Leute von früher -  Kristin Höller

Leute von früher (eBook)

Roman | Eine Liebe auf der Insel Strand im nordfriesischen Wattenmeer
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
317 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77895-1 (ISBN)
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»Ein zärtlich-böser Roman über das Jungsein, über die Faszination des Alten und unsere Hilflosigkeit, wenn die Geschichte uns tatsächlich einholt.« Antje Rávik Strubel

Marlene hat gerade ihr Studium beendet und fängt als Verkäuferin in einem Erlebnisdorf an, in dem alles so ist wie um 1900 - Brauchtum, Handwerk, Kleidung. Die aufwändige Inszenierung wird von zahlreichen Saisonkräften aufrechterhalten, die jenseits der »Kostümgrenze« in einfachen Baracken wohnen. Bald lernt Marlene Janne kennen, die hier aufgewachsen ist, und fühlt sich ungewohnt stark zu ihr hingezogen. Doch nicht nur die Gefühle für sie, auch die Insel selbst scheint Marlenes Wahrnehmung zu verändern. Im Watt erinnern die Überreste der versunkenen Stadt Rungholt ständig daran, welches Unheil durch den steigenden Meeresspiegel droht. Je näher sie und Janne sich kommen, desto deutlicher spürt Marlene, dass Janne ein Geheimnis hat, das weit in die Vergangenheit der Insel reicht. Und sie ist nicht die Einzige. Immer öfter beobachtet Marlene merkwürdige Vorfälle, bis sie schließlich einen Zusammenhang erahnt.

Strand war eine Insel in der Nordsee, von der heute nur Pellworm und Nordstrand übrig sind. Leute von früher erzählt vom Bewahren und Verschwinden, von Abschied und Neubeginn. Von alten Legenden und moderner Lohnarbeit, vom Verliebtsein und von der Suche nach einem Platz im Leben. Humorvoll, klug und mit großer Wärme.



Kristin Ho?ller, geboren 1996, aufgewachsen in Bonn. Sie studierte bis 2019 Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaften in Dresden. Freie Mitarbeit bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften. 2016 Finalistin des 24. Open Mike, 2017 Teilnehmerin der Autorenwerkstatt Prosa des LCB. 2018 Preisträgerin des Schweizer Literaturfestivals Literaare. Bis 2019 Mitveranstalterin von OstKap, der Dresdner Lesereihe für junge Literatur. Sie schreibt Hörspiele, Theaterstücke und Romane, für die sie mit mehreren Stipendien und Preisen ausgezeichnet wurde, u. a. mit dem Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium 2019 für ihren Debütroman <em>Schöner als überall</em>. Kristin Höller ist Mitveranstalterin der queeren Lesereihe und Karaokeshow SMASH und lebt in Leipzig.

1


Es war ein Wetter ohne Jahreszeit: vierzehn Grad und ein schwerer Himmel. Marlene betrat die Fähre unbeeindruckt von den Fangnetzen, den dekorativen Tauen an den Holzbohlen. Es war alles da, die sprudelnde Gischt, die keifenden Möwen. Husum am Horizont, bald nur ein Strich auf dem Wasser.

Sie war bereits morgens angekommen, aber sie hatte warten müssen, bis die Flut zurück war, hatte auf einer Mauer gesessen und sich schließlich ein Brötchen am Hafen gekauft. Es faszinierte sie bis heute, dass der Preis für Krabben täglich schwankte; als sie noch zur Schule ging, war ihr so der Aktienmarkt erklärt worden.

Etwa fünfzig Menschen gingen mit ihr an Bord. Marlene hatte nur eine Windjacke und einen Rucksack bei sich. Die Fähre sah innen aus wie ein alter Zug, vertäfelte Wände, blankgescheuerte Bänke, sogar Vorhänge an den Fenstern. Eine verstaubte Tafel pries Grog an, aber nichts deutete darauf hin, dass er tatsächlich ausgeschenkt wurde. Es war, als hielte alles hier die Luft an, oder vielmehr: als würde vorher nochmal Luft geholt.

Marlene schaute aufs Wasser, in der Erwartung, dass es etwas in ihr auslösen würde. Aber das Meer glich dem Himmel darüber, bloß auf den Kopf gestellt, und nach zehn Minuten zückte Marlene ihr Handy, um die letzten Nachrichten durchzusehen. Krabben sehen aus als wär ihnen was unangenehm, hatte sie Paul vorhin geschrieben. Haha, hatte er bloß geantwortet.

