Zurück nach Java (eBook)

Eine tropische Erinnerung
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
110 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74297-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zurück nach Java -  Eric Schneider
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Alle paar Jahre trifft sich Ferdy Aronius mit seiner Familie, von der nur noch die Mutter und ihr Ex-Geliebter geblieben sind. Auch dieses Mal - ein stürmischer Abend, ein verlassenes Strandhotel - schwelgen sie in Erinnerungen an alte Zeiten, das Hotel auf Java, der unbeschwerte Luxus des kolonialen Lebens, das Idyll in der Fremde. Doch je weiter der Abend voranschreitet, desto heftiger wird das Gespräch, und Stück für Stück offenbart sich die brutale Wahrheit über die Vergangenheit, eine Wahrheit, die sie bis zu diesem Tag verfolgt ... Zurück nach Java ist ein intensives Kammerspiel vor der üppigen Tropenkulisse Indonesiens. So einfühlsam wie schonungslos zeichnet Eric Schneider das Bild einer Familie, die den zwiespältigen Schönheiten ihrer Vergangenheit nicht entkommen kann.

<p>Eric Schneider wurde 1934 im indonesischen Batavia, dem heutigen Jakarta, geboren. 1946 siedelte er in die Niederlande über. Schneider ist Schauspieler, Regisseur, Dramatiker und Künstler, er gilt als die graue Eminenz des niederländischen Theaters. Zwischenzeitlich war er einige Jahre lang Ensemble-Mitglied am Theater Bonn. <em>Zurück nach Java</em> ist sein erster Roman.</p>

1


Ferdy Aronius, Diplomat und höchster Repräsentant seines Landes in Angola, versucht in etwa sieben Kilometer Höhe, zurückgelehnt in der Businessclass einer Lufthansa-Maschine Richtung Frankfurt, von wo er nach Amsterdam weiterfliegen wird, Schlaf zu finden. Und er weiß, dass ihm das nicht gleich gelingen wird, trotz der drei Whisky am Flughafen, die er ziemlich schnell hinuntergekippt hat, und trotz des Plaids, das der fürsorgliche Steward über ihn gebreitet hat: Sein Gefühl sagt ihm, dass es in diesem Jubiläumsjahr, in dem nach alter Gewohnheit am sechsten und neunten August im Hotel Hoogduin an der Nordsee der Untergang der Städte Hiroshima und Nagasaki gefeiert werden soll, anders sein wird als bisher.

Eine gewisse Unruhe hatte sich schon seit Tagen in ihm breitgemacht, und das leichte Stottern, mit dem er von klein auf behaftet ist, war offenbar mehr aufgefallen als sonst; Lili Oltman, seine Sekretärin, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, ein bisschen flachsig, aber vor allem neugierig. Sie weiß von seiner Flugangst, dem großen Handicap für einen Diplomaten, doch diesmal vermutete sie, dass da noch etwas anderes im Spiel war, und sie fragte ihn danach, ohne eine klare Antwort zu bekommen. Er selbst hatte sich bis zum Tag des Abflugs nach dem Grund für diese Unruhe gefragt.

Sein Vater würde nicht mehr dabei sein, doch das sollte er eigentlich eher als befreiend empfinden. Bis zu seinem Tod, erst vor einem halben Jahr, hatte sich Ferdy abfällige Bemerkungen anhören müssen, über seine Arbeit in »diesen islamischen Ländern«, seine Ehelosigkeit, seine Abkehr vom christlichen Glauben, wofür Gott ihn strafe mit diesem anhaltenden Stottern. Ferdy überläuft ein Frösteln, wenn er an das Sterben seines Vaters zurückdenkt, in dem christlichen Pflegeheim in Den Haag im Beisein des laut betenden Diakons. Jedes Mal, wenn er das Sterbezimmer betrat, nachdem er im Aufenthaltsraum des Heims eine Zigarette geraucht hatte, stammelte sein Vater, er begreife einfach nicht, warum Dieudonné nicht an seinem Bett sitze. Ferdy wich dann nicht aus, sondern wiederholte, sein Bruder sei tot, schon seit fünfundvierzig Jahren. Der Diakon griff das nur zu gern auf und garantierte dem Pfarrer, dass sein ältester Sohn droben im Himmel auf ihn warte: »Was der Herr genommen hat, schenkt er in der Ewigkeit, nicht wahr?« Und sein Vater ächzte kurz.

