Die Tsantsa-Memoiren (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32029-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Tsantsa-Memoiren -  Jan Koneffke
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Eine Tour de Force durch zwei Jahrhunderte und zwei Kontinente - ein magisch-literarisches Abenteuer mit einem der ungewöhnlichsten Erzähler der deutschen Literatur Was auf den ersten Blick zu schräg wirkt, um gelingen zu können, entwickelt schon nach wenigen Seiten einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann: Um das Jahr 1780 gelangt ein Schrumpfkopf in den Besitz von Don Francisco, Beamter der spanischen Krone in Caracas. Als Wandschmuck in dessen Schreibstube hängend beobachtet er das Geschehen um sich herum ganz genau - und bemerkt wie nebenbei, dass er gerade dabei ist, ein Bewusstsein zu entwickeln. Und dass er sprechen kann. Doch als er schließlich zum ersten Mal den Mund aufmacht, sorgt das bei Don Francisco prompt für einen Herzinfarkt - und der Schrumpfkopf bekommt einen neuen Besitzer. Seine Reise führt ihn in den folgenden Jahrzehnten u. a. nach Rom, Paris, Frankfurt, London, Bamberg, Bukarest, Wien und Berlin. Er wird Zeuge historischer Begebenheiten und alltäglicher Kleinigkeiten. Und nach und nach findet er immer mehr über seine eigene Vergangenheit heraus. Dem Fabulierer Koneffke gelingt es, das Leben seines unsterblichen, aber auch hilflosen Helden auf so grandiose Weise zu erzählen, dass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Dabei hilft ihm auch sein kluger und überaus gewitzter Erzähler, dessen »Menschwerdung« den roten Faden der Geschichte bildet und der einem im Laufe der Lektüre ans Herz wächst.

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte und arbeitete ab 1981 in Berlin. Nach seinem Villa-Massimo-Stipendium 1995 lebte er für weitere sieben Jahre in Rom und pendelt heute zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort M?neciu. Koneffke schreibt Romane, Lyrik, Kinderbücher, Essays und übersetzt aus dem Italienischen und Rumänischen. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt dem Uwe-Johnson-Preis 2016. Zuletzt erschienen bei Galiani Ein Sonntagskind (2015), 2020 sein von der Presse gefeiertes Erzählkunststück Die Tsantsa-Memoiren.

Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt, studierte und arbeitete ab 1981 in Berlin. Nach seinem Villa-Massimo-Stipendium 1995 lebte er für weitere sieben Jahre in Rom und pendelt heute zwischen Wien, Bukarest und dem Karpatenort Măneciu. Koneffke schreibt Romane, Lyrik, Kinderbücher, Essays und übersetzt aus dem Italienischen und Rumänischen. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt dem Uwe-Johnson-Preis 2016. Zuletzt erschienen bei Galiani Ein Sonntagskind (2015), 2020 sein von der Presse gefeiertes Erzählkunststück Die Tsantsa-Memoiren.

Erster Teil


Lehrjahre
Caracas, Rom, Bamberg
(zirka 1780–1850)

I


Von meinem Leben vor der Zeit, als ich reine Anschauung bin, und dem Tag, mit dem meine Geschichte beginnt; erste Schreibzimmererinnungen an mein Erwachen bei Don Francisco Ramirez in Caracas, zwischen seinen Kindern und Pepitos Tieren; der sprechende Blauara Cayo und El Pequeño

… nichts weiter als innerer Frieden und Feuchtigkeit … ein Teppich, der bis zur entferntesten Grenze reicht, diesem abwechselnd gelben und lackroten Streifen … in Sonne und Wasserdunst flimmernde Baumwipfel … es ist der schwarzblaue Wollball mit dolchscharfem Schnabel, der aus der Vergangenheit wischt und mir krabbelndes Leben aus Haaren und Falten hackt … Echsen, die sich mit erhobenem Kopf und halboffenem Maul von der Hitze durchrinnen lassen … ein Tier, das sich an einen Zweig krallt, wo es seine sperrigen Lederhautschirme zusammenklappt … ein atmender Moosklumpen an seinem Ast, dem ein Guß seine sprießenden Fellalgen auffrischt …

Es melden sich wieder in mir die bei nachtklarer Finsternis flammenden Myriaden von Sonnen, orangene Riesen und sandbraune Zwerge, weißblaue Spiralen und neblige Schlieren … erinnern sich wieder in mir die am schachtschwarzen Himmel verbrennenden Sternschnuppenschauer und Tausende Kugeln, die feurig zur Erde fielen, Meteore und flackernde Erdbebenlichter … und es melden sich wieder die anschwellenden Tierstimmen, wenn schlagartig Dunkelheit einkehrte: Aus dem endlosen Wald, der sich vor mir erstreckte, stieg als erstes das tosende Grollen eines Raubtiers auf, dem das Geschrei seines Beutetiers folgte, ein Tumult, der den Dschungel in Aufruhr versetzte; es erwiderten kehliges Schmettern und Pfeifen. Bald war es Bellen, bald Schmatzen und Seufzen, das in Wellen aus dem Dickicht zu mir an die Klippe drang – und das Tier mit dem faltigen, blauschwarzem Bartgesicht, das an ellenlangem Schwanz in der Baumkrone hing, ahmte mit seiner Trommel im Kehlkopf das Grollen und Schreien und Trompeten der anderen nach.

