Um Mitternacht (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
400 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74022-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Um Mitternacht -  Augusto Cruz
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Der ehemalige FBI-Agent Scott McKenzie wird von einem wohlhabenden Sammler beauftragt, die einzige verbliebene Kopie des berühmten Stummfilms Um Mitternacht zu finden. Es heißt, dass dieser Vampirstreifen aus den zwanziger Jahren seiner gesamten Besetzung zum Verhängnis wurde, weil unter den Schauspielern echte Vampire waren, dass sämtliche Kinos, in denen der Film vorgeführt wurde, abbrannten und dass all jene, die sich ernsthaft für den Klassiker interessierten, spurlos verschwanden. McKenzie aber will von einem Fluch nichts wissen und begibt sich auf eine Suche, die ihn zunächst in den Norden Mexikos führt - und von da an immer verworrener und bizarrer wird.

Um Mitternacht ist ein fulminantes Roadmovie und eine fesselnd erzählte Hommage an die Schönheiten und Abgründe bewegter Bilder. Und die Geschichte einer abenteuerlichen Ermittlung, die sich in den Grenzgebieten der Wirklichkeit bewegt.



<p>Augusto Cruz, geboren 1971, stammt aus dem mexikanischen Tampico. Sein Geschichtslehrer war der Subcomandante Marcos, in Los Angeles hat er szenisches Schreiben gelernt und sich im Fernstudium zum Privatdetektiv ausbilden lassen. Cruz lebt heute wieder in seiner Heimatstadt und betreibt dort zusammen mit seinem Bruder eine Bäckerei. <em>Um Mitternacht</em> ist sein international viel beachtetes Debüt.</p>

1

Forrest Ackerman lebte für die Monster, und einige von ihnen, die legendärsten, hatten es ihm zu verdanken, dass sie noch am Leben waren. An dem Tag, als er mich engagierte, wirkte er auf mich wie ein Mann, dem die Zeit im Nacken saß, der trotz seiner einundneunzig Jahre unermüdlich Unterlagen studierte und herumtelefonierte, während er sich Notizen machte und nebenbei versuchte, eine Ameise zu zerquetschen, die seine Schreibtischkante entlangspazierte. Hinter ihm türmten sich Stapel von DVDs, Beta- und VHS-Kassetten, Super-Acht-Filme im Format 8 und 16 Millimeter und Dosen für Filmspulen. An jedem freien Zentimeter Wand hingen Fotos, auf denen er zu sehen war, wie er Dinosaurier, Außerirdische und andere seltsame, enthusiastisch in die Kamera grüßende Wesen umarmte. Die mit Büchern überladenen Regale drohten jeden Moment zusammenzubrechen, und drei Aktenschränke, die sich nicht mehr schließen ließen, sahen aus, als würden sie im nächsten Moment Hunderte in ihren Eingeweiden schlummernde Dokumente ausspeien: Wenn die Monster, die sein Büro bevölkerten, ihn nicht verschlangen, dann würden es jene Papiermassen tun. Sein Büro war ein Chaos, aber wenn er eine bestimmte Sache suchte, fand er sie sofort. Der Mann vor mir bewegte sich in seinem Reich wie der Schöpfer in seinem Universum. Er trug ein rotes Seidenhemd, eine kaffeebraune Hose mit einem schwarzen Gürtel, der sich weit oberhalb des Bauchnabels schloss. Unter der Nase, auf der eine dicke schwarze Hornbrille thronte, verzweigte sich ein schmales Oberlippenbärtchen nach rechts und links. Als er endlich auflegte, schob er mit dem rechten Arm einen Haufen Papiere beiseite, um auf seinem Schreibtisch eine Lichtung zu schaffen.

Die Zeit für eine Vorstellungsrunde können wir uns wohl sparen, was meinen Sie ? Ich kenne Ihre persönlichen Daten, so wie Sie wahrscheinlich die meinen, sagte er, womit er nicht unrecht hatte.

