Anton Voyls Fortgang (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
416 Seiten
diaphanes AG (Verlag)
978-3-03734-406-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anton Voyls Fortgang -  Georges Perec
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1969 als Resultat einer Wette entstanden, taucht in Perecs wohl außergewöhnlichstem Werk »La Disparition« kein einziges Mal der Buchstabe E auf. Der Roman zeigt, was mit Sprache möglich ist, wenn nicht mehr der Autor erzählt, sondern - durch das Korsett einer strengen Regel - die Sprache selbst. Ausgehend vom verfügbaren Wortmaterial hat sich die Geschichte, haben sich die Personen und die Handlung zu entwickeln.
Zwischen Revolutionskomödie, Rätseln, die auf Rätsel folgen, und turbulenter Kriminal­ parodie schimmern Gewaltexzesse und der nackte Terror hervor. Doch der Terror, der hier herrscht, hat Methode, und zwar linguistische Methode, indem er durch Sprach­ manipulation entsteht. Und so manifestiert sich das allmähliche, fast ausnahmslos grau­ same Verschwinden einer ganzen Sippe im verschwundenen Buchstaben.
»Anton Voyls Fortgang«, die deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé, ist ein Abenteuer, das kaum seinesgleichen kennt. Die Schwierigkeit des Originals, das Sprachkorsett, wird dem Übersetzer zur Zwangsjacke, so Helmlé in seinem unbedingt lesenswerten Nachwort: »Er kann nicht mehr die Sprache selbst erzählen lassen, denn dann wäre sein Text keine Übersetzung mehr... dabei hat der Übersetzer nicht nur einen Kiesel im Mund, sondern gleich einen ganzen Pflasterstein.«



Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

2


Wo das Schicksal grausam, ja inhuman
auf Voyl-Robinson draufschlägt

Zwar litt Voyl nur noch mäßig, doch fühlt sich Voyl dafür furchtbar schwach, lag und hing von früh bis spät auf Sofas, Diwans und in Rocking-chairs rum, malt mit Buntstift unaufhörlich das Motiv vom Aubusson-Wandtuch aufn Stück Karton, ’n Motiv, das zwar sichtbar, doch unklar und schwammig ist, spricht manchmal wirr, sobald Halluzination ihn anfällt.

Anton ging durch ’n Korridor, wo wahnsinnig hoch war. Dort hing wandwärts das Buchbord aus Mahagoniholz. Und darauf Foliant an Foliant, achtundzwanzig Stück. D.h. Sollzahl war achtundzwanzig, doch wars schon Norm, daß ’n Band fort war, und zwar akkurat das Buch, wo als Inschrift »FÜNF« drauf stand. Und das fällt nicht mal auf, da nichts kundtut, daß ’n Foliant fort ist (daß z. B. auf Karton das Wort »a ghost« stand, was in Londons National Library üblich ist); sichtbarlich gabs da nicht Loch noch Lück. Hinzu kam, und das macht stutzig: anordnungsmäßig sah man gar nicht, daß das Buch nicht da war, was daran lag, daß man absichtlich vorn mit Nr. fünfundzwanzig anfing und folglich Nr. fünf fast ganz am Schluß stand, wo kaum noch ’n Aas hinkam. Nur falls du am Schwanz anfängst – nach ’m Motto, wonach man manchmal das Roß aufzäumt – und dich rückwärts von Buch zu Buch durchzählst und auch nichts davon ausläßt, dann fällt dir auf, daß Band fünf gar nicht da ist.

Gut. Anton griff sich so’n Foliant, schlug ihn auf (dacht, daß dort Lösung auf ihn harrt, hofft, daß ihm da zufällig in’n Schoß fällt, wonach man manchmal lang, lang sucht), d.h. Anton wills tun, doch kanns nicht, da Antons Arm nicht so lang und das Buchbord zu hoch ist; so kams, daß das Buch samt Inhalt für Anton tabu war. Das läßt ihm natürlich nicht Ruh noch Rast, und bald sah Anton im Buch ’n Kolossal-ABC, was so falsch auch nicht war, mal Koran, Talmud, Thora, kurzum das Groß-Opus, Angstmachbilanz quasi von Allmacht und Durchblick …

Doch da war ’n Manko. Da war ’n Ausfall, ’n Spalt, ’n Loch, wovon man nichts wußt, das man nicht sah, das dich blind macht. Da war plötzlich was fort, war aus Blick und Sinn. Manchmal kams auch vor, daß Anton im Tagblatt Ansammlung von Horrorinformation sah:

 

KP-AUSLÖSCHUNG DURCH JUSTIZ
PARIS IM AUGUST:
TROSTLOS MIT TOURISTIKBANDWURM!

