Das deutsche Alibi (eBook)
400 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30676-2 (ISBN)
Ein Datum im Dienst der Politik
Zum 20. Juli 1944 scheint alles gesagt. Wir wissen, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Bombe platzierte, warum der Anschlag misslang und dass es trotzdem aller Ehren wert ist. Dass aber in Wirklichkeit rund 200 Personen, ein breites Bündnis von Menschen aller sozialer Schichten und unterschiedlichster politischer Couleur am sogenannten »Stauffenberg-Attentat« beteiligt waren, ist nur wenigen bewusst. Noch heute gilt der 20. Juli 1944 als »Aufstand des Gewissens« einer kleinen Gruppe konservativer Militärs, noch heute verstellt diese legendenhafte Überhöhung unseren Blick auf die Ereignisse und die gesellschaftliche Vielfalt der Verschwörung. Die Journalistin Ruth Hoffmann unternimmt eine umfassende und längst überfällige Dekonstruktion des Mythos »Stauffenberg-Attentat« und zeichnet nach, wie der 20. Juli seit Gründung der Bundesrepublik politisch instrumentalisiert wird: mal um sich gegen die DDR abzusetzen und kommunistische Widerständler zu diffamieren; mal um Politikern, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, eine Nähe zum Widerstand anzudichten; oder, wie neuerdings die AfD, um die eigene Demokratiefeindlichkeit mit einem angeblichen Widerstandsgeist in der Tradition Stauffenbergs zu kaschieren.
Das deutsche Alibi ist der profund recherchierte Beitrag zu einem schicksalhaften Datum, in dem sich bis heute das schwierige Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte spiegelt. Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis, den NDR Sachbuchpreis sowie den Sachbuchpreis der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.
Ruth Hoffmann, geboren 1973 in Hamburg, hat Ethnologie, Neuere Geschichte und Politik studiert und ist Absolventin der Henri Nannen-Journalistenschule. Von 2004 bis 2006 war sie Redakteurin beim Stern, seitdem arbeitet sie als freie Journalistin für verschiedene Medien, u.a. Geo, Stern, P.M. History, und Spiegel Geschichte. Sie ist Mitbegründerin des Journalistenverbunds Plan 17 und von :Freischreiber, dem Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten. 2012 erschien ihr Buch Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat über die Kinder hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
1. Friede mit den Tätern (1945–1952)1
Das große Verdrängen
»Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen«2, erklärte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hedler (DP) bei einer Rede im November 1949. »Ich persönlich bezweifle, dass die Vergasung das Richtige war«, fügte er lächelnd hinzu, was bei seinen Zuhörern im Gasthof Deutsches Haus bei Neumünster für allgemeine Heiterkeit sorgte.3
Die Bundesrepublik Deutschland war damals noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte eine Große Koalition mit der SPD abgelehnt und regierte stattdessen zusammen mit der FDP und der DP – der Deutschen Partei. Dass in beiden Fraktionen4 ehemalige Nationalsozialisten saßen, tat der Regierungsarbeit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung stießen rechtsnationale Ansichten damals nach wie vor auf Zustimmung: Allein 10 der 17 DP-Abgeordneten waren per Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Und mit Hans Globke hatte sich Adenauer sogar höchstpersönlich einen Mann als engsten Mitarbeiter ins Kanzleramt geholt, der maßgeblich an der Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt gewesen war – eine weitere Voraussetzung für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Die Verordnung, wonach jüdische Deutsche zur besseren Kenntlichmachung ab August 1938 die Vornamen Sara und Abraham führen mussten, entstammte ebenfalls Globkes Feder.5
Deutschland treffe »die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs«, tönte Hedler an jenem Novembertag, vier Jahre nach Kriegsende. »Schuld an unserem Elend tragen die Widerstandskämpfer.« An ihrem »Verrat« sei Deutschland zugrunde gegangen.6 Mit dieser Ansicht stand Hedler nicht allein da. Viele Deutsche sahen in den Akteuren des 20. Juli 1944 noch immer Verräter und machten sie mitverantwortlich für den verlorenen Krieg. Es war die zweite Dolchstoßlegende der deutschen Geschichte, und sie sollte sich noch bis weit in die 70er-Jahre halten.7
Im Januar 1950 musste sich Hedler für seine Äußerungen vor dem Landgericht Kiel verantworten. Die Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last, das Andenken der Widerstandskämpfer mit Verleumdungen verunglimpft und »Angehörige der jüdischen Rasse« (sic!) beleidigt zu haben und forderte zehn Monate Haft. Die Liste der Nebenkläger las sich wie eine Aufzählung der größten Namen im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Neben Überlebenden wie Gustav Dahrendorf und Hans Gisevius waren unter anderem die Angehörigen von Carl Goerdeler, Ernst von Harnack, Julius Leber, Henning von Tresckow, Adolf Reichwein, Friedrich Olbricht dabei.