Es tauchen in mir wieder baumhohe Farne im schummrig verhangenen Walddunkel auf; wegschnellende Steine, die bucklige Nager sind; Laub, das Beine bekommt, und der Geist eines Falters, lavendelgrau taumelnd und groß wie ein Vogel; Lianen, wie Holzketten bis in die Wipfel, und ananasschuppige schillernde Pflanzen. Ein Strom roter Tiere, dreiteilig und sechsbeinig, erreichte den Fleck, an dem ich mich aufhielt, kroch in meine Ohren und krimmelte auf meinen Augen.

Wo ich meinen Wachtraum verbrachte, war roter Stein, zeitweise mit moosigen Flechten bewachsen. Es war eine Mulde im Fels, die mir Schutz bot. Bei Gewitter und Wolkenbruch lief sie mit Wasser voll, das mir zur Nase, wenn nicht bis zum Haaransatz reichte … es wiegte mich von einer Seite zur anderen, ohne mich in die Tiefe zu schwemmen, die sich vor mir auftat … das Wasser verdunstete wieder in sengender und meine Lederhaut trocknender Sonne …

Nichts als Feuchtigkeit, Frieden und Seelenruhe … bis zu dem Tag, der mein Schicksal besiegelte und mit dem meine Geschichte beginnt. Es ist eine Erinnerung, schattenhaft und verwischt – mehr eine Schwingung, die sich in mir meldet –, an Stimmen, die vom Wald hoch zu mir an den Felsen drangen, anders beschaffene Stimmen, als die mir vertrauten, nicht schnatternd, nicht kreischend, nicht gellend, nicht keckernd … selbst dem rotbraunen Pelztier mit blauschwarzem Bartgesicht, das an ellenlangem Schwanz im Lapachobaum hing, und das sonst alles nachahmte, Wind in den Palmenzweigen, tuckerndes Felshuhn und schimpfende Papageien, schienen diese Stimmen in der Tiefe zu unheimlich, um sie trotz seiner Echolust nachzuahmen … und sie nahten beim Aufstieg zu mir auf den Felsen …

In dieser verschwommenen Erinnerung kam es zu einer Bewegung, die ich zuvor niemals erlebt hatte, als es mich aus meiner Mulde im Felsen hob und hoch in der Luft vor die brennende Sonne hielt … ich blinzelte blind in einen Kranz gelber Strahlen … ich weiß nichts von einem Gesicht, das mich angaffte … nichts von einem Palmenblatt, in das man mich wickelte, oder einem Korb, in dem man mich verstaute … ich versank in einem Dunkel, das ich nicht gewohnt war, in dem es nicht schimmerte, blinkte und blitzte … ich schwebte in ewiger Leere und Finsternis …

 

Was sich als Erinnerung anschließt, ist klarer: Bei Dunkelheit schwebe ich in einem Zimmer mit schmiedeeisern verschlungen vergitterten Fenstern … Geckos kleben an Mauern und Decke und Nachtfalter flattern um eine Gestalt, die mit kratzender Feder bei Kerzenschein schreibt, werfen raschelnde und sich vermengende Schatten und fallen als winzig aufflackernde Fackeln zu Boden …

Eine Erinnerung aus diesem Zimmer, bei Tage … mir steht der vor Hitze erzitternde Innenhof mit seinem Brunnen in der Mitte vor Augen … um seine Schale weht hauchfeiner Dunst, und er sprengt diamantweiße Perlen in die Luft … Dohlen, die Brotkanten stehlen und am Brunnenrand einweichen … oder Wespen, die zum Nestbau verwendete Lehmkugeln im Fluge anfeuchten … Schattierungen, Umrisse, Treiben und Trubel …

Wieder eine Erinnerung an diesen Hof, den ich aus einer anderen Ecke betrachte … mein Platz ist nicht mehr zwischen Landkartenrollen, Votivgaben, Rosenkranzketten und Bibel, zwei Klapperschlangenklappern und einem seine Schwingen aufspannenden Flugvampir, der an einem Kreuz steckt, nicht ohne sein Maul zu einem Schrei aufzureißen, beim Schreibtisch im zimmerhohen, bauchigen Glasschrank … ich schwinge beim Lesepult, mit einer Kordel am Balken der niedrigen Decke befestigt, von wo aus ich bessere Sicht auf den Patio habe …

