleben, aber im Vergleich zu den Absolventen werden sie bei Gehalt und beruflichem Aufstieg offenbar oft immer noch benachteiligt. Auch sie haben ein »Problem ohne Namen«.
Doch in Wirklichkeit hat ihr Problem viele Namen: Geschlechterdiskriminierung, Gender Bias, gläserne Decke, Mutti-Syndrom, aufs Abstellgleis geschoben werden – suchen Sie sich etwas aus. Eine unmittelbare Lösung für dieses Problem ist nicht in Sicht. Wir sollten Frauen beibringen, konkurrenzfreudiger zu sein und besser zu verhandeln. Wir müssen die unausgesprochenen Vorurteile der Führungskräfte aufdecken. Die Regierung sollte Geschlechterparität in Unternehmensvorständen verpflichtend machen und den Grundsatz von gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit durchsetzen.
Frauen in den Vereinigten Staaten und andernorts fordern immer lauter eine solche Lösung. Landesweit machen ihre Anliegen Schlagzeilen (und werden in Büchern veröffentlicht). Brauchen sie mehr Biss? Müssen sie sich mehr reinhängen? Warum steigen Frauen in Unternehmen langsamer auf als ihre männlichen Kollegen? Warum werden ihre Erfahrung und die Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht angemessen vergütet?
Viele Frauen werden zusätzlich von persönlicheren Zweifeln geplagt, die sie nur Lebenspartnern oder guten Freundinnen anvertrauen. Ist es klug für eine Frau, mit jemandem auszugehen, der genauso viel Zeit für seine Karriere aufwendet wie sie selbst? Soll sie die Gründung einer Familie aufschieben, selbst wenn sie sicher ist, dass sie Kinder will? Soll sie Eizellen einfrieren lassen, wenn sie mit 35 noch keinen Partner gefunden hat? Ist sie bereit, eine ehrgeizige Karriere (an der sie womöglich seit dem Schulabschluss gearbeitet hat) aufzugeben, um Kinder großzuziehen? Wenn sie es nicht tut, wer wird dann die Pausenbrote schmieren, das Kind vom Schwimmtraining abholen und auf Notfallanrufe aus der Schule reagieren?
Frauen fühlen sich immer noch ausgenutzt. Sie geraten bei ihrer Karriere ins Hintertreffen und verdienen gleichzeitig weniger als ihre Ehemänner und männlichen Kollegen. Man sagt ihnen, sie seien selbst schuld an ihren Problemen. Sie seien nicht aggressiv genug und verhandelten nicht ausreichend; sie forderten ihren Platz am Tisch nicht ein, und wenn sie es täten, verlangten sie nicht genug. Aber Frauen wird auch gesagt, dass sie nicht selbst schuld an ihren Problemen sind, selbst wenn diese Probleme ihr Verderben sind. Sie werden ausgebeutet, diskriminiert, schikaniert und aus dem Männerclub ausgeschlossen.
All diese Faktoren sind real. Aber sind sie wirklich die Wurzel des Problems? Summieren sie sich zu dem großen Unterschied bei Gehalt und Karriere auf, der zwischen Männern und Frauen besteht? Wenn all diese Probleme auf wundersame Weise beseitigt würden, würde die Welt von Frauen und Männern, die Welt der Paare und der jungen Eltern völlig anders aussehen? Bilden sie zusammen das »neue Problem ohne Namen«?
Öffentliche und private Diskussionen haben diese wichtigen Themen ans Licht gebracht, dennoch ignorieren wir häufig die riesigen Ausmaße und die lange Geschichte des Geschlechtergefälles. Ein einzelnes Unternehmen, dem man auf die Finger klopft, eine weitere Frau, die es in den Aufsichtsrat schafft, ein paar wenige fortschrittliche IT-Führungskräfte, die in Elternzeit gehen – derartige Lösungen sind ebenso unzureichend wie eine Packung Pflaster in einer Pestepidemie.
Diese Maßnahmen haben den Gender-Pay-Gap nicht beseitigt. Und sie werden nie eine umfassende Lösung für die Geschlechterungleichheit liefern, weil sie nur an Symptomen herumdoktern. Sie werden Frauen nie ermöglichen, Karriere und Familie im selben Umfang zu verwirklichen, wie Männer es können. Wenn wir den Pay-Gap auslöschen oder auch nur verringern wollen, müssen wir erst näher an die Ursachen dieser Rückschläge heran und dem Problem einen zutreffenderen Namen geben: gierige Arbeit – greedy work.1
Ich kann nur hoffen, dass, wenn Sie dies lesen, die Corona-Pandemie – die immer noch wütet, als ich dieses Kapitel beende – abgeflaut ist und wir etwas aus ihr gelernt haben. Die Pandemie hat einige Probleme vergrößert, andere beschleunigt und weitere offengelegt, die schon lange gegärt haben. Aber die Zerreißprobe zwischen Familie und Beruf, vor der wir stehen, ist viele Jahrzehnte älter als diese globale Katastrophe. Tatsächlich begannen Frauen den Kampf, zunächst einmal überhaupt arbeiten zu dürfen und dann Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können, vor mehr als 100 Jahren.