Es war nicht mehr viel übrig von dem berühmten Pfarrer, der in der Vorkriegszeit in Batavia mit seiner Harley-Davidson umherfuhr, um den Gemeindemitgliedern Hausbesuche abzustatten, was ihm den Namen »das fliegende Evangelium« eingebracht hatte; Ferdys riesiger, viel zu korpulenter Vater war im Laufe eines Jahres geschrumpft zu einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen, kurzatmig, fiebrig, mit halb geöffneten Augen, die sich schließlich nach einem kurzen Röcheln für immer schlossen. Wenig später rief Ferdy seine Mutter in ihrer Seniorenwohnung an, um ihr den Tod ihres Mannes mitzuteilen. Wortlos hatte sie eingehängt. Gleich darauf versuchte er sie erneut zu erreichen, doch der Anschluss war besetzt. Als er dann Mees Stork anrief, um ihm die Todesnachricht zu überbringen, war auch dort besetzt. Behutsam, als hätte er die beiden belauscht, legte er wieder auf. Plötzlich war er in Tränen ausgebrochen, im Zimmer der Direktorin des Pflegeheims, die sofort Tee bringen ließ und versuchte, ihn zu trösten. Weswegen? dachte er. Wenn sie wüsste, wie wenig er für den Toten empfand! Warum er trotzdem so geweint hatte, verstand er selbst nicht, aber dass er sich verlassen fühlte, weiß er noch genau.

Zum letzten Mal gesehen hatte er seine Mutter und deren Ex-Geliebten auf der Trauerfeier für den Pfarrer in einer halb vollen Kirche in Den Haag. Unbeirrbar Gläubige waren nach seiner kurzen Ansprache zu ihm gekommen und hatten seine Hand gehalten, etwas zu lange, damit sie nicht vor Altersschwäche umkippten, darunter Männer, die zusammen mit seinem Vater den Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn überlebt hatten. Jeden Abend, wenn die Dunkelheit über den Dschungel hereinbrach, habe er ein Gebet gesprochen; manch armem Teufel habe er die Augen geschlossen. »Ihr Vater war wirklich ein Heiliger«, meinten die Überlebenden, auf Gehstöcke gestützt oder im Rollstuhl sitzend. Als er nach seiner Mutter Ausschau hielt, sah er, wie sie die Kirche verließ und in ein Taxi stieg. »Auf der Flucht vor dem danse macabre«, sagte sie selbst später. Mees Stork hingegen frischte zusammen mit alten Bekannten Erinnerungen auf, die einen mit den Händen an den Ohren, die anderen am Gegenüber abgestützt, an Batavia, an die Partys bis spät in die Nacht, im Club oder in seinem Hotel, in dem danach dann alle Zimmer besetzt waren! Bei dieser letzten Erinnerung zwinkerten sich alle ein paar Mal zu. Mees' Reistafeln waren im ganzen Archipel berühmt gewesen. Mees selbst hatte den Ruf eines »Womanizers«, berüchtigt und beneidet. Er wirkte tatsächlich jünger als die achtzig, die er schon überschritten hatte, bis es auch ihm schwerfiel, von der harten Kirchenbank aufzustehen, er seinen zu Boden gefallenen Gehstock aufheben wollte, es aufgeben musste und sich hilflos umsah. Als Letzter hatte er zu Beginn des Gottesdienstes die Kirche betreten, am Arm eines jungen Mannes; sein Begleiter hatte sich in ein Seitenschiff zurückgezogen, wo Ferdy ihn noch sah, wie ein Chauffeur, der jeden Moment gerufen werden konnte. »Buli!«, dröhnte es denn auch durch die Kirche, und der junge Mann setzte sich flink in Bewegung, um Mees Stork zu Diensten zu sein; geschmeidig, breit lächelnd und mit gespielter Unterwürfigkeit reichte er ihm Hut und Gehstock und bot ihm dann den Arm, um den keuchenden, wankenden Greis zum Hotelauto zu geleiten.