Es war ihr nicht schwergefallen, Hamburg zu verlassen. Ihre Untermieterin war eine höfliche Kommunikationswissenschaftlerin mit gepflegten Händen. Marlene selbst hatte fast neun Jahre studiert und am Tag ihres Abschlusses einen Bräter an die Wand geworfen, unzählige Splitter wie Kunstschnee auf den Küchenfliesen.

Die Überfahrt dauerte dreißig Minuten. Nach etwa zwanzig Minuten ging sie wie alle anderen wieder nach draußen und stellte sich neben die geparkten Autos an die Reling. Als der grüne Fleck vor ihnen an Kontur gewann, erinnerte sie sich, gelesen zu haben, dass es keinen Sandstrand gab; dennoch war sie kurz enttäuscht. Die Insel sah aus wie ein riesiger Golfplatz. Perfekt und saftig bis zu den Rändern, Schafe auf den Deichen, ein paar wippende Boote. Eine Landschaft, die immer in der Sonne lag, wenn man sie sich vorstellte. Der Wind war so stark, dass er ihr die Haare am Hinterkopf scheitelte. Die Fähre erreichte den Anlieger und dockte an, die Menschen bildeten eine lose, unaufdringliche Schlange. Marlene schulterte ihren Rucksack und reihte sich ein.

Als sie Strand zum ersten Mal betrat, zwickte ihr Unterleib, und sie spürte, dass sie zu bluten begann. Sie hatte keine starken Schmerzen, bemerkte kaum Stimmungsschwankungen, ab und zu vergaß sie sogar, dass sie einen Zyklus hatte. Ihr Körper funktionierte und war unauffällig, aber so hatte sie nie gelernt, in sich hineinzuhorchen. In der Jackentasche fand sie die Serviette, in die das Krabbenbrötchen eingewickelt gewesen war, und schob sie sich im Windschatten eines Kassenhäuschens in die Hose. Eine Handvoll Autos fuhr an Land, auf die Straße, die vom Hafen scharf links abbog und ins Hinterland zu führen schien. Ein Teil der Fahrgäste schlenderte ziellos herum, im Begriff, die Umgebung zu erkunden; manche schoben Fahrräder neben sich her. Die meisten aber hatten mehr Gepäck und gingen als lockere Gruppe in Richtung des Dorfzentrums. Marlene folgte ihnen. In der letzten E-Mail hatte gestanden, sie solle sich in der Räucherei melden.

Sie betrachtete das Fachwerk und die Strohdächer links und rechts des Weges. Alles wirkte unnatürlich geordnet, als würde jeder Kopfstein poliert, als wüchsen die knospenden Sträucher unter strengster Kontrolle, und es würde sie nicht wundern, wenn sich hinter den Haustüren bloß weites, flaches Land befände. Es lag eine Stille über dem Ort, die sie schaudern ließ und zugleich alles in eine Schläfrigkeit kleidete. Es war, als beträte sie ein Gemälde.

Die Räucherei fand sie unweit vom Hafen, der Schornstein grau wie der Himmel, grau wie die Nordsee. Die Schlange vor der Tür war etwas energischer als gerade beim Ausstieg. Neben dem Gebäude stand ein Mann inmitten von Fahrrädern, die er verteilte. Die Räder waren alt und behäbig, schwarz lackiert mit weißen Reifen.

Marlene war die Letzte. Als sie den Innenraum betrat, musste sie den Kopf einziehen. Im Hintergrund erahnte sie eine unbeleuchtete Frischetheke, der Rest lag im Dämmerlicht.

»Ihr Name, bitte.« Die Frau vor ihr sah so vital aus, dass sich unmöglich ihr Alter schätzen ließ.

»Marlene Rübel.«

»Ihr Geburtstag?«

»Dritter April neunzehnhundertfünfundneunzig.«

Die Frau stockte. »Das ist ja heute«, sagte sie. Und dann: »Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke«, sagte Marlene. Ihre Mutter hatte ihr hundert Euro und einen Marmorkuchen per Post geschickt, beides trug sie bei sich. Paul wusste nicht, wann sie Geburtstag hatte.

»Sie kommen als qualifizierte Kraft?«

»Ich habe Medienpraxis studiert.«

»Ich würde Service und Verkauf ankreuzen, wenn das für Sie in Ordnung ist?«

»Klar«, sagte Marlene ergeben.