Im 20. Jahrhundert war Diskriminierung ein großes Karrierehindernis für Frauen. Historische Dokumente aus den 1930ern bis zu den 1950ern beweisen allzu deutlich, wie stark Frauen bei Anstellung und Verdienst benachteiligt und diskriminiert wurden. In den späten 1930ern gaben Firmenchefs in Umfragen an: »Lohnarbeit ist für Mädchen nicht geeignet«, »Wer in diesen Jobs (Autohandel) arbeitet, hat Kontakt mit der Öffentlichkeit … Frauen wären da nicht akzeptabel«, und »Ich würde keine Frau als Maklerin beschäftigen«.2 Das war am Ende der Weltwirtschaftskrise. Doch auch in den 1950er-Jahren, als die Arbeitsmarktlage angespannt war, erklärten Unternehmenssprecher grundsätzlich: »Mütter mit kleinen Kindern werden nicht eingestellt«, »Verheiratete Frauen mit … Kleinkindern werden nicht ermutigt, zur Arbeit zurückzukehren«, und »Eine Schwangerschaft ist ein Grund für eine freiwillige Kündigung, [auch wenn] die Frauen gerne wieder ins Unternehmen zurückkehren können, wenn die Kinder, sagen wir, die Mittelstufe erreicht haben«.3
Die Beschäftigung verheirateter Frauen war bis in die 1940er-Jahre durch allerlei Gesetze und Unternehmensgrundsätze eingeschränkt. Danach wurden Schwangerschaften zum Einstellungshindernis oder gar zum Kündigungsgrund, und Unternehmen schlossen die Einstellung von Frauen mit kleinen Kindern aus. Bei manchen Institutionen aus dem akademischen Bereich war Vetternwirtschaft bei der Arbeitsplatzvergabe verboten. Der Zugang zu zahllosen Jobs war nach Geschlecht, Familienstand und natürlich Hautfarbe beschränkt.
Heute geschieht das nicht mehr ganz so offensichtlich. Aktuelle Daten zeigen, dass echte Diskriminierung bei Bezahlung und Einstellung immer noch eine Rolle spielt, aber relativ gering ist. Das bedeutet nicht, dass Frauen nicht mehr mit Benachteiligung oder Diskriminierung konfrontiert sind oder es keine sexuellen Belästigungen und Übergriffe am Arbeitsplatz mehr gibt. Die landesweite #MeToo-Bewegung gab es nicht ohne Grund. In den späten 1990ern reichte Lilly Ledbetter Klage wegen sexueller Belästigung gegen Goodyear Tire ein, und die Klage wurde zugelassen. Das war ein echter Sieg für sie, aber sie zog die Anzeige zurück, als sie ihre alte Stelle als Abteilungsleiterin zurückbekam. Jahre später führte sie ihren inzwischen berühmten Prozess wegen ungerechter Bezahlung. Ledbetter bekam schlechte Leistungsbeurteilungen und so gut wie keine Gehaltserhöhungen, weil die Männer, deren Vorgesetzte sie war, sie ebenso diskriminierten wie die Männer, die letztendlich das Sagen hatten, aber den Sexismus ihrer Untergebenen ignorierten. In Ledbetters Fall war der Unterschied zwischen ihrem Gehalt und dem ihrer Kollegen zu 100 Prozent auf Diskriminierung zurückzuführen.
Also warum gibt es dann immer noch Unterschiede bei der Bezahlung, wenn Geschlechtergerechtigkeit bei der Arbeit doch nun endlich in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint, und in einer Zeit, in der Frauen mehr Berufe offenstehen als je zuvor? Bekommen Frauen tatsächlich weniger Geld für die gleiche Arbeit? Im Großen und Ganzen sind die Unterschiede nicht mehr sehr groß. Tatsächlich macht eine geringere Bezahlung für die gleiche Arbeit nur einen kleinen Teil der Einkommenslücke insgesamt aus. Heute ist das Problem ein anderes.
Manche führen das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern auf Geschlechterklischees bei der Berufswahl zurück – die Vorstellung, dass Frauen und Männer selbst Berufe wählen oder in Berufe gedrängt werden, die für ihr Geschlecht typisch sind (etwa bei Krankenpflegerin vs. Arzt, Lehrerin vs. Hochschuldozent), und dass diese Berufe unterschiedlich vergütet werden. Doch die vorliegenden Daten ergeben...
Erscheint lt. Verlag | 30.5.2024 |
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Übersetzer | Marlene Fleißig, Rita Gravert, Sigrid Schmid, Caroline Weißbach |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Wirtschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Gender Studies | |
Wirtschaft ► Volkswirtschaftslehre ► Makroökonomie | |
Schlagworte | Altersarmut • Anti-Baby-Pille • Care-Arbeit • Ehe • Ehegatten-Splitting • Familienplanung • Feminismus • Gender-Pay-Gap • gierig • Gleichberechtigung • Gleichstellung • Home office • Kinderbetreuung • Pflege • Teilzeit • Ungleichheit • Wirtschaftsnobelpreis |
ISBN-10 | 3-8437-3207-8 / 3843732078 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3207-9 / 9783843732079 |
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