Gewalt und Gedächtnis (eBook)

Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-29773-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gewalt und Gedächtnis -  Mirjam Zadoff
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Gewalt darf nie vergessen werden: Mirjam Zadoff, Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, versammelt Ideen für eine globale Erinnerungskultur.
In heutigen Gesellschaften leben Menschen zusammen, deren Biografien durch unterschiedliche Erfahrungen von Krieg oder Diskriminierung geprägt sind - manchmal über Generationen hinweg. Können sie sich auf eine gemeinsame Erzählung verständigen? Mirjam Zadoff versteht Geschichte als Fähigkeit, Fragen der Gegenwart aus der Vergangenheit zu beantworten. Sie versammelt Beispiele aus aller Welt, wie in vielerlei Spielarten die Erinnerung an die Geschichte der Gewalt wachgehalten - oder vergessen - wird: in Italien an die Deportation der Juden, in Japan an die Zwangsprostituierten, in Johannesburg an die Opfer des Holocaust und des Kolonialismus. So knüpft sich eine globale Erinnerungskultur, die alle Menschen einschließt, in deren Leben die Geschichte eine Spur der Gewalt hinterlassen hat.

Mirjam Zadoff, Jahrgang 1974, studierte Geschichte und Judaistik in Wien und München. 2014 bis 2019 war sie Professorin für Jüdische Studien und Geschichte an der Indiana University Bloomington, seit 2018 leitet sie das Münchner NS-Dokumentationszentrum. Bei Hanser erschien 2014 Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem, ausgezeichnet mit dem Fraenkel Prize for Contemporary History. Sie war u.a. Jurymitglied des Geschwister-Scholl-Preises sowie des Deutschen Sachbuchpreises 2023.

Vorwort


Meine Kindheit war ganz anders als die meiner eigenen Kinder. Damals gab es viel weniger von allem, selbst von Erinnerungen. Meine Mutter hat eine Handvoll Kinderfotos von sich, von mir gibt es vermutlich eine Schuhschachtel voll, von meinen Kindern eine Cloud mit zigtausenden von Bildern. Es gab weniger von allem, aber es gab mehr Zeit. Wir lebten ganz im analogen Raum. Von der Existenz einer anderen, digitalen Welt erfuhr ich erst im Lauf meiner Schulzeit. Zu dritt, zu viert drängten wir uns um einen Commodore Amiga oder Apple Macintosh und versuchten die 0 und die 1, die Logik des Binärcodes zu verstehen. Die flimmernde weiße Schrift auf blauem Hintergrund kündigte etwas Neues an, ja, aber von den dramatischen Veränderungen, die sich dort abzeichneten, ahnten wir nichts. Die Ereignisse und Stimmungen, die mich in meiner Kindheit prägten, waren andere als die digitale Revolution.

Zuallererst ist da eine Erinnerung an einen sonnigen Nachmittag auf dem Teppich vor dem Plattenspieler, in der Hand ein Cover mit dem Foto einer Frau, von dem ich als kleines Kind gedacht hatte, es zeige meine Mutter. Es war das Vanguard-Album von Joan Baez aus dem Jahr 1972, und ich war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Die meisten Songtexte konnte ich nicht verstehen, weil sie auf Englisch waren. Trotzdem mochte ich die Lieder, wenn mein Vater das Album auf den Plattenteller legte, und das tat er oft. Erst später verstand ich, wie politisch Love Is Just a Four-Letter Word ist, ein Song, den Bob Dylan für Baez geschrieben hatte, ebenso wie Farewell, Angelina. Was mir damals aber schon einleuchtete, war, dass das einzige deutsche Lied auf der Platte mit dem Krieg zu tun hatte. Mit leichtem Akzent sang Baez Sag mir, wo die Blumen sind, die deutsche Version von Pete Seegers Antikriegslied von 1955. Als eine der erfolgreichsten Sänger:innen ihrer Zeit machte sie sich mit ihren Auftritten beim Marsch auf Washington und in Woodstock zu einem Sprachrohr des Protestes gegen den Vietnamkrieg und gegen den strukturellen Rassismus in den USA.

Der Vietnamkrieg endete, als ich etwa ein Jahr alt war, weitab von meinem sicheren, sonnigen Platz auf dem Teppich. Der Zweite Weltkrieg war dreißig Jahre zuvor zu Ende gegangen. In den sechs Jahren, die er andauerte, vom September 1939 bis zum September 1945, in genau 72 Monaten, waren weltweit 66 Millionen Menschen ums Leben gekommen, jeden Monat beinahe eine Million. Der Schock über den Verlust von 3,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung war groß. Besonders der grausame Genozid der Deutschen an den europäischen Jüd:innen, an Rom:nja und Sinti:zze und anderen Gruppen führte dazu, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen bald nach dem Krieg die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedete. In dreißig Artikeln formuliert dieser in mehr als 460 Sprachen übersetzte Text, welche Rechte jedem Menschen zustehen, »ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand« und unabhängig davon, in welchem rechtlichen Verhältnis er oder sie zu einem Land steht. Es liegt mehr als ein hoffnungsvolles »Nie wieder« in dieser Erklärung, die zwar rechtlich nicht bindend ist, aber doch eine Basis dafür schaffen wollte, die Welt nach den Vernichtungslagern, den Schlachtfeldern und Hiroshima neu zu denken. Und trotzdem folgte ein Krieg auf den anderen. In Biafra starben in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Nigeria Anfang der siebziger Jahre an die vier Millionen Menschen, viele von ihnen Kinder, die verhungert waren oder zu Soldaten gemacht wurden. Vergleichbar viele Menschen wurden zu Opfern des Vietnamkrieges, und wenige Jahre später ermordeten die Khmer Rouge in Kambodscha zwei Millionen Menschen.

