Adornos Erben (eBook)

Eine Geschichte aus der Bundesrepublik | Die Frankfurter Schule - 100 Jahre Institut für Sozialforschung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
760 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77872-2 (ISBN)

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Adornos Erben -  Jörg Später
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Adornos Erben schreibt die Geschichte der Kritischen Theorie neu: als große, vielstimmige Erzählung aus der alten Bundesrepublik - einem Land, das zwanzig Jahre mit Adorno existierte und zwanzig Jahre ohne ihn.

Im Oktober 1949 kehrte Theodor W. Adorno aus dem amerikanischen Exil in seine Geburtsstadt zurück, um wieder an einer deutschen Universität zu lehren. Frankfurt lag in Trümmern, die Nazis hatten nur die Kleider gewechselt, aber die Studierenden kamen in Scharen. Bald war der Philosoph wöchentlich im Radio zu hören und zum Stichwortgeber und »Erzieher« der jungen Bundesrepublik geworden. Als Adorno 1969 starb, waren das Institut für Sozialforschung und sein Direktor bundesweit bekannt. Die Frankfurter Schule befand sich auf dem Zenit ihrer öffentlichen Wirkung.

Dieser Denkraum und seine Metamorphosen zwischen Nachkrieg und Wiedervereinigung sind das Thema dieses Buches, zwölf Mitarbeiter Adornos seine Protagonisten. Nach dem Tod des »Meisters« zerstreuten sie sich von der Stadt am Main nach Gießen, Lüneburg oder Starnberg. Jörg Später folgt ihren Wegen und schildert, wie sie in Wissenschaft, Politik und den neuen sozialen Bewegungen Adornos Erbe annahmen und veränderten.

Adornos Erben:
Regina Becker-Schmidt, Gerhard Brandt, Ludwig von Friedeburg, Karl Heinz Haag, Jürgen Habermas, Elisabeth Lenk, Oskar Negt, Helge Pross, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann



Jörg Später, geboren 1966, ist promovierter Historiker und freier Autor. An der Universität Freiburg ist er mit der Forschungsgruppe Zeitgeschichte assoziiert. Sein Buch über Siegfried Kracauer stand 2017 auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.

Die Institutsgründung


Doch trotz aller Zeitzeichen und Krisensymptome wäre es nicht zur Institutsgründung gekommen, hätte Felix Weil seinen Vater Hermann, einen überaus vermögenden Getreidehändler, nicht dazu überreden können, das Projekt zu finanzieren. Das war wiederum möglich, weil die 1914 gegründete Frankfurter Universität eine Stiftungsuniversität war.4

Vorgeschlagen hatte die Institutsgründung der gerade nach Frankfurt berufene Nationalökonom und Soziologe Kurt Albert Gerlach. Er stand auch als Direktor bereit, starb jedoch überraschend im Oktober 1922, kurz nachdem die Gesellschaft für Sozialforschung, die Trägerin des Instituts sein sollte, ins Leben gerufen worden war.5 Angesichts leerer Kassen nahm die noch junge Stiftungsuniversität die externe Finanzierung der neuen Universitätseinrichtung nach den Verhandlungen im Winter 1922/23 gerne an. Das Institut sollte unmittelbar dem Ministerium unterstehen und durch einen Lehrstuhl mit der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät verbunden sein, bei deren Herren sich die Begeisterung allerdings in Grenzen hielt. Sie erkannten, welches Gespenst da an die Universität gebracht wurde.6

An Pfingsten 1923 trafen sich im Örtchen Geraberg bei Ilmenau im Thüringer Wald kommunistische Intellektuelle unter Federführung von Weils Doktorvater Karl Korsch und unter Beteiligung von Georg Lukács zur »Ersten Marxistischen Arbeitswoche«. Das war die intellektuelle Gründung des Instituts.7 Es war, wie Detlev Claussen vermutet, »sicher die fortgeschrittenste intellektuelle Diskussion über Revolution und Marxismus […], die sich damals denken ließ«.8 Korsch und Lukács waren die führenden intellektuellen Köpfe des Linkskommunismus, die es bis in Ministerränge gebracht hatten – Korsch gehörte jener Thüringer »Volksfront«-Regierung an, die Reichspräsident Friedrich Ebert Ende 1923 absetzen sollte, Lukács war 1919 stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen in der ungarischen Räteregierung von Béla Kun gewesen. Auch hier zeigte sich die Verbindung des Instituts zum kämpfenden Marxismus.9

Ein entscheidender Inkubator dessen, was später die Kritische Theorie der Frankfurter Schule genannt werden sollte, war darüber hinaus das Heidelberger Milieu junger, bürgerlicher und linker Intellektueller zu Beginn der 1920er Jahre, zu dem Leo Löwenthal, Erich Fromm, Alfred Sohn-Rethel und Alfred Seidel gehörten. Auch Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer standen mit ihm in Verbindung. Die synkretistische Gestimmtheit der überhitzten, verzweifelten und orientierungslosen jungen Männer in den Seminaren von Alfred Weber und Karl Jaspers verhandelten wild und schwärmerisch die ästhetischen, politischen, philosophischen und geisteswissenschaftlichen (allerdings nicht soziologischen) Grundfragen, die das Institut unter Horkheimers Direktorat später systematischer anging. Die jungen Intellektuellen drängten auf eine wirkliche, lebensnahe Philosophie. Im »Heidelberger Synkretismus«, wie Christian Voller das nennt, äußerte sich ein metaphysisches Bedürfnis in einer Zeit, in der die akademische Philosophie postmetaphysisch wurde.10