Ferdy versucht, sich ganz genau an den jungen Mann zu erinnern: schlank, langgliedrig, tadellos gekleidet und frisiert, große braune Augen, eine etwas platte, jedoch feingeschnittene Nase, ein großer Mund mit kleinen, strahlend weißen Zähnen und bläulichem Zahnfleisch, kaum Bartwuchs und eine Hautfarbe, wie nur Javaner sie haben können: zartbeige. Gut, dass er den Mann so deutlich vor sich sieht, dann wird er ihn auf dem Amsterdamer Flughafen sofort wiedererkennen. Vor einer Woche hatte jemand bei der Botschaft angerufen, um mitzuteilen, der Herr Botschafter könne von Buli Kamidjojo abgeholt werden, wenn Datum, Ankunftszeit und Flugnummer an die Direktion von Hotel Hoogduin, Niederlande, durchgegeben würden. Bevor sie freundlich Auskunft gab, hatte sich Lili Oltman im Flüsterton erkundigt, ob der Name Buli Kamidjojo Ferdy etwas sage. »Nicht viel, aber es ist okay, Lili«, hatte er – nach einem Blick in ihr besorgtes Gesicht – mit einem Lächeln auf den Lippen geantwortet. Was für Bekannte er hatte, ging sie nichts an, und schon gar nicht, in welcher Beziehung er zu ihnen stand.

Lili Oltman war sich im Übrigen sehr bewusst, dass seine Interessen anders gelagert und vielleicht nicht ganz unbedenklich waren. Doch obgleich er schon weit über fünfzig war, weckten seine Kinderaugen und sein rührendes Stottern Gefühle der Zärtlichkeit bei ihr. Wenn er wieder einmal ein Wochenende unauffindbar war und der Erste Sekretär automatisch die Leitung der Botschaft übernahm, ging ihre Fantasie mit ihr durch. Oft überraschte er sie danach mit einem Blumenstrauß, einer Bonbonniere oder einem teuren Essen, wie Männer es bei besorgten Müttern machen; meist betranken sie sich dann gemeinsam, saßen Hand in Hand draußen auf einer Bank und schauten in den Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre. Dort, wohin ihn das Auswärtige Amt in der Regel schickte und wo Lili Oltman als First Lady auf vollendete Weise die Honneurs machte.

Vibrationen des Flugzeugs, deutlich spürbar, lassen seine Gedanken abreißen. Fasten Seatbelts leuchtet grellrot auf. Der Steward steckt den Kopf hinter dem Vorhang hervor. »Kann ich Ihnen mit dem Gurt behilflich sein, Sir? Machen Sie sich keine Sorgen, ist nur ziemlich schlechtes Wetter«, und während er hastig auf ihn einredet, umfasst er Ferdy schnell und geschickt unter dem Plaid, um ihm den Sicherheitsgurt anzulegen. Ferdy nimmt den Geruch von Schweiß und Aftershave wahr und sucht nervös den Blick des jungen Mannes. »Verzeihen Sie die Eile, ich muss weiter. Sie wissen ja …« Der Steward stellt Ferdys Rückenlehne gerade und verschwindet wieder – was wird der Mann in seinem Blick erkannt haben? Ein unmoralisches Angebot? Festgezurrt in ein paar Kilometern Höhe, als ein trauriger Sadomasochist? Hat er denn nicht die zunehmende Panik in seinen Augen gesehen? Er fühlt sich wie in einer großen, schaukelnden Wiege, hilflos ausgeliefert, und seine Angst steigert sich fast zur Hysterie, sodass er nur noch wimmernde Laute hervorbringen kann wie ein völlig verängstigtes Kind.

Zum ersten Mal passiert war ihm das auf dem Jahrmarkt in Rotterdam, vor dem Krieg, als die Familie auf Heimaturlaub war. Zusammen mit Dieudonné saß er in einem auf und ab wogenden Karussell, über das sich mitten in der Fahrt auch noch ein Verdeck wölbte und das einfach nicht mehr anhalten wollte, im Gegenteil: Sie rasten weiter in kreischender Dunkelheit. Er hatte sich mit solcher Kraft an seinem großen Bruder festgeklammert, dass Dieudonné ihm noch tagelang die blauen Flecke am Arm und am Oberschenkel gezeigt hatte. Das Flugzeug holpert, als lande es auf einem frisch gepflügten Acker, und scheint dann plötzlich stillzustehen.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, hört er den Steward fragen.

»Nein! Nein!«, jammert er mit hoher Stimme, den Spuckbeutel in der Hand. »Ganz und … und … und gar nicht!«

»Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?«

Er kann nur nicken, mit Tränen in den Augen.

»Stell dich nicht...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2015
Übersetzer Waltraud Hüsmert
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Een tropische herinnering
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Indonesien • Kammerspiel • Kolonialismus • Thriller • Tropen
ISBN-10 3-458-74297-2 / 3458742972
ISBN-13 978-3-458-74297-5 / 9783458742975
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