Der Zirkus von Girifalco (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
528 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32148-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Zirkus von Girifalco -  Domenico Dara
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Ein Dorffest in Italien, ein Zirkus und die Magie der Wünsche. Ein poetischer, märchenhafter Roman, der von Wünschen und Träumen erzählt und davon, dass man ihnen manchmal auf ganz unverhofften Wegen näherkommt. Hochsommer in Süditalien: Im beschaulichen Girifalco steht das Fest des Dorfheiligen San Rocco an, Höhepunkt des Jahres, und ein feuchtfröhliches Familienfest. Doch in diesem Jahr verirrt sich ein Zirkus in die Stadt, und seine Anwesenheit scheint einen wundersamen Einfluss auf die Dorfbewohner zu nehmen. Im Dörfchen Girifalco sind Alt und Jung in heller Aufregung, die Weggegangenen kehren für ein paar Tage zurück, um gemeinsam mit den dagebliebenen Familien zu essen, zu trinken und das alljährliche Fest zu Ehren des Patronatsheiligen San Rocco zu feiern. Doch inmitten der Dorfgemeinschaft gibt es einige, die mit ihrem Schicksal hadern: Da ist z.B. Archidemu, ein Menschen- und Sternenbeobachter, der es nie verwunden hat, dass sein kleiner Bruder vor Jahren unter seiner Aufsicht verschwunden und seitdem wie vom Erdboden verschluckt ist. Oder die verbitterte Mararosa, der in ihrer Jugend der ihr zugedachte Ehemann abhanden gekommen ist und die ihren Mitmenschen - allen voran der Rivalin Rorò - fortan nur das Schlechteste wünscht. Oder Don Venanziu, offiziell virtuoser Schneider von Girifalco, inoffiziell virtuoser Liebhaber der Frauen des Dorfes, der erkennen muss, dass auch seine Virilität endlich ist. Doch als sich ein mysteriöser Zirkus nach Girifalco verirrt, kommt Bewegung in ihr Leben und für unmöglich gehaltene Hoffnungen scheinen sich plötzlich erfüllen zu können. 

Domenico Dara, geboren 1971 in Catanzaro, Kalabrien, aufgewachsen in Girifalco. Sein Debütroman »Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall«  und »Der Zirkus von Girifalco« sind in Italien von Lesern und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen worden. Domenico Dara war damit nominiert für den renommierten Italo-Calvino-Preis und hat zahlreiche weitere Preise gewonnen, u. a. den Premio Palmi, Premio Viadana und die Debütpreise des Premio Corrado Alvaro und des Premio Città di Como.

Domenico Dara, geboren 1971 in Catanzaro, Kalabrien, aufgewachsen in Girifalco. Sein Debütroman »Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall«  und »Der Zirkus von Girifalco« sind in Italien von Lesern und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen worden. Domenico Dara war damit nominiert für den renommierten Italo-Calvino-Preis und hat zahlreiche weitere Preise gewonnen, u. a. den Premio Palmi, Premio Viadana und die Debütpreise des Premio Corrado Alvaro und des Premio Città di Como. Anja Mehrmann, geboren 1965, studierte Romanistik in Osnabrück. Dort lebt sie auch heute und übersetzt aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.

1 Der Verrückte


Es war ein sehr heißer Tag, und die Luft dampfte wie Zeppole, die aus dem siedenden Öl geholt werden.

Erst kürzlich hatte Lulù welche gekostet. Er war von der Piazza Cannaletta zurückgekehrt und hatte einen Duft wahrgenommen, der ihn an das Dorf erinnerte, in dem er geboren und aufgewachsen war. Darum schaute er zu Rosuzza Stranìaris Fenster hinein, und auf dem Tisch sah er Zeppole in einer Reihe liegen, bereit, in kochend heißes Öl getaucht zu werden. Die Nachbarin packte ihm ein Stück Gebäck in Zeitungspapier ein, und da der Junge Geburtstag hatte, gab sie ihm außerdem ein Glas Limonade. Lulù freute sich wie eine junge Braut und leckte sogar das öldurchtränkte Papier ab, wobei ihn Caracantulu beobachtete. Und da auf der Seite eine Schauspielerin im Badeanzug abgebildet war, ging dieser Schuft einfach los und verbreitete schlimme Gerüchte über Lulù, der angeblich ein Perverser war und früher oder später nicht mehr Bilder in der Zeitung, sondern Frauen aus Fleisch und Blut ablecken würde, vielleicht sogar deine Mutter oder deine Schwester, wer weiß.

Ohne etwas von dem Netz obszöner Bosheiten zu ahnen, das gerade geknüpft wurde, kehrte Lulù zu seiner Pritsche in Halle C der Nervenheilanstalt von Girifalco zurück.

Luciano Segareddu, von allen Lulù genannt, wurde an einem 23. April in Brancaleone als rechtmäßiger Sohn von Vrasciò und Pietrina Spordigna und als uneheliches Kind Anankes und Achlys’ geboren.