Wie ich in Erfahrung bringen konnte, bevor ich zu ihm fuhr, hatte ich es mit dem bedeutendsten Sammler auf dem Gebiet des Horror- und Science-Fiction-Films zu tun. Während er sich in diesen Sphären gleichzeitig als Schriftsteller, Verleger und Agent betätigte, hatte Forrest J. Ackerman – auch bekannt als Ackermonster, Forry, Dr. Acula, Uncle Forry oder Mr. Sci-Fi, nach der maßgeblich von ihm durchgesetzten berühmtesten Abkürzung des Genres – die umfangreichste Sammlung von Requisiten solcher Filme zusammengetragen. Obwohl er schon in den dreißiger Jahren angefangen hatte, Fanzines mit phantastischen Geschichten auf alten Repromaschinen zu drucken, war Ackerman dadurch zu Ansehen gelangt, dass er zusammen mit jungen Science-Fiction-Autoren jahrzehntelang einen Kampf galaktischen Ausmaßes darum geführt hatte, dem Genre, das Universen eroberte, unter den Menschen ein wenig Respekt zu verschaffen. Seine Sammlung nahm solche Ausmaße an, dass er sein eigenes, von ihm »The Ackermansion« getauftes Museum errichtete ; allerdings sah er sich vor ein paar Jahren wegen hoher Kosten für medizinische Behandlungen und Rechtsstreitigkeiten, und weil er sich immer geweigert hatte, Eintritt zu verlangen, dazu genötigt, im Innenhof seines Hauses einen Großteil der Sammlung zu verkaufen, die er im Laufe von fünfundsiebzig Jahren zusammengetragen hatte, in denen er in die Keller von Filmstudios hinabgestiegen war oder Müllcontainer von Produktionsfirmen und die Dachböden von Rentnern durchwühlt hatte, die in ihrer aktiven Zeit für Spezialeffekte zuständig gewesen waren. Ich konnte es nicht ertragen, sagte er in einem Interview anlässlich des Verkaufs der Sammlung, es war, als würde man mir mit jedem weggekauften Gegenstand nicht nur eine Geschichte, sondern ein Stück Fleisch aus dem Leib reißen ; ich wusste, wenn ich an dem Abend, an dem alles vorbei wäre, in den Spiegel schaute, würde sich mir das Bild eines verstümmelten Menschen bieten, eines Menschen, dem man unwiederbringlich Teile seines Körpers genommen hat. Nach diesem Fiasko beschloss er, die Reste seines Museums in seinem eigenen, sehr viel kleineren und bescheideneren Haus unterzubringen, in dem das einzige bewegliche Exponat er selbst war. Etliche Diebstähle gingen auf das Konto seiner allzu großen Vertrauensseligkeit, weil er jeden, der bei ihm anklopfte, hereinließ und ihm seine Sammlung zeigte. Aufgewachsen unter Monstern und höllischen Wesen aus fernen Universen, hat Ackerman nie verstanden, dass die wahre Schlechtigkeit auf dem dritten Planeten dieses Sonnensystems zu Hause war. Er bewahrte einige besondere Gegenstände bei sich auf, die er nicht hatte verkaufen wollen, trotz millionenschwerer Angebote von Filmstudios und privaten Sammlern. Am Tag meines Besuchs faltete er die Hände unterm Kinn, als würde er beten, und zeigte mir zwei der wertvollsten Stücke: an der rechten Hand den Ring, den Bela Lugosi in Dracula verwendet hatte, und an der Linken den Ring in Form eines Skarabäus, den Boris Karloff in Die Mumie trug, die beide nach Überzeugung seiner Anhänger das Leben des Sammlers maßgeblich verlängert hatten. Dann stand er auf und bewegte sich mit einer Vitalität durchs Wohnzimmer, die für einen Einundneunzigjährigen bemerkenswert war – vielleicht funktionierten die Ringe ja tatsächlich. Wie der letzte Abkömmling eines gesunkenen Adelsgeschlechts, wie Dracula, als er Jonathan Harker sein Schloss zeigte, führte Ackerman mich durch die Reste seines Museums, während er mir die wildbewegten Umstände erzählte, unter denen er einige der wertvollsten Objekte vor dem Vergessen oder der Zerstörung bewahrt hatte: den Stegosaurier, der in der ersten Fassung von King Kong erscheint, den von Bela Lugosi verwendeten Dracula-Umhang, das Kostüm des Monsters der schwarzen Lagune, die Masken der Außerirdischen aus Kampf der Welten und den Roboter aus Metropolis von Fritz Lang. Ackermans Sammlung war eine Art Fort Knox der Science-Fiction.

Nach so vielen Jahren im Dienst des FBI unter Hoover dürften Ihnen diese Monster kaum Angst einjagen, bemerkte er.