Der Krieg war präsent in Vergangenheit und Gegenwart, während ich Pete Seegers Lied in deutscher Übersetzung lauschte. Where Have All The Flowers Gone wurde von einem Mann namens Max Colpet ins Deutsche übersetzt, Sag mir, wo die Blumen sind. Colpet hieß eigentlich Max Kolpenitzky, sein Vater stammte aus Vilnius, seine Mutter aus dem lettischen Daugavpils. Als Staatenlose lebte die Familie in Königsberg, bis sie 1920 nach Hamburg zog. Der fünfzehnjährige Max besuchte die dortige Talmud-Tora-Schule wurde Mitglied der Jugendgruppe Wandervogel und der zionistischen Jugendbewegung. Als erfolgreicher Drehbuchautor und Liedtexter arbeitete er in der späten Weimarer Republik unter anderem gemeinsam mit dem österreichisch-jüdischen Regisseur Billy Wilder. 1933 musste Max Colpet fliehen, erst nach Frankreich, dann nach Österreich und wieder nach Frankreich und schließlich in die Schweiz, wo er überlebte; seine Eltern wurden ermordet. Nach dem Krieg ging er auf Einladung Billy Wilders in die USA, kehrte jedoch bereits 1954 nach Deutschland zurück, nach München, wo er unter anderem Texte für die Lach- und Schießgesellschaft schrieb. Rassistische und antisemitische Anfeindungen zwangen ihn bald, in die Schweiz zu ziehen. Heute ist er vor allem für seine Übersetzung von Seegers Lied bekannt. Max Colpet wusste allzu gut, was Krieg, Gewalt und Verlust bedeuten. Als er Where Have All The Flowers Gone übersetzte, nahm er sich das deutsche Volkslied Sagt, wo sind die Veilchen hin zum Vorbild. Der Rokoko-Dichter Johann Georg Jacobi hatte es 1782 unter dem Titel Nach einem alten Liede geschrieben, eine sentimentale Erinnerung an eine Liebesbegegnung — für Colpet vielleicht eine Allegorie auf die jüdische Enttäuschung von Deutschland. Seine Übersetzung wurde weltberühmt, nachdem seine enge Freundin Marlene Dietrich sie 1962 zum ersten Mal gesungen hatte. 

Das Lied, von dessen langer und vielfältiger Verwobenheit in die deutsche, jüdische und amerikanische Geschichte ich damals keine Ahnung hatte, erreichte mich durch Joan Baez, die Ikone der amerikanischen Antikriegsbewegung. Ihre Platten standen bei uns neben denen von Dylan, Seeger und Woody Guthrie im Regal. Für meine Eltern, wie für viele ihrer Generation, transportierte ihre Musik die Zukunftsängste, die Hoffnungen und die Solidarität dieser Jahre. Aber diese Lieder gehörten auch zu den ersten Medien des Erinnerns oder, wie Stefanie Schüler-Springorum über den Liedermacher Franz Josef Degenhardt schreibt, sie verliehen »dem ›kognitiven Entsetzen‹ Ausdruck, das die Nazi-Forschung, zumal in Deutschland, über lange Jahre kaum in den Blick bekommen hat — vielleicht, weil es sich als ›Black Box‹ nicht der historischen Erklärung, wohl aber dem emotionalen Verstehen entzieht«.1 Die Musik beschäftigte sich nicht nur mit dem verschwiegenen Schrecken des Holocaust, sondern auch mit der fortdauernden Präsenz der braunen Ideologie in der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft. Auf Wienerisch und mit viel Witz gab Arik Brauer dem Ausdruck, er selbst hatte als junger Mann im Untergrund und mit viel Glück den Holocaust überlebt. Seine Platten standen bei uns neben denen der Band Zupfgeigenhansl im Regal, zwei deutschen Musikern, die nach dem Krieg geboren worden waren und sich in der Tradition des Wandervogels sahen. Sie interpretierten jiddische Volkslieder ebenso wie Erich Mühsams Gedicht von 1907 »Der Revoluzzer« oder Theodor Kramers »Andre, die das Land so sehr nicht liebten«. Auch bei Kramer erfuhr ich erst Jahre später, dass es sich um ein Gedicht handelte, das der jüdische Sozialdemokrat nach dem sogenannten »Anschluss« 1938 geschrieben hatte, kurz bevor ihm eine komplizierte Flucht nach England gelang. Viele dieser von Gewalt und Holocaust geprägten Biografien berührten ein deutschsprachiges Publikum zum ersten Mal über den Weg der Musik und den Umweg der amerikanischen Friedensbewegung.

With God on Our Side, 1963 von Bob Dylan geschrieben und im selben Jahr von Joan Baez eingespielt, gehörte ebenfalls dazu. Dylan stammte aus dem Mittleren Westen, seine Großeltern waren jedoch vor antijüdischen Pogromen aus Russland in die USA geflohen. With God on Our Side ist ein Lied darüber, dass die Täter sich immer im Recht wähnen und keine Gewissensbisse zeigen. In den einzelnen Strophen unternimmt Dylan einen Weg durch die Geschichte der Gewalt und erinnert an den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern, an den Spanisch-Amerikanischen Krieg, an den Amerikanischen Bürgerkrieg, an...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Diversität • Erinnerungspolitik • Geschichte • Gewaltgeschichte • Globalisierung • Holocaust • Kolonialismus • Kultur • Kulturgeschichte • Rassismus
ISBN-10 3-446-29773-1 / 3446297731
ISBN-13 978-3-446-29773-9 / 9783446297739
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