Helenes Stimme (eBook)

Roman | Wie Helene Lange zur Pionierin der Emanzipation wurde
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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01500-5 (ISBN)

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Helenes Stimme -  Sanne Jellings
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Ein bewegender Roman über die junge Helene Lange, eine der Mütter der deutschen Emanzipation, die das Bildungswesen für Mädchen reformierte Eningen bei Reutlingen, Sommer 1864: Die 16-jährige Waise Helene Lange wird für ihr Pensionatsjahr zu einer Pfarrersfamilie am Fuß der Schwäbischen Alb geschickt. Pfarrer Eifert gibt sich weltoffen, im Pfarrhaus diskutieren gebildete Gäste regelmäßig über Politik, Literatur und Philosophie. Ein Gesetz im Hause der Eiferts jedoch empört Helene: Frauen haben in diesen Runden zu schweigen.  Helene freundet sich mit der empfindsamen Pfarrerstochter Marie an. Dass einer Frau ein Dasein jenseits von Familie und Haushalt offenstehen könnte, ist für diese unvorstellbar, doch durch die Gespräche mit Helene wächst auch in ihr die Sehnsucht nach einem selbstbestimmteren Leben. An den Wochenenden unternehmen Marie und Helene viel mit Maries älterem Bruder Max und dessen Tübinger Studienfreund Ludwig, der Marie ermutigt, sich zu bilden. Ludwig und Marie kommen sich rasch näher - bis es zu einem doppelten Verrat kommt, der die Leben der vier für immer verändert ...

Sanne Jellings wurde in Süddeutschland geboren und hat während des Studiums ihre Liebe zu Isak Dinesen alias Karen Blixen-Finecke entdeckt. Mit Anfang zwanzig besuchte sie erstmals deren Geburtshaus  Rungstedlund am Oresund. Seitdem ist der alte Hof mit dem großen Park für sie ein ganz besonderer Ort. Sanne Jellings arbeitet als Lektorin und Übersetzerin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Sanne Jellings wurde in Süddeutschland geboren und hat während des Studiums ihre Liebe zu Isak Dinesen alias Karen Blixen-Finecke entdeckt. Mit Anfang zwanzig besuchte sie erstmals deren Geburtshaus  Rungstedlund am Oresund. Seitdem ist der alte Hof mit dem großen Park für sie ein ganz besonderer Ort. Sanne Jellings arbeitet als Lektorin und Übersetzerin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Marie


Eningen unter Achalm
Sommer 1864

«Mariele!» Die dröhnende Stimme des Vaters drang vom Flur in die Küche. Hastig stellte Marie den Korb mit den frisch eingesammelten Eiern auf den Holztisch in der Mitte des Raumes und lief zu ihm hinaus.

«Der Rall wartet, bist du fertig?»

«Einen Moment!», rief sie, eilte an ihm vorbei die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schnappte sich ihren Sonntagshut, der auf dem Stuhl bereitlag. Dann strich sie hastig noch einmal die Decke auf dem zweiten Bett im Zimmer glatt. Sie hatte es mit einer hübschen, rot-weiß karierten Bettwäsche bezogen und dem neuen Mädchen noch ein besticktes Kräutersäckchen aufs Kissen gelegt. Ab heute würde sie ihr Reich teilen müssen. Es waren bereits zwei norddeutsche Pensionatstöchter im Pfarrhaus, das hätte wohl auch gereicht, doch heute würde eine dritte ankommen, die nun wegen Platzmangels bei Marie untergebracht wurde. Sie sollte sich willkommen fühlen. Marie schätzte zwar das Alleinsein, doch Vater hielt es für besser, wenn Mädchen nicht brüteten, sie sollten unter Leuten und fröhlich sein und sich nützlich machen. Marie bemühte sich stets um die geforderte Heiterkeit, doch oft erregte sie mit ihrem Ernst Anstoß. Es fehlte ihr vielleicht an Dankbarkeit.

Vater hatte diese Helene eigentlich erst im nächsten Herbst erwartet, aber das Mädchen hatte im Januar plötzlich ihren Vater verloren. Nun war sie Waise, mit erst sechzehn Jahren. Natürlich hatten die Eltern da nicht das Herz gehabt, sie zu vertrösten. Zu Gästen sagte man nicht Nein.

Bauer Rall würde Vater und sie eigens mit dem Gespann zum Bahnhof kutschieren. Mutter hatte Maries Widerwillen, ihr Zimmer zu teilen, genau gespürt und ihre Fügsamkeit belohnt, indem sie Vater auf die Idee gebracht hatte, die Tochter mit nach Reutlingen zu nehmen. So kam Marie um das endlose Kartoffelpellen herum, das heute Nachmittag anstand.