Nach acht Verhandlungstagen sprachen die drei Richter, zwei davon ehemalige NSDAP-Parteigenossen, Hedler in allen Anklagepunkten frei. Eine jubelnde Menschenmenge erwartete den 50-Jährigen vor der Tür und geleitete ihn zu einer Gaststätte, wo er anschließend mit Parteikollegen und Gleichgesinnten seinen Sieg feierte.8 Der Freispruch war für Hedler auch deswegen ein Triumph, weil die Deutsche Partei ihn zuvor aus Angst um die Fortsetzung der Regierungsbeteiligung aus der Partei ausgeschlossen hatte. Ab sofort konnte es als juristisch legitimiert gelten, die Widerstandskämpfer des Verrats zu bezichtigen. Selbst unverhohlener Judenhass blieb ungesühnt.9
Die Empörung über das Urteil war groß, auch im Ausland. Jüdische Gemeinden äußerten ihr Entsetzen, Gewerkschafter versammelten sich zu Protestkundgebungen. In manchen Betrieben wurde gestreikt, etliche Ortsvereine der SPD forderten die Entlassung der Richter und eine Stellungnahme der Bundesregierung, weil das Urteil eine »nachträgliche Anerkennung der Verbrechen des Dritten Reiches« bedeute.10 Ein Großteil der Presse sah es ähnlich. Zugleich aber schlich sich eine Argumentationslinie in die vergangenheitspolitische Debatte, die für die nächsten Jahre typisch bleiben sollte: Man laufe Gefahr, im Eifer des Kampfes gegen den Nationalsozialismus »wieder mitten im Nationalsozialismus« zu landen, warnte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der eigentliche »tiefe Grund der Beunruhigung« sei, dass von einem Gericht verlangt werde, einen Mann zu verurteilen, »nur weil er politisch gefährliche Ideen habe«.
Auch Die Zeit verwies auf die Meinungsfreiheit und befand, die Justiz sei eben machtlos gegen einen Redner, der »erklärt, er könne keine Sympathie für die Juden empfinden« und »halte die Handlungsweise der Männer des 20. Juli für falsch«.11 Die Bundesregierung beließ es bei ein paar vagen Äußerungen. Justizminister Thomas Dehler (FDP) stellte sich sogar ausdrücklich vor die drei Richter, um die Unabhängigkeit der Justiz zu betonen.12
Am Tag der Urteilsverkündung brachte die SPD zwei Gesetzentwürfe ein: Das »Gesetz gegen die Feinde der Demokratie« sollte verhindern, dass im Namen der Meinungsfreiheit Verbrechen gerechtfertigt werden können, und sah unter anderem Haftstrafen für die Beleidigung von NS-Opfern und das Leugnen der »Verwerflichkeit des Völkermords oder der Rassenverfolgung« vor. Das »Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege« hätte sämtliche Urteile für nichtig erklärt, die auf politisch oder rassisch diskriminierenden NS-Gesetzen beruhten – also auch die Todesurteile des Volksgerichtshofs, denen Hunderte Frauen und Männer des Widerstands zum Opfer gefallen waren. Zugleich implizierte der Entwurf, dass der Widerstand gegen das »Dritte Reich« und den Krieg keinen Rechtsbruch darstellte.
