Solsbüll (eBook)

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2017 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00119-0 (ISBN)
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Solsbüll: einer der großen Deutschland- und Familienromane des 20. Jahrhunderts. Solsbüll ist ein Städtchen im nördlichen Schleswig-Holstein, tiefste Provinz und doch ein Ort, in dem die großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Dort verknüpfen sich die Lebensgeschichten dreier Generationen, verkörpert in drei Männern, die als Großvater, Vater und Sohn denselben Namen tragen: Gustav Hasse. Während die ersten beiden in den Weltkriegen fallen, überlebt der 1941 geborene dritte Gustav und wächst in einem Hebammen-Haushalt auf. Im Schicksal zweier Frauen, seiner Großmutter Anne und seiner Ziehmutter Gret, spiegelt sich die Zeit: Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg erleben die beiden Hebammen Aufstieg und Blüte des Nationalsozialismus und sein katastrophales Ende. Sie sehen bei Freunden und Nachbarn Opportunismus und Feigheit, erleben Treulosigkeit, Hass und Gewalt. Beide sind nicht im Widerstand aktiv, tragen aber ihr Herz auf dem rechten Fleck und schöpfen auch Kraft aus dem Beruf: Jedes neugeborene Leben ist einzigartig, also kostbar. Und so handelt der Roman nicht nur von Mitläufern und Mördern, sondern auch von Liebe, Widerspruchsgeist und kleinen Heldentaten der Menschlichkeit. Jochen Missfeldt, der wie Faulkner einen Landstrich zum Schauplatz seiner Bücher macht, hat mit 'Solsbüll' einen Deutschlandroman vorgelegt, dem eine ähnliche Bedeutung zukommt wie der 'Deutschstunde' von Siegfried Lenz und der 'Blechtrommel' von Günter Grass. Und doch ist er 1989, als er in einem kleinen Verlag erstmals erschien, in den Wirren des Mauerfalls kaum beachtet worden. Nun lässt sich die hoch aktuelle Geschichte einer Familie, die in einer Gesellschaft von lauter Wendehälsen aufrecht bleibt, endlich wiederentdecken. Dass Jochen Missfeldt - wie Ijoma Mangoldt in der Süddeutschen Zeitung schrieb - 'von den großen Sprachbegabungen der deutschen Gegenwartsliteratur eine der unbekanntesten' ist, das war einmal. Der Text wurde für diese Neuausgabe vom Autor durchgesehen.

Jochen Missfeldt, geboren 1941 in Satrup bei Schleswig, war Fliegeroffizier bei der Luftwaffe und studierte dann Musikwissenschaft und Philosophie. Er veröffentlichte die Romane 'Solsbüll', 'Gespiegelter Himmel', 'Steilküste' und 'Sturm und Stille', außerdem Erzählungen, Gedichte und eine Biographie Theodor Storms. Im Jahr 2002 erhielt er den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, später auch den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein, den Theodor-Storm-Preis der Stadt Husum sowie den Italo-Svevo-Preis. Jochen Missfeldt lebt in Nordfriesland.

Jochen Missfeldt, geboren 1941 in Satrup bei Schleswig, war Fliegeroffizier bei der Luftwaffe und studierte dann Musikwissenschaft und Philosophie. Er veröffentlichte die Romane "Solsbüll", "Gespiegelter Himmel", "Steilküste" und "Sturm und Stille", außerdem Erzählungen, Gedichte und eine Biographie Theodor Storms. Im Jahr 2002 erhielt er den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, später auch den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein, den Theodor-Storm-Preis der Stadt Husum sowie den Italo-Svevo-Preis. Jochen Missfeldt lebt in Nordfriesland.

Jenes gewaltige Ringen


Jenes gewaltige Ringen, so fing Meggersee nach der ersten Tasse Kaffee wieder an.