Marie nahm die Schürze ab und band sich den Hut im Laufen zu. Vater stand unten im Treppenflur und schaute ihr durch seine blitzenden Brillengläser entgegen. Sein grau durchsetzter dunkler Bart war schon wieder nicht gestutzt und sah ein wenig ungezähmt aus – gestern Abend hatte er sich Mutters Schere durch einen Gang ins Wirtshaus entzogen. Von Menschen konnte er gar nicht genug bekommen.

Marie nahm seinen Arm, zusammen traten sie vor die Tür und bestiegen Ralls Wagen. Auf der holprigen Fahrt von Eningen hinunter nach Reutlingen spürte Marie, wie ihre Aufregung wuchs. Sie blickte nach rechts die Achalm hinauf, an deren Hängen die Weingärten und Obstwiesen in der Sonne lagen. Wenn Max am Wochenende aus Tübingen nach Haus käme, würden alle jungen Leute im Haus mit ihren Körben in die Obstgärten ziehen, das würde eine lustige Partie werden. Oder war das nicht angemessen, wenn die Neue erst angekommen war? Eine Pensionatstochter mit einer solch tragischen Geschichte hatten sie noch nie gehabt.

«Woher kanntest du eigentlich Fräulein Langes Vater?», rief sie nach vorn zum Kutschbock, wo Vater neben Bauer Rall Platz genommen hatte, um zu plaudern.

Er drehte sich kurz zu ihr um. «Überhaupt nicht. Mein Freund Rieken aus Rodenkirchen hat uns der Familie empfohlen, du kennst ihn ja, er hat uns erst im Herbst besucht. Der Vater des Fräuleins hatte sich wohl bezüglich der Ausbildung seiner Tochter nach geeigneten Häusern umgehört.»

«Und Pastor Rieken hat der Familie geraten, sie so weit wegzuschicken?» Oh, hatte das geklungen, als zöge sie die Entscheidung des Pastors in Zweifel? Das würde sie sich niemals anmaßen. Eigentlich hatte sie doch nur sagen wollen, dass ein vertrautes Zuhause möglicherweise der tröstlichere Ort war, wenn man keine Eltern mehr hatte. Sie selbst jedenfalls hätte sich gefürchtet, als Waise allein in die Welt hinausgeschickt zu werden.

«Der Herr Pfarrer ist halt im ganzen Land eine Berühmtheit, sogar im Ausland!», mischte sich Bauer Rall ein.

«Die Ehre gebührt meiner Frau», widersprach der Vater lächelnd. «Sie bildet ja die Mädchen hauptsächlich aus. Sie ist die gute Seele in unserem gesegneten Haus.»

Marie lächelte. Ein gesegnetes Haus, das waren sie, so hörte sie es immer wieder. Deswegen konnten sie von ihrem Glück an andere abgeben, die davon weniger hatten. «Meinst du, sie leidet sehr unter dem Tod ihres Vaters? Es ist ja alles noch so frisch.»

«Traurig wird sie schon sein», antwortete der Vater ernst. «Immerhin hat sie auch die Mutter schon früh verloren. Wir werden ihr den nötigen Halt geben.»

Der Weg führte nun recht steil bergab, Marie ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Es war ihr durchaus lästig, für so ein armes Ding zuständig zu sein. Sofort rief sie sich zur Ordnung. So durfte sie nicht denken. Das war keine Nächstenliebe. Besser, sie überlegte sich, wie sich das Mädchen aufheitern ließ.

Plötzlich verlangsamte sich die Fahrt, und der Wagen hielt an. Auf der Allee stand breitbeinig der Landhändler Kittel und grinste über beide Ohren.

«Da sieh einer an, der Kittel», sagte Vater, und auch Rall rief: «Seht, seht!»

«Du kommst wohl zum Eninger Congress und kaufst neue Waren! Du bist seit drei Monaten nicht mehr daheim gewesen. Wo warst du denn diesmal?»

«Im Elsass, Herr Pfarrer.» Stolz deutete der Mann auf seine aus Korb geflochtene Krätze. Er lallte ein wenig, offenbar hatte er so früh am Tag schon dem Wein zugesprochen. «Die Spitzen und Borten aus Reutlingen haben sie mir aus den Händen gerissen, das sag ich Ihnen. Bald kann ich mir einen Wagen leisten wie du, Rall.»

Vater wiegte skeptisch den Kopf. «So? Na, deine Frau wird sich freuen, dass du wieder da bist. Du weißt schon, dass du einen neuen Sohn hast, oder?»

Kittels Gesicht leuchtete auf. «Einen Sohn! Dann hat es mit dem Weiberhaushalt ein Ende, und es hat außer dem Rudolf noch jemand das Sagen, solange ich weg bin.»

«Recht so.» Vater nickte. «Was weißt du Neues, erzähl!»

Und das tat der Kittel, weitschweifiger, als es Marie lieb war. Er berichtete von den Zuständen in Lothringen, und der Vater erkundigte sich insbesondere nach Neuigkeiten aus dem Schwarzwald, wo er in jungen Jahren als Pfarrer eingesetzt gewesen war.

