Die narzisstische Volksgemeinschaft (eBook)
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490401-6 (ISBN)
Felix Römer, geboren 1978, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in London. Er studierte in Kiel, Lyon und Freiburg, 2007 wurde er promoviert. Von 2008 bis 2012 war er Projektmitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Bücher ?Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront? (2008) und ?Kameraden. Die Wehrmacht von innen? (2012) fanden ein großes Echo in den Medien.
Felix Römer, geboren 1978, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in London. Er studierte in Kiel, Lyon und Freiburg, 2007 wurde er promoviert. Von 2008 bis 2012 war er Projektmitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Bücher ›Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront‹ (2008) und ›Kameraden. Die Wehrmacht von innen‹ (2012) fanden ein großes Echo in den Medien.
Ein ebenso ungewöhnliches wie innovatives, flüssig geschriebenes, ansprechend illustriertes und durchweg faszinierendes Buch!
Insgesamt handelt es sich also um einen spannenden Blick in die Mikrogeschichte des Ostfeldzugs. Hinzu kommt, dass das Buch […] gut geschrieben ist.
I Einleitung
In der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« galt die Maxime »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, doch in Wirklichkeit hielten sich noch nicht einmal die Machthaber daran. Die NS-Propaganda predigte unablässig, dass nur noch das Kollektiv zähle und nicht mehr der Einzelne, aber viele der führenden Nationalsozialisten nahmen sich selbst davon aus: Sie hielten sich für herausragende Persönlichkeiten, die über der Masse des Volkes standen. Ein typischer Fall war der prominente NSDAP-Funktionär Theodor Habicht aus Wiesbaden. Im Jahre 1926 trat er als Achtundzwanzigjähriger in die NSDAP ein – im NS-Staat schaffte er es später fast bis ganz nach oben.[1] Vor 1933 galt Habicht als einer der erfolgreichsten nationalsozialistischen Provinzführer in ganz Deutschland. Ab 1931 führte er die NS-Bewegung in Österreich an und machte weltweit Schlagzeilen, als er im Juli 1934 einen Putschversuch gegen die Regierung in Wien unternahm, der blutig scheiterte. Trotz dieses spektakulären Fehlschlags ging seine Karriere ab 1937 weiter, erst als Oberbürgermeister von Wittenberg und Koblenz, dann ab 1939 sogar als Diplomat im Auswärtigen Amt. Im Herbst 1940 trat er als Offizier in die Wehrmacht über und kam 1944 schließlich an der Ostfront ums Leben. Schon zu Lebzeiten sah sich Habicht als historische Figur und war vollkommen von sich selbst eingenommen. Weit über den Einzelfall hinaus offenbart Habichts Biographie die narzisstischen Züge der Nationalsozialisten. Damit ist nicht ihre individuelle Psyche gemeint, sondern ihre historische Mentalität im Sinne eines kollektiven kulturellen Musters. Dennoch lassen sich die analytischen Kriterien für die Beschreibung dieser Mentalität aus der psychologischen Forschung ableiten. Dies verdeutlicht das folgende kurze Gedankenexperiment, das auf Habichts historischen Selbstzeugnissen beruht.
Stellen wir uns einmal vor, Habicht hätte sich damals einem psychologischen Test unterzogen, der erst mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Diagnose von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen entwickelt wurde. Nehmen wir einmal an, Habicht hätte den Fragebogen Ende 1943 kurz vor seinem Tod im Rückblick auf sein Leben während einer Kampfpause in seinem Quartier an der Ostfront ausgefüllt. Auf seinem Schreibtisch hätte er die deutsche Version des Narcissistic Personality Inventory (NPI) vor sich liegen gehabt, der heute zum Standard der Psychologie gehört. Wenn Habicht den NPI aufgeblättert hätte, hätte er eine Liste mit vierzig Paaren von kurzen Aussagen vorgefunden. Der Test hätte darin bestanden, diese Aussagenpaare Punkt für Punkt durchzugehen – und sich jeweils zu entscheiden, mit welchem der alternativen Statements man sich mehr identifiziert. Natürlich hat Habicht in Wirklichkeit nie etwas vom NPI gehört, geschweige denn, ihn jemals ausgefüllt. Doch nach allem, was Habicht in seinen Reden, Schriften und Tagebüchern von sich selbst preisgegeben hat, kann man sich leicht ausrechnen, was er auf die Fragen des NPI wohl geantwortet hätte.