Draußen teilte der Mann ihr das vorletzte Rad zu. Die Frau hatte ihr mit vagen Händen den Weg erklärt. Es konnte nicht so schwer sein: Es gab einen Dorfkern, es gab ein paar Häuser drum herum und dahinter eine blassgrüne Ebene, die vielleicht Weide, vielleicht Ackerland war. Marlene hatte das letzte Jahrzehnt in einer Großstadt verbracht und war es gewohnt, auf Häuserfronten zu schauen. Weitsicht kannte sie nur von Zugfahrten oder Kurztrips ins Umland.

Wie beschrieben erreichte sie einen Zaun und ein daran angebrachtes Schild mit dem Hinweis auf das Naturschutzgebiet. Das Gatter stand noch offen, als hätten die Voranfahrenden es für sie aufgelassen, wissend, dass sie sich bald kennen würden. Marlene beschleunigte und bremste gleich wieder, als sie die Barackensiedlung sah. Vier schmutzige Streifen in der Landschaft, gleichförmig, farblos, vormals hellblau. Zwanzig Türen in einer Reihe, dazwischen ein paar Fenster, davor ein schmaler Laubengang, die Bretter des Bodens marode und splittrig. In der zweiten Reihe von rechts schob Marlene ihr Rad bis zur Nummer fünf.

Der Raum war unverschlossen, Marlene betrat ihn ohne Erwartungen. Unter dem einzigen Fenster stand ein Bett, an der Wand ein kleiner Tisch mit Stuhl, ein halbhoher Kühlschrank, daneben ein Spind mit Kleiderbügeln, die schaukelten, als sie ihn öffnete. In der Ecke eine beigefarbene Nasszelle mit einem Waschbecken, an der Tür ein Blatt zum Verhalten im Brandfall. Marlene stellte den Rucksack ab, öffnete die Windjacke und dachte an die Krabbenserviette. Sie trat hinaus auf die Veranda, aber nichts ließ erkennen, wo es hier Toiletten gab oder eine Dusche, eine Küche. Hinter den Baracken erhob sich der Deich.

Die Tür zu Zimmer sechs stand offen. »Hallo«, sagte Marlene ins Halbdunkel.

»Hallo«, sagte ein Mädchen, bereits barfuß auf dem Bett.

»Ich bin Marlene«, sagte Marlene, als erklärte das ihr Erscheinen.

»Ich bin Dascha«, sagte das Mädchen.

Marlene fragte nach den Toiletten. Dascha stand auf und trat zu ihr in den Türrahmen. Sie hatte eine Körperlichkeit an sich, die Marlene kurz überwältigte – ein dunkles Muttermal auf der Wange, die Augen blaue Knöpfe, die Lippen glänzend und rosa. Ihre Füße waren winzig, Zehen und Fingerkuppen kleine Knubbel, und alles an ihr war rund und real.

Als Marlene das Ende der Häuserreihe erreichte, erkannte sie, dass es vier Anbauten gab, je mit Waschraum und Küche. Der Boden der Toiletten war sandig, und es hallte, als sie pinkelte. Es war wärmer und windstiller als in den Schlafräumen, fast wie in einer Strandhütte, die noch die Hitze des Tages in sich trug.

Zurück in ihrem Zimmer wickelte sie den Kuchen aus der Frischhaltefolie. In anderen Familien bekam man zur Geburt einen Obstbaum oder ein Sparbuch, in ihrer Familie bekam man einen Kuchen zugeteilt, der lebenslang zu den Geburtstagen gebacken wurde. Ihre Großmutter buk ihrer Mutter einen Nusskranz, ihre Mutter buk der Großmutter einen gedeckten Apfelkuchen, dem Vater eine Himbeertorte und für Marlene eben Marmorkuchen. Zu allen gab es ein bestimmtes Rezept, von dem unter keinen Umständen abgewichen werden durfte.

...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 22 Bahnen • Caroline Wahl • Dörte Hansen • Flut • Freundschaft • Geschenk Freundin • Gig economy • Hallig • Hochwasser • Husum • Klimawandel • lgbtqia+ • Liebe • Naturkatastrophe • Nordsee • Nordseeküste • prekäre Arbeit • Queer • Rungholt-Legende • Schöner als überall • Sexualität • Sexuelle Identität • Sommerlektüre • Sommerliebe • ST 5400 • ST5400 • Strandlektüre • Strumflut • suhrkamp taschenbuch 5400 • Tourismus • Urlaub • Urlaubslektüre • verliebtsein • Watt • Wattenmeer • Zur See
ISBN-10 3-518-77895-1 / 3518778951
ISBN-13 978-3-518-77895-1 / 9783518778951
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