Lulùs vom Schicksal gebeutelter Vater besaß nicht einmal genug Geld, um sich einen Sack Weizen zu kaufen, und seine unglückselige Frau, die die Sonne verfluchte, weil die ihr die leeren Truhen und die Löcher in den Strümpfen zeigte, musste sich abmühen, um ihre armen Kinder zu ernähren. Gaetanu, der älteste Sohn, hatte wenigstens Arbeit als Tagelöhner, Lucianu hingegen war ein Problem, ein seltsamer, stotternder kleiner Junge, ein Trottel, wie ihn der Vater zu nennen pflegte, ehe er ihm die tägliche Ohrfeige verpasste.

In der Schule hinkte Luciano hinterher wie ein lahmer Hund. Ihm wollte einfach nicht in den Kopf, dass es auf der Welt Zahlen und Buchstaben gibt, Zeichen, die ihm so gleichgültig waren wie die Fliegen auf dem Fell eines Ziegenbocks. Was in Lulùs Kopf hineinging, tropfte gleich wieder heraus, so wie Wasser aus einem Brotkorb. Alles, nur die Liebe zu seiner Mutter und zur Musik nicht, was im Grunde aber ein und dasselbe war.

Jeden Donnerstagmorgen setzte sich Pietrina Spordigna den Korb mit Zwiebeln, Knoblauchkränzen und Oreganosträußchen auf den Kopf und machte sich mit Lulù auf den Weg zum Markt. Aus dem Haus des Lehrers Malfarà drangen die Töne seines Plattenspielers. Hoffen wir, dass er heute wieder diese schöne Musik spielt, flüsterte Pietrina ihrem Sohn zu, und wenn es die richtigen Klänge waren, merkte der Kleine es daran, dass màmmasas Gesicht zu leuchten begann wie eine große Kerze. Sie beschleunigte den Schritt, und kaum waren sie unter dem Fenster angekommen, befreite sie sich von dem Lastenkranz auf ihrem Kopf, legte ihn am Brunnen gegenüber ab und genoss die Musik.

In solchen Augenblicken lebte sie auf. Ihr verhangener Blick wurde klar wie Kristall, sie befeuchtete die ausgedörrten Lippen, und ihre Wangen und die von feinen Fältchen durchzogene Stirn glätteten sich, als wäre eine unsichtbare Feile über sie hinweggegangen.

»Hör nur, Lulù, hör zu mit den Ohren und dem Herzen, denn wenn der Herrgott wieder auf die Erde käme, würde er sich mit dieser Musik ankündigen.«

Also konzentrierte sich der Junge, schloss die Augen, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte, und dachte, dass manche Wunder nur im Dunkeln geschehen können. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete er sie und sah, dass sie glücklich war, denn die Klänge machten mit ihrem Gesicht dasselbe wie Hände mit einem Mandelteig: Jede Note ergab eine Rundung, eine Falte, ein Lächeln, und so verwandelte sich Pietrina Spordignas ausdrucksloses, wächsernes Gesicht an diesem Ort und in diesem Moment unter den verblüfften Blicken ihres Sohnes in ein Notenblatt, auf dem Runzeln und Liniensysteme Kindheit spielten. Durch das Glück, das sie seiner Mutter verschaffte, lernte Lulù, die Musik zu lieben.

»Wenn du wüsstest, Lulù, wie es war, als ich das zum ersten Mal gehört habe! Ich war ein Kind, noch jünger als du jetzt, und zum ersten Mal kam mir die Welt schön vor, ich verstand auf einmal, was die Leute meinen, wenn sie vom Paradies sprechen. Vieni ccà, komm her, lass dich umarmen.«

Und Lulù verkroch sich in ihre Arme, die nach Wiege und Schlaflied rochen, und für kurze Zeit durfte auch er auf dieser fehlerhaften Welt ein Stückchen Vollkommenheit kosten.

Als die Musik zu Ende war, stand màmmasa auf, setzte sich den Korb wieder auf den Kopf und eilte weiter zum Markt. Bevor sie aufs Land zurückkehrten, hinterließen sie jedes Mal eine Blume bei der Madonnenstatue, mach das immer, Luciano mio, damit das Leben dich behütet.

Lulù ließ seine Mama nie allein. Er heftete sich an ihre Fersen wie das Schicksal, vor allem spätabends im Frühling, wenn Pietrina unter der Zibibbolaube Platz nahm und zusah, wie die Dunkelheit von der Welt Besitz ergriff, weil sich womöglich auch in dieser Wachablösung des Universums eine Art Musik verbarg.

»Lulù«, flüsterte sie manchmal, »wie schön es ist, wenn die Welt sich ausschaltet und alles so schwarz wird wie das Innere eines Heizkessels. Im Dunkeln sind wir alle gleich, Gute und Böse, Hässliche und Schöne, Kluge und Dumme … ja nicht einmal unsere Armut gehört dann uns allein.«

Eines Donnerstags gingen sie zum Markt, und da war wieder diese Musik, die sich Lulù um Herz und Kopf gelegt hatte wie eine Dornenkrone, und als sie auf dem steinernen Brunnen saßen wie in einer Theaterloge, sah Lulù seine Mutter zum ersten Mal weinen.