1 Ich bin ziemlich genau wie jeder andere auch | Ich bin eine außergewöhnliche Person
Gleich die erste Aussage wäre für jemanden wie Habicht irritierend gewesen. Die Vorstellung, dass irgendjemand ihn nicht für außergewöhnlich halten könnte, war aus seiner Sicht reichlich absurd. Wegen seiner Leistungen und Taten fühlte sich Habicht den meisten Zeitgenossen weit überlegen, deshalb sah er in vielen auch nur »Durchschnittsfiguren«. Immer wenn Habicht auf seine eigene Geschichte zurückblickte, wurde er pathetisch – sein Tagebuch zeigt an vielen Stellen, wie sich das bei ihm anhörte. Im Weltkrieg hatte er als Kriegsfreiwilliger gekämpft und war dafür mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Nach der Schmach von 1918 hatte er in Berlin mit einem Freikorps gegen die Spartakisten gekämpft, die alles umstürzen wollten, wofür er und seine Kameraden gefochten hatten – eine düstere, aber auch eine heroische und prägende Zeit. Ab Mitte der 1920er Jahre hatte er dann seine Heimatstadt Wiesbaden zu einer Hochburg der NSDAP gemacht: In der Kampfzeit hatte er mit die besten Wahlergebnisse des gesamten Reiches eingefahren. Sein Aufstieg zum Gauleiter und Führer der Nationalsozialisten von ganz Österreich im Sommer 1931 war die logische Folge seiner großen Verdienste um die Bewegung gewesen. Bei dem Gedanken an Österreich konnte Habicht gleichzeitig einen Anflug von Bitterkeit nicht ganz unterdrücken, denn unweigerlich kam auch die Erinnerung an seinen gescheiterten Coup vom Juli 1934 wieder hoch. Habicht ließ sich jedoch von dem Fehlschlag nicht weiter beeindrucken, schließlich hatte der ja nicht an ihm gelegen, sondern am Versagen der österreichischen SA. Auch dass Hitler ihn nach dem Putschversuch seines Amtes entheben musste, war eben nur außenpolitischen Rücksichtnahmen geschuldet gewesen.
Sein Wiedereinstieg in die Politik war ihm schon 1937 gelungen, als Oberbürgermeister von Wittenberg. Ab 1939 dann regierte er das wesentlich bedeutendere Koblenz, in der Übergangszeit sogar beide Städte zugleich – auch das hatte er sich selbstverständlich ohne Zögern sofort zugetraut. Die erhebenden Bilder von den großen Aufmärschen und Paraden mit den Menschenmassen, Wehrmachtsformationen und wehenden Flaggen standen ihm noch lebhaft vor Augen. Die Krönung war dann seine Berufung als Unterstaatssekretär ins Auswärtige Amt im Herbst 1939. Mit Ehrfurcht dachte er daran, wie er als Diplomat Weltpolitik mitgestaltet hatte, einmal sogar als Sondergesandter des Reiches in Oslo nach dem deutschen Einmarsch vom April 1940. Er hatte zwar das Amt im selben Jahr wieder verlassen müssen, doch das hatte nur an der Unfähigkeit von Reichsaußenminister Ribbentrop gelegen, unter dem die Wilhelmstraße zu einem »Narrenhaus« heruntergekommen war. Habicht war froh, dass er seither wieder Soldat war. Als Offizier an der Front für die Volksgemeinschaft und die Zukunft des Reiches zu kämpfen war ohnehin das Ehrenvollste und Männlichste, was es überhaupt gab. Und auch auf diesem Feld hatte er gezeigt, was er konnte. In Polen hatte er noch als Leutnant gedient, jetzt war er schon Hauptmann und Kommandeur eines Bataillons, nachdem seine Leistungen auf dem Schlachtfeld endlich angemessen gewürdigt worden waren.