Gret lauschte ihm mit eingegrabenen Mundwinkeln. Doktor Otto von Meggersee, seit zwanzig Jahren Respektsperson im Hebammenhaus, erst für Großmutter Anne, jetzt für sie, hatte wirklich wunderbar das Reden raus. Aber irgendwas in ihr wehrte sich gegen diesen Mann, zum Beispiel, wenn ihm das Wort jenes über die Lippen kam.

Die Dramen, die Tragödien, jenes beispiellose schwere Ringen der Kämpfer, das Wollen der Führung zu gestalten, sagte er und beugte sich über den gedeckten Marmortisch, wischte Kaffeetropfen vom Schnauzer, griff nach einem braunen Kuchen.

Es ging in die dunkelsten Tage des Jahres. Der Kalender war auf Weihnachtsfrieden gestellt. Weihnachtsfriede sollte bleiben. Jeder Gast, manchmal war es ein Fremder, bekam Kaffee und Kuchen. Der nicht bewirtete Gast trägt den Weihnachtsfrieden aus dem Haus. Für diesen Notfall hatte Anne zwölf ausgehöhlte und mit Salz bestreute Zwiebeln auf das Gewürzbrett über dem Küchenherd gelegt. Jeden Abend kuckte sie da hin und kuckte in die Zukunft. Jeden Abend kurz vorm Zubettgehen tat sie das und wünschte, dass der Weihnachtsfriede bleibe. Heiligabend soll Sturm sein, sagte sie dreimal hintereinander und nahm die Kinnspitze abwärts. Sturm musste nämlich am Heiligabend die Lüfte aufwühlen, musste biegend und brechend durch die Bäume fahren, damit das nächste Jahr ein gutes Jahr wurde. Anne war kleingläubig und ängstlich geworden. Seit Wochen hatte es nicht geweht, die Luft war weiß und still gewesen, seit über einer Woche war es milde und neblig. Die Sonne war kaum aus den Wolken und über die Papp- und Strohdächer der Nachbarn gekommen. Nachts hatten die Hunde den zunehmenden Mond angekläfft. Eiskalt hatte er seine Runden gedreht.

 

Anne war auf dem Weg zum Bäcker, um braune und weiße Kuchen backen zu lassen. Rechts am Arm der Korb mit den zwei Sorten Teig, links an der Hand Enkelsohn Gustav. Von einem Jahr aufs andere plante Anne den nächsten Backtermin, den sie mit Bäcker Sprenger besprach. In sein Fettfleckparadies, sein schwarzes Bäckerbuch, hatte er den 12. Dezember 1945 eingetragen. Gustav wäre lieber zu Hause geblieben, hätte lieber am Kachelofen gesessen, hätte lieber heimlich Meggersee zugehört, von dessen Worten er kein einziges verstand.

Bei Hans Thamsen leuchteten die Scheunenfenster dottergelb. Sein Stall ging nach Westen, wo der Himmel rötlich war und schwarze Schlieren zusammenliefen. Thamsen warf den Kühen Heu vor die Mäuler. Er schaufelte Schrot aus der Futterkiste und streute es in die Futterrinne. Die Tiere kauten Heu und Schrot klein, dass es rauschte. Ihre Halsbügel und die Halsketten klirrten. Marie Thamsen saß an einer Braunen, die Erika hieß. Sie hielt einen Melkeimer zwischen den Knien und lehnte ihre Stirn an Erikas Fell. Gustav hätte lieber vor den violetten Kuhaugen rumgeturnt oder auf der Futterkiste gesessen und Schrot gekaut oder eine Zeigefingerspitze vom süßen Milchschaum aus dem Milchsieb geholt. Oder die Katzen gejagt.

In puncto Reden beschränkte sich Anne, wie auch ihre Tochter Gret, aufs Schweigen. Nicht nur hier auf der Straße. Auch im Haus gab es nichts zu reden. Höchstens mal zu schreien. Nach einem Schlaganfall und einer Gallenblasenoperation drehte Anne manchmal durch und zog Gret an den Haaren. War sie in Fahrt, riss sie auch mal dran. Als Meggersee heute ins Haus gekommen war, hatte sie ihm nichtssagend die Hand gegeben, ihn kaum angesehen, war schon im Mantel. Zu Gret hatte sie neulich gesagt: Wie heißt du noch. Am besten kannte sie ihre Toten, also Ehemann Gustav und Sohn Gustav. Dann die weitere verstorbene Verwandtschaft. Dann erst die lebende, darunter Enkelsohn Gustav, den hier.