An drei Seiten des Hofs mit seinem Pflaster aus weißem, von Schuhen und Fersen poliertem Naturstein, verlief eine Holzgalerie. Auf dem Arkadengang wippte der Schwefeltyrann, der bei Sonnenaufgang seinen Morgengruß schmetterte, aus voller Kehle, mit goldener Brust, falls das Holzdach nicht gerade vor Sittichen wimmelte oder Schwalbengeschwader im Himmelsloch flitzten. Vom Eingangstor, ausreichend groß, um mit Waren beladene Karren in den Innenhof zu ziehen, war von meiner Ecke aus nichts zu erkennen. Was ich erkennen konnte, war eine Pforte, verschluckt von den Rosen, die sich an der Mauer kanariengelb bis zur Krone hochrankten, an Tagen mit Meereswind klappte und klapperte sie; linker Hand wiederum kletterten Coralitas vom Dach des Arkadenumlaufs in den ersten Stock, in dem die Familienmitglieder schliefen …

Andere Aussichten kannte ich nicht, meine Stelle beim Lesepult wechselte nicht mehr … eines der Fenster, bei dem es sich mehr um ein Loch in der Wand handelt oder einen Spalt ohne Fensterglas oder Papierbezug, nur mit besagtem verschlungenen Muster vergittert, geht auf die Gasse, von der aus mich Schritte, I-Ah-Schreie, Hufschlag und Wagenradknirschen erreichen … im breiteren Fenster der Wand auf der anderen Seite zeigt sich eine Bergkette, khaki- und schiefergrau, vor der sich verdorrendes Grasland ausbreitet, auf dem in der Nacht eine Unzahl von Feuern brennt, die einem Lavastrom gleichen …

In dieser Anfangszeit sind es Gestalten und Namen, die in mich einwandern, bis ich sie wiedererkennen kann. Der entscheidende Name ist der Don Franciscos, der mir wiederholt alle Tage zu Ohren kommt. Don Francisco Ramirez, der mit mir das Zimmer teilt, wenn er ein Schreiben aufsetzen muß oder Besucher hat, ist ein kurzer, kompakter und rundlicher Mann. Er hat fleischige Wangen, ein Kinn, weich und vorstehend, und Lippen, die beides sind: schmal und korallenrot. In seinem Gesicht mit den kindlichen Augen, dem Bogen der schwarzen harmonischen Brauen und einer als Knolle auslaufenden Nase scheint er zu vereinbaren, was sonst unvereinbar ist, Strenge mit Sinnlichkeit, Rachsucht mit Unreife und kindische Neugier mit Unbeherrschtheit – Charakterisierungen, die ich erst treffen kann, als sich in mir ein Bewußtsein entwickelt hat, was eine (beachtliche und von mir nicht zu ermessende) Weile in Anspruch nehmen wird.

Der zweite entscheidende Name ist der eines Tiers, das, nicht anders als ich, Teil des Schreibzimmers ist. Es wippt unweit vom Lesepult auf einer Stange, heißt Cayo und ist ein Regenwaldpapagei. Aus seinem Schnabel, der meistens halboffen steht, quillt seine Zunge, ein Pfropfen mit Reibehaut. Beeindruckend wirkt sein saphirblaues Federkleid, selbst wenn es vom Alter halb stumpf, halb zerzaust ist. Dieser Ara, der mich bis zum Schluß nicht beachtet, kann sprechen, und seine besondere Leidenschaft ist es, sich mit Don Francisco zu streiten. Dauernd kommt es im Zimmer zu Krach und Krawall. Der am Schreibtisch Papiere studierende oder bekritzelnde Mann zischt und schimpft mit dem Cayo, der mit ohrenzerreißendem Kreischen erwidert und ganz außer sich um seine Stange rotiert: »Nux míssima míssima árax úxutl u!«

Zwei weitere Wesen im Haus sind Julietta, die Franciscos korallenrote Lippen geerbt hat und seine harmonischen Bogen von Brauen … und vor allem Pepito, das kleinere Kind, seines Vaters Cariño und Chiquitito, dem er von den Lippen abliest, was sein Herz begehrt.

Pepito, das Kind, hat nichts lieber als Tiere, weshalb sie im Haushalt zu Unmengen vorkommen, ein Jungesel von zwergenartiger Rasse mit silbrigem Fell, willig, zutraulich, anschmiegsam, auf dem der jauchzende Junge den Springbrunnen umrundet; oder es zwitschert und tschilpt, pfeift und trillert, als aus in...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer-Geschichte • Abenteuer-Roman • Gabriel García Marquez • Jan Koneffke • Juan Rulfo • Magischer Realismus • Märchen • Schrumpfkopf • Tsantsa
ISBN-10 3-462-32029-7 / 3462320297
ISBN-13 978-3-462-32029-9 / 9783462320299
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