Als sie endlich weiterfuhren, hatten sie Verspätung. Im Reutlinger Bahnhof stand der Zug aus Stuttgart, mit dem Helene Lange angekommen sein musste, schon auf dem Gleis.

«Sapperlot, jetzt aber zackig!», rief der Vater, sprang vom Wagen und lief los. Marie eilte mit fliegenden Röcken hinter ihm her. Ein Strom von Menschen kam ihnen entgegen, und sie kämpften sich mühsam voran. Der Bahnsteig, auf den sie schließlich traten, war bereits leer. Der Vater machte noch ein paar Schritte und drehte sich dann suchend um die eigene Achse. Schwer atmend hielt sich Marie an seinem Arm fest. «Oh nein, Vater», sagte sie verzweifelt.

«Guten Tag», erklang da eine klare, ruhige Stimme in ihrem Rücken. Marie wusste sofort, dass sie es sein musste. Niemand sagte hierzulande «Guten Tag», das klang viel zu hochdeutsch, viel zu förmlich. Man sagte «Grüß Gott». Sie drehten sich um, und da stand ein blondes, hochgewachsenes Mädchen mit blau-weiß gestreiftem Kleid und Strohhut. Den Staubmantel hatte sie sich über den Arm gelegt. Sie sah überhaupt nicht traurig, verstört oder ängstlich aus, sondern hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. Ruhig trat sie auf Vater zu und streckte ihm die Hand hin. «Herr Eifert? Ich bin Helene Lange.»

Hinter ihr, das bemerkte Marie erst jetzt, stand ein bärtiger junger Mann mit zwei Koffern in der Hand. Er machte keine Anstalten, sich vorzustellen, und auch Helene schien ihn völlig vergessen zu haben.

«Herzlich willkommen hier bei uns in Schwaben, Fräulein Lange!», rief der Vater, ergriff ihre Hand und schüttelte sie herzhaft. «Haben Sie es geschafft!»

Helene Lange sah ihn verblüfft an. «Ich musste gar nicht viel dazu beitragen. Die Eisenbahn ist ganz von alleine gefahren.»

Marie kicherte in sich hinein. Derlei kam mit den norddeutschen Pensionatstöchtern öfter vor. Die Mädchen nahmen den schwäbischen Humor einfach zu wörtlich. Helenes Blick wanderte zu Marie. Ihre eisblauen Augen schauten sie fragend, aber freundlich an. Marie fasste sich ein Herz und streckte ebenfalls die Hand aus. «Ich bin Marie Eifert. Wir beide teilen uns ein Zimmer.»

Das schien die Neue ebenso wenig zu begeistern wie Marie selbst. Ein wenig betreten schüttelte sie ihr die Hand.

«Wir sind im gleichen Alter, nicht?», fragte sie offenbar in dem Versuch, einen erfreulichen Aspekt daran zu finden.

«Ich bin fast zwei Jahre älter, genau genommen», entgegnete Marie. «Aber das ist ja nicht viel.»

Natürlich war es viel. Mit sechzehn – herrje, da war Marie noch so schüchtern gewesen, sie hatte mit Fremden kaum gesprochen. Niemals hätte sie sich getraut, alleine zu verreisen und bei Leuten zu wohnen, mit denen sie nicht verwandt war. Doch Helene wirkte viel älter, als sie war. Das lag vielleicht an ihrer hochgewachsenen Gestalt – sie überragte Marie um einen halben Kopf –, aber auch an den klaren, blassen, ein wenig herben Zügen und ihrem gefassten Auftreten.

«Bestimmt werden wir uns gut verstehen», fügte Marie noch an, es war freundlich gemeint, klang aber auch in ihren eigenen Ohren gönnerhaft.

Helene lächelte gezwungen und nickte ihr zu, und Marie wurde ganz heiß. Sie hatte nicht den richtigen Ton getroffen.

«Dann wollen wir mal …», sagte der Vater und ging voraus zu Ralls Gespann. Die Mädchen folgten ihm, und hinter ihnen her trottete der junge Mann mit den Koffern. An der Kutsche angekommen, drehte Helene sich zum ihm um,...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte bekannte Frauen • Berühmte Frauen • Biografischer Roman • Chancengleichheit • Emanzipation • Emanzipation der Frau • Emanzipationsgeschichte • Feminismus • Frauenbewegung • Frauenbildung • Frauenrechte • Freundschaft • Geschenke für Frauen • geschenke für freundin • Helene Lange • Historischer Roman • Liebe • mama geschenk • Muttertag • Recht auf Bildung • Reutlingen • Roman für Frauen • Roman über Frauen • Schule • Schwäbische Alb • Selbstbestimmung • Starke Frauen • Tübingen • unerzähltes Frauenleben
ISBN-10 3-644-01500-7 / 3644015007
ISBN-13 978-3-644-01500-5 / 9783644015005
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