Anne hielt die Lippen fest geschlossen, manchmal löste sie ihre Gebisshälften von Ober- und Unterkiefer, legte sie lose in den Mund. So redete sie mit sich und nahm Gustavs Hand fester. Der Korb rieb am Mantel. Sie rechnete die Zutaten für die Fettplätten nach: zweihundert Gramm Zucker, kleingeschnittene Vanillestangen, eine Prise Hirschhornsalz und Schmalz nach Belieben. Nach Belieben, das war ihr gutgehütetes Geheimnis. Sprenger hatte die beste Hitze. Butter, Mandel, Mehl, Safran macht den Kuchen geel. Sukkade, Sirup, Salz, Gott erhalts. So wie beim jährlichen Weihnachtsbacken fühlte sich Anne sonst nie. Ihr nervöses Herz fing gleich morgens an, ganz besonders nervös zu schlagen. Dieser Tag war ein Tag, an dem sie bei sich selbst zu Besuch war. War der Besuch beendet, dann ging das Herz wieder wie immer.

Der Halbmond stand in den Pfützen. Die Sterne stellten sich einer nach dem anderen vor. Der Himmel hatte das Abendrot verschluckt. Rechts der Straße die Telefonmasten, links die Strommasten, beiderseits Leitungen von Mast zu Mast. Anne schnupperte. Drei Gehöfte weiter grunzten die Haussauen. Wahrscheinlich lagen sie auf der Seite und hatten ihre Ferkel an den Zitzen. Gustav wäre lieber am Schweinetrog gewesen, hätte lieber den Ferkeln zugesehen, hätte lieber den Schweinegeruch gerochen, hätte lieber ins helle Stroh gespuckt.

Ein Radfahrer kam. Das Licht mal heller, mal dunkler, der Dynamo mal lauter, mal leiser. Der auf dem Fahrrad trat fest in die Pedale, warf den Oberkörper hin und her. Es war Matthias Gottke, der Milchkontrolleur, unterwegs von Hof zu Hof mit seinem mobilen Labor auf dem Gepäckträger, einem Holzkasten mit Flüssigkeiten und Reagenzgläsern drin. Gustav hätte lieber Matthias bei der Arbeit zugeschaut, wie er ein Reagenzglas ins mickrige Stall-Licht hob und das Gemisch prüfend betrachtete. Moin Moin.

Seit vier Jahren, also seit Weihnachten 41 zum fünften Mal, machte Anne auf dem Weg zu Bäcker Sprenger den Umweg über den Friedhof, um Tränen zu vergießen. Gustav hätte lieber Würfelzucker auf seinem silbernen Teelöffel in Milch getunkt und sich im Mund zergehen lassen. Aber Anne wollte ihn mithaben; und so ging er an ihrer Hand an den Dornenhecken entlang, hinter denen die Vorgärten und die Häuser von Solsbüll-Mühle lagen.

 

Die Franzosen, liebe Gret, sollten damals zermürbt werden, dass sie militärisch nichts mehr zu hoffen gehabt hätten, trug zu Hause Meggersee weiter vor, und während paar Kekskrümel übers Kinn sprangen, sagte er: Ach, was sind doch unsere Männer anno 14/15 mit Sturmgesängen in die Schlacht gezogen, siegreich wolln wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held. Jene Hingabe, man kann sich die Hingabe jener Männer ja gar nicht vorstellen.

Gret grub ihre Mundwinkel noch tiefer ein, Meggersee legte seine zehn Finger zu einem Dach aneinander.