Wir blieben vor einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Vitrine stehen, in der sich ein schwarzer Zylinder und ein scharfzahniges Gebiss befanden. Ackerman öffnete die Vitrine und fuhr mit den Fingern zärtlich über beide Gegenstände, wobei er die Augen schloss:

Stimmt es, dass Sie alle Fälle gelöst haben, die man Ihnen beim FBI übertragen hat ?

Einige wurden mir entzogen, bevor die Untersuchung abgeschlossen war, erwiderte ich.

Ackerman nahm die Brille ab, hauchte sie an und putzte sie, bevor er sie erneut aufsetzte.

Haben Sie nie das Gefühl gehabt, Mr. McKenzie, dass Ihr Leben unvollständig ist, dass Sie noch irgendeine Kleinigkeit, ein Wissen, einen bestimmten Gegenstand finden müssen, um sicher zu sein, dass Sie diese Welt in Frieden verlassen können ? Er legte Hut und Gebiss in die Vitrine zurück und schloss sie behutsam. Er sah mich sekundenlang an und räusperte sich wie jemand, der ein paar Mal das Gaspedal durchtritt, bevor er losfährt.

Ich will Ihnen etwas erzählen, das vor neunundsiebzig Jahren begonnen hat, als ich gerade elf und Sie noch nicht einmal geboren waren: von einer Reihe seltsamer Vorfälle, die sich um den Film Um Mitternacht ranken, den meistgesuchten verschollenen Film der Filmgeschichte.

Man wirft mir vor, ich hätte 1735 Meter Zelluloid zum Heiligen Gral erhoben. Oder hätte sie über meine Zeitschrift Famous Monsters of Filmland zum Necronomicon unserer Tage gemacht. Und ich sei schuld, dass Hunderte von Jugendlichen wie Ritter des Mittelalters auf der Suche nach Drachen und Einhörnern von zu Haus davonliefen, um der mehr auf Glauben als auf wissenschaftliche Beweise gegründeten Existenz jener sieben Filmrollen nachzuspüren, die wie seinerzeit die Schriftrollen vom Toten Meer in irgendeinem modrigen Kellerloch oder von Fledermäusen bewacht auf irgendeinem Dachboden voller Spinnweben herumlagen und darauf warteten, dass jemand sie wiederfand. Nun, Mr. McKenzie, ich bekenne mich in allen Punkten schuldig. Wir sind Teile in einem großen Puzzle, die das Schicksal auf geheimnisvolle Weise zusammenführt, sagte Ackerman. Dann räusperte er sich und begann zu erzählen: Tod Browning lief mit siebzehn von zu Hause weg, um sich einem Zirkus anzuschließen, in dem er als Zauberer, Tänzer und Vorführer des wilden Mannes von Borneo arbeitete, bis der Betrug aufflog ; er erlangte eine gewisse Berühmtheit als lebender Leichnam, den man in jedem Ort, wo der Zirkus gastierte, für ein Wochenende beerdigte. Lon Chaney seinerseits verbrachte seine gesamte Kindheit bei seinen taubstummen Eltern, mit denen er nur pantomimisch kommunizierte ; etwas, das ihm zweifellos nicht nur bei seinen Auftritten geholfen haben dürfte, sondern ihn dazu prädestinierte, in die Haut von gequälten, überspannten, verkrüppelten und trübsinnigen Wesen zu schlüpfen. Seine Fähigkeit, sich in jedwede Person zu verwandeln, brachte ihm den Spitznamen Mann mit den tausend Gesichtern ein. Sie, ich, alle Menschen fanden Platz in diesem Etui, versicherte Ackerman und zeigte auf eine Vitrine, in der das Schminktäschchen des Schauspielers mit Fläschchen, Färbemitteln, Cremedosen, falschen Zähnen, Augen und Bärten ausgestellt war. Damals, erinnerte sich Ackerman, machte ein Witz die Runde, der darin bestand, auf den Boden zu zeigen und zu schreien: Tritt nicht auf diese Spinne, es könnte Lon Chaney sein. So bedeutend war Lon Chaney, einer der ersten großen Filmstars. 1918 stellte Irving Thalberg...

Erscheint lt. Verlag 6.7.2015
Übersetzer Christian Hansen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Londres después de medianoche
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Kino • Mexiko • Roadmovie • Roman • Stummfilm • Vampir
ISBN-10 3-518-74022-9 / 3518740229
ISBN-13 978-3-518-74022-4 / 9783518740224
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