Habicht dachte daran, wie er an seinem letzten Geburtstag über einer Europakarte gesessen hatte und mit dem Finger über all die Orte gefahren war, an denen er in seinem Leben gewirkt hatte. Andere mochten vielleicht weiter gereist sein als er, aber kaum jemand hatte an so vielen Punkten Geschichte mitgemacht. Gewiss hatte er auch Niederlagen und Rückschläge hinnehmen müssen. Mehr als einmal war er um seine Erfolge betrogen worden, und das von Leuten aus den eigenen Reihen. Aber er hatte nie den Konflikt gescheut und immer in vorderster Linie gekämpft, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch ganz wörtlich. Wenn man sein außergewöhnliches Leben auf einen Nenner bringen wollte, dann konnte es keinen besseren Begriff dafür geben als diesen: den Kampf! Und um die historischen Dimensionen dieses kämpferischen Lebens zu erfassen, dafür brauchte es doch eine geradezu epochale Bezeichnung: Habicht sprach deshalb von seiner Zeit seit Beginn des Ersten Weltkriegs als seinem ganz persönlichen dreißigjährigen Krieg.
2 Ich bin ein geborener Führer | Führerschaft ist eine Qualität, die man lange entwickeln muss
Auch bei dieser Frage lag die Antwort für Habicht auf der Hand. Dass er ein geborener Führer war, hatte er doch schon im Weltkrieg bewiesen, mit neunzehn Jahren hatte er es zum Unteroffizier gebracht! Und in der Wiesbadener NSDAP hatte er gerade einmal ein Jahr gebraucht, um Parteichef zu werden. Ein weiteres Jahr später hatte er mit der Partei in der Stadt den Durchbruch geschafft. In Österreich war es im Grunde dasselbe gewesen. Die österreichische Bewegung war unter dem schwachen Landesleiter Alfred Proksch so in Unordnung geraten, dass erst Habicht kommen musste, um wieder eine straffe Partei daraus zu formen – und das hatte er ja wohl geschafft! Man denke nur an seine Radioansprachen im bayerischen Rundfunk, mit denen er die Bewegung bei der Stange gehalten hatte! Noch vor wenigen Tagen hatte ihn hier im Frontgebiet schon wieder ein früherer Anhänger aus Österreich darauf angesprochen: Er sei damals »Abonnent« auf Habichts Rundfunkreden gewesen. Habicht hatte immer gezeigt, wo es langging, auch als Oberbürgermeister. In Wittenberg war man ihm doch heute noch dankbar dafür, was er dort alles bewegt hatte, und das gegen alle Widerstände. Am klarsten zeigte sich natürlich hier an der Front, wer ein geborener Führer war. Kein Zweifel, seine Soldaten waren ihm ergeben, wie es eine Gefolgschaft nur sein konnte. Wenn er Witze machte, dann lachten sie, und wenn er durch den Bataillonsbereich ging, lief keiner vor ihm weg, so wie beim Regimentskommandeur mit seiner falschen Leutseligkeit. Mit diesem »Volk« konnte er alles anstellen.
3 Ich stehe gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit | Es ist mir unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen
Diese Frage ließ sich nicht ohne kurzes Nachdenken beantworten. Bei der zweiten Aussage fiel Habicht...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2017 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Biographie • Drittes Reich • Kriegstagebuch • Narzissmus • NSDAP • Österreich • Ostfront • Soldaten • Sowjetunion • Vernichtungskrieg • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-10-490401-4 / 3104904014 |
ISBN-13 | 978-3-10-490401-6 / 9783104904016 |
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