Für Frachtstück, Postsack und Stückgut:
Nicht Strick noch Schnur, nur Band.

SAG JA ZUM T-SABAND!

 

 

BANKROTT MIT SCHIMPF FÜR

SNOB, PROTZ UND CO.

 

Manchmal sprang ihn auch das Bild von Didi an, vom Dorfidiot, dumm und blöd, wo zwar Unsinn quatscht, doch sonst wirklich harmlos ist: man lacht, sobald man ihn sah, man warf nach ihm, macht ihm Angst, ’n Bub pappt ihm ’n winzig Huhn ans Wams und ruft dann: »Das Huhn ist tot, das Huhn ist tot!« »Blöd«, brummt Anton dann. Doch blöd und irr und gaga war auch das Bild, das kurz darauf vor ihm auftaucht, das Bild vom Individuum, das sich lässig ins »Braustübl« schlich. Nun, Anton hat nicht nur das Bild vor sich, ihm dringt auch Stimmwirrwarr ins Ohr, und so hört Anton Wort für Wort und ganz klar, was man sagt, obwohls doch nur Halluzination ist (sagt man, doch auch das ist nicht förmlich, schlagt mich also nicht dafür tot):

 

Stimmlaut vom Typ, wo nun am Tisch sitzt (und mürrisch bzw. martialisch vor sich hin guckt): Hallo, Flunki!

Stimmlaut vom Barman (wo hört, daß Nachtigall tapst): Tag, Major!

Stimmlaut vom Major (glücklich, daß man auf ihn hört, obwohl provisorisch in Zivil): Tag, Flunki, Tag!

Stimmlaut vom Barman (wo vormals das Ami-Idiom als Autodidakt und im Volkshochschulkurs paukt): What can I do for you?

Stimmlaut vom Major (schon rinnts ihm wäßrig ausm Mund): Mach mir ’n Porto-Flip.

Stimmlaut vom Barman (plötzlich ganz traurig): Was? ’n Porto-Flip?

Stimmlaut vom Major (nickt): Ja doch, ’n Porto-Flip!

Stimmlaut vom Barman (wo trüb und schmählich guckt): So was … gibts … in … Bars … nicht …

Stimmlaut vom Major (springt auf): Was! Nicht mal ’n Jahr ist um, da trank ich da, vor dir, zwo Porto-Flips!

Stimmlaut vom Barman (ganz schwach): Ja, damals gabs das noch, doch nun …

Stimmlaut vom Major (braust zornig auf): Du hast doch Porto, nicht wahr?

Stimmlaut vom Barman (schon halb tot): Ja, schon … doch …

Stimmlaut vom Major (platzt los): Also was? Na? Du hast doch auch …

Stimmlaut vom Barman (stirbt nun ganz und gar): Aaaaaaah!! Pst!! Pst!!

Tod vom Barman.

Stimmlaut vom Major (amtlich): Rigor mortis.

Tritt ab und flucht ganz bös auf Barmans Tod.

Voyl war nicht ständig so humorvoll (man sah anfangs nur ’n Anflug von Humor). Manchmal kam ihn Angst an, dann schrak Voyl auf, Furcht im Blick und mit Klopfpuls. Ihm war so, als ob ihn was anspringt, Gnom? Sphinx? Unauslotbar.

Tag für Tag, Monat um Monat braut Halluzination und Irrsinn das Gift, das Opium, das ihm Nahrung ist und ihn bald völlig im Griff hat.

 

Nachts lag Voyl mal im Kabuff, als