Die Verabschiedung der beiden Gesetze wäre eine Chance gewesen, die erklärte antifaschistische Ausrichtung der Bundesrepublik festzuschreiben und sich unmissverständlich gegen nationalsozialistische Wiedergänger wie Hedler abzugrenzen. Eine Chance, das NS-Regime als Unrechtsstaat einzuordnen, die Urteile seiner Gerichtsbarkeit aufzuheben und den Widerstand zu legitimieren. Doch es kam nicht dazu: Nach mehreren hitzigen Debatten im Bundestag und anderthalb Jahren politischem Gezerre wurden die Entwürfe schließlich vom Rechtsausschuss begraben.13 Die politischen Schwerpunkte der jungen Republik lagen eben woanders, und das von Anfang an.
Schon in der konstituierenden Sitzung des ersten Bundestags am 7. September 1949 wurde offenbar, wie schwer es werden würde, bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, denn im Plenarsaal des Bundeshauses in Bonn waren die unterschiedlichsten Parteigänger versammelt: ehemalige Widerstandskämpfer, Soldaten und Nazis, Mitläufer, KZ-Häftlinge, Konservative und Kommunisten. Die einen wollten die Vergangenheit aufarbeiten, die anderen am liebsten vergessen, wieder andere sie in besserem Licht erscheinen lassen. Alterspräsident Paul Löbe (SPD) wurde mehrfach durch Zwischenrufe unterbrochen, als er in seiner Eröffnungsrede von einem »Riesenmaß von Schuld« sprach und daran erinnerte, dass die letzte frei gewählte Volksvertretung im März 1933 ihre eigene Abschaffung beschlossen und nur die Fraktion der Sozialdemokraten gegen das »Ermächtigungsgesetz« gestimmt hatte. »Auch von anderen Parteien sind Opfer gebracht worden; wir wollen keine Rechnungen aufmachen!«, lautete ein Einwurf von rechts.14
In einem zumindest war man sich einig und wusste sich dabei im Einklang mit den Wählerinnen und Wählern: Es sollte endlich Schluss sein mit der »Siegerjustiz« und dem als pauschal empfundenen Schuldvorwurf der Alliierten, Schluss mit der demütigenden Umerziehung und den politischen Säuberungen. Es war also nicht der demokratische Neuanfang, den sich viele ehemalige Regimegegner von der Gründung der Bundesrepublik erhofft hatten: Wichtiger als die Distanzierung von der Vergangenheit war die Integration ehemaliger Nationalsozialisten, insbesondere der 8,5 Millionen Parteimitglieder.15 Denn das Heer der ehemals Angepassten stellte die Mehrheit und verlangte den großen Schlussstrich. Keine Partei konnte es sich leisten, das zu ignorieren. Quer durch alle Fraktionen herrschte Einigkeit, dass mindestens die Entnazifizierungsmaßnahmen schnell ein Ende haben müssten.16
Adenauer schlug bei seiner Regierungserklärung zwei Wochen später denn auch ganz andere Töne an als Löbe und spendete Labsal für die geschundene deutsche Seele: Krieg und Nachkriegswirren hätten harte Prüfungen gebracht, weshalb man für manche Verfehlungen einfach Verständnis haben müsse. Die »wirklich Schuldigen« gehörten natürlich bestraft, die Unterscheidung zwischen »politisch Einwandfreien« und »Nichteinwandfreien« aber müsse »baldigst verschwinden«. Die Bundesregierung sei daher entschlossen, »Vergangenes vergangen sein zu lassen«. Zu den Opfern, namentlich den jüdischen, verlor er kein Wort.17
Das übernahm anschließend zwar Oppositionsführer Kurt Schumacher (SPD), bezeichnenderweise aber nahm auch er die Deutschen nicht direkt in Haftung: »Die Hitlerbarbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen Juden entehrt.« An den Folgen »werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben«.18 Selbst...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 2024 • 2. Weltkrieg • Adolf Hitler • AfD • Alice Weidel • Beatrix von Storch • Björn Höcke • Bombe • BRD • Bundesrepublik Deutschland • Claus Schenk Graf von Stauffenberg • DDR • Denazifizierung • eBooks • Gedenken • Geschichte • Geschwister Scholl • Helmuth James Graf von Moltke • Helmut Kohl • Jubiläum • Konservative • Kreisauer Kreis • Kritik • Neuerscheinung • NS-Widerstand • Putsch • Wahrheit • Weiße Rose • Weltkrieg • Widerstand • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-30676-0 / 3641306760 |
ISBN-13 | 978-3-641-30676-2 / 9783641306762 |
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