Die sehnten sich doch nach Angriff, raus aus dem Maulwurfdasein, sagte er. Das sagte übrigens auch mein verehrter General, der eigentlich ein kühler Mensch war und mit Lob sparte, aber dem ich dienen durfte, gleich zu Anfang von Verdun. Meggersee bekam Zittern und Wärme in die Stimme und fuhr fort: Damals war in der Heimat der Frontsoldat mit jenem schwarz-weißen Bändchen noch angesehen. Damals kehrte der Frontsoldat erhobenen Mutes zur Truppe zurück. Ich erinnere mich gut an meinen ersten Heimaturlaub. Diesmal war das dann alles ganz anders.

Gret und Meggersee saßen in der Besten Stube am Kachelofen, der von nebenan geheizt wurde. Nebenan war das Ess- und Kinderzimmer, waren Eckbank und Tisch und Stühle mit Herz in der Rückenlehne. Nebenan waren das Eckregal mit den Spielsachen und die gelbe Kachelofen-Seite. Hier in der Besten Stube war die braune Kachelofen-Seite. Ein Geschirr- und Bücherschrank war da aus dunkel gebeizter Eiche. Die Barrings, Die Ahnen und Das Wunschkind, solche Bücher standen da, Grets Biedermeiersofa mit Biedermeierstühlen gegenüber.

Warum Meggersee von Verdun redete und immer jene sagte, leuchtete Gret nicht ein. Wahrscheinlich hatte er es gelesen, seit seinem von der englischen Militärregierung auferlegten Praxisverbot – er war politisch belastet – las er ja wohl von morgens bis abends. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen, das längere über das kürzere, und aus dem Ohrensessel blickte er auf die vor die beiden Fenster gezogenen Gardinen und auf ein Ölbild dazwischen über dem Sofa: Hallig Gröde. Ein umherziehender Kunstmaler hatte Gret wenige Wochen nach der Kapitulation das Bild aufgeschwatzt. Dafür hatte er ihr einen Teller Erbsensuppe abgeschwatzt, den er dann auf der Eckbank auslöffelte und mit einem Kanten Schwarzbrot sauber wischte.

Die Beste Stube war nicht nur besonderen Anlässen und Sonderfällen vorbehalten, Respektspersonen wie Meggersee, unverhofft auftauchenden Fremden, nie Wiederkehrenden, denen Gret Küche und Kinderzimmer nicht zeigen mochte. Manchmal saßen da auch Schwangere mit blass gewaschenen Gesichtern, Hände überm Bauch gefaltet, Mäntel geöffnet, so saßen sie da. Wenn Gret hereinkam, standen sie auf und zogen den Mantel aus, betteten sich auf die Couch, krempelten Umstandskleid und Unterhemd hoch, zeigten den Bauch. Da setzte sich Gret auf einen Stuhl, beugte sich vornüber und horchte mit ihrem schwarzen Hörrohr nach Herztönen. Die Schwangeren nahmen den Kopf hoch und horchten auch. Oder sie blieben versunken liegen und starrten an die Decke, weiß und ängstlich mit ihren zwei Leben. Gret griff sich den Hebammenkalender vom Telefontisch, Solsbüll 283, und schrieb schnell und unleserlich Namen, Vornamen, Gewicht, letzte Regel, Krankenkasse und Anschrift auf. Während sie notierte, sahen die Schwangeren zu den beiden Fenstern raus oder auf das Ölbild, das dazwischen hing.

Das Ofenheizen war Annes Zuständigkeit geblieben. Noch im Nachthemd rüttelte sie mit dem Schieber, um nach Glut von gestern zu sehen. Der Tag...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2017
Nachwort Kristof Wachinger
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Erster Weltkrieg • Familienroman • Günter Grass • Gustav Hasse • Hebammen • Liebe • Mitläufer • Nationalsozialismus • Provinz • Schleswig-Holstein • Sigfried Lenz • William Faulkner • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-00119-7 / 3644001197
ISBN-13 978-3-644-00119-0 / 9783644001190
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