Horkheimer und Pollock, die sich vertraglich ewige Freundschaft versprochen hatten, wollten sich nicht nur mit dem Weltelend, sondern auch mit den Möglichkeiten von Welterkenntnis beschäftigen. Beides gehörte zusammen. Nicht aber »formale Erkenntnisgesetze, […] sondern materiale Aussagen über unser Leben und seinen Sinn haben wir zu suchen«, schrieb Horkheimer 1921.11 Die bürgerliche Gesellschaft lehnten sie ab – ohne allerdings wie die Lebensreformer den Wunsch nach Askese oder die Sehnsucht nach einem einfachen Leben zu verspüren. Das wäre in ihren Augen eine Verhöhnung der Armen und Ausgebeuteten gewesen, die sich doch nichts mehr wünschten, als am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben. Der zukünftige Sozialismus sollte auf dem Wohlstand und der Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft aufbauen, nicht hinter sie zurückfallen.12

Erster Direktor des Instituts wurde der Austro- und Kathedermarxist Carl Grünberg, ein Staatsrechtler und Soziologe, der den Schwerpunkt auf das Studium des wissenschaftlichen Marxismus legte und seine 1911 gegründete Zeitschrift Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung mitbrachte.13 Das Institut gliederte sich auf in die Disziplinen Wirtschafswissenschaft, Staatswissenschaft und Theorie der politischen Ökonomie und zeigte sich damit »einem sozialistischen Fortschrittsoptimismus« verpflichtet, der, so Magnus Klaue, »von der Wissenschaftlichkeit und Rationalität des Marxismus überzeugt war«.14 Felix Weil blieb dem Institut verbunden, war aber noch auf anderen Felder aktiv, etwa als Unterstützer des Berliner Malik-Verlags, der 1923 Lukács’ bahnbrechendes Buch Geschichte und Klassenbewußtsein herausbrachte. Horkheimer wiederum musste erst in der akademischen Philosophie Fuß fassen und stieg zunächst nicht direkt in die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Institutsarbeit ein. Pollock hingegen verschrieb sich der Kritik der politischen Ökonomie beziehungsweise den Wirtschaftsdingen selbst und war von Beginn an als Geschäftsführer in administrative Aufgaben eingebunden.15 Noch 1923 reichte er seine Dissertation zu Marx’ Theorie des Geldes an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Universität ein. Sie stand unter der Prämisse, dass die politische Ökonomie die einzige »universale Grundwissenschaft« sei, weil die »Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens« aller Kultur und allem Denken vorausgehe. Die Differenz von Wesen und Erscheinung, verdinglicht im Phänomen des Geldes, das die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse verschleiere, war für Pollock der Ausgangspunkt kritischer Wissenschaft, ähnlich wie zur selben Zeit bei Korsch, Lukács und anderen materialistischen Ideologiekritikern. Die Vorstellung, dass der Kapitalismus die soziale Welt verzaubert habe, also nichts so ist, wie es scheint, lag offensichtlich in der Luft.16

Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein war der hochfliegende Versuch, eine neue Orthodoxie mit philosophischen Mitteln zu begründen, und hatte eine außerordentlich tiefe Wirkung auf die junge Intelligenz. Sie fiel allerdings bei Lenin in Ungnade und geriet unter die Räder der Moskauer Politik gegen die sogenannten Linksabweichler und ihre »Kinderkrankheiten«. Der Rezeption schadete das kaum, eher im Gegenteil. Das Kapitel über den Warenfetischismus und die Verdinglichung als Grund von Entfremdung wurde zu einem der Basistexte des entstehenden westlichen Marxismus, auch wenn sich sein Autor später vor dem Staatssozialismus verbeugte und von sich selbst distanzierte. Ebenfalls 1923 erschien Korschs Marxismus und Philosophie, das den jungen revolutionären Marx gegen den erstarrten Marxismus der Zweiten Internationale stellte. Dem Autor ging es um die Wiederbelebung des revolutionären Elans angesichts des erstarrten wissenschaftlichen Sozialismus. Dazu bezog er sich auf den Philosophen Marx, auf dessen Lehrer Hegel und auf ein Verständnis von Dialektik, das den Faktor der Subjektivität im Rahmen des Historischen Materialismus hervorhob. Später sprach man daher von einem Hegelmarxismus, der in Frankfurt zuhause sei.17

Dieses Zuhause materialisierte sich nur wenige Monate nach der Gründung des Instituts in Form eines fünfgeschossigen Gebäudes in der Viktoria-Allee im Frankfurter Westend. Im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet, war es Ende November 1923 bezugsfähig und wurde am 22. Juni 1924 eingeweiht. Die Ausstattung mit 18 Arbeitszimmern, mehreren Seminarräumen, einer stattlichen Bibliothek plus Lesesaal und Magazin sowie einigen Gästezimmern war großzügig, die Organisation...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
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ISBN-10 3-518-77872-2 / 3518778722
ISBN-13 978-3-518-77872-2 / 9783518778722
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