»Warum weinst du, Mama?«

»Luciano mio«, flüsterte sie, »ich weine, weil diese Musik so schön ist, aber Leuten wie uns sind schöne Dinge verboten. Du, mein Sohn, wirst so eine Melodie niemals spielen können. Für den Unterricht und die Instrumente braucht man Geld, und wir sind arm.«

Manchmal ließ Lulù das Haus und die Felder von Muscedda hinter sich und stellte sich unter das Fenster des Lehrers, um der Musik zu lauschen. An einem Nachmittag, die Straßen waren menschenleer, trat der Maestro ans Fenster, um eine Nazionale zu rauchen. Lulù stand auf und tat so, als tränke er am Brunnen. Als er das Rinnsal Wasser wegwischte, das ihm über den Hals lief, hörte er eine Stimme: »Gefällt dir die Musik?«

Lulù hob ängstlich den Kopf und blickte zum Fenster hinauf.

»Ja, dich meine ich. Du magst diese Musik, nicht wahr?«

Der Junge wischte sich den Mund ab und nickte.

»Dann komm rauf, sàgghia, hier oben kannst du sie besser hören.«

Der Lehrer Malfarà warf die Kippe fort und verschwand wieder in der Wohnung. Lulù spürte, dass seine Wangen so heiß und rot wie eine Chilischote wurden, und er war kurz davor, einfach wegzulaufen, aber dann hörte er, wie sich die Haustür mit einem metallischen Klappern öffnete.

»Komm rauf, du musst keine Angst haben.«

In der Wohnung des Lehrers im ersten Stock roch es nach Basilikum.

Der Plattenspieler stand auf einem Tischchen unter dem Fenster. Nie zuvor hatte Lulù einen gesehen. Er ging näher heran und starrte auf die Platte, die sich um sich selbst drehte wie ein Mühlrad.

»Ich sehe dich oft am Donnerstagmorgen hier unten stehen, weißt du, mit deiner Mama. Und dann lege ich immer dieselbe Platte auf, weil ich weiß, dass ihr sie mögt. Warte mal.«

Er hob die Nadel von der Schallplatte und suchte aus dem Regal eine andere aus.

Malfarà steckte sich eine neue Zigarette an und nahm ein Heft in die Hand. Lulù ging zu ihm, um es zu betrachten.

»Die Musik, die du gerade hörst, steht hier geschrieben.«

Das kam Lulù ausgesprochen merkwürdig vor. Er betrachtete die Seiten voller Linien und Kügelchen, und ihm wurde schwindelig wie in der Schule, denn vielleicht hatte Mama sich geirrt: Um Musik zu machen, brauchte man nicht nur Geld, sondern auch Verstand, und Lulù besaß nicht einmal den.

Der Lehrer zeigte ihm den Einband: ein Herbstwald mit Bäumen und bunten Blättern. »Es heißt Valse triste, das ist der Titel des Stücks, das euch so gut gefällt.«

Eine halbe Stunde später verließ er Malfaràs Haus wie eine Biene, die Blütenstaub gesammelt hat, und lief zu seiner Mutter, um ihn ihr aufs Haar zu streuen. Er hatte ihr Geschichten zu erzählen, zum Beispiel wie ein Plattenspieler aussieht oder wie Musik in Hefte geschrieben wird, vor allem aber brachte er ihr den Namen der verzauberten Melodie mit, der einer Beschwörungsformel ähnelte.

Bald darauf begann der Herbst und machte Lulù noch melancholischer. Wenn er die Blätter fallen und gelb werden sah, hörte er in seinem Kopf diese traurige Musik, aber seine Trauer hatte nichts mit der Verzweiflung zu tun, die man manchmal beim Aufwachen verspürt. Màmmasa hatte recht, diese Art von Traurigkeit fühlte sich gut an.

Als er eines Tages durch die Weizenfelder von Cannariari streifte wie ein kleines Reptil, hörte er eine Art Gesang.

Unter einem Olivenbaum saß Misticheddu Fricalora und blies eine Tonleiter auf einem Blatt.

»Was machen Sie da?«

»Ich mache hier den Musikanten«, antwortete der Schafhirt sarkastisch.

»Und wie geht das?«

»Lulù, gleich fressen dich die Hunde! Was stellst du für Fragen? Nimm dir ein Blatt...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2021
Übersetzer Anja Mehrmann
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Astronomie • Der Postbote von Girifalco • Dorfgemeinschaft • Elena Ferrante • Italienische Literatur • Italien-Roman • Kalabrien • Liebe • Nostalgie • Schicksal • Süditalien • Unterhaltung
ISBN-10 3-462-32148-X / 346232148X
ISBN-13 978-3-462-32148-7 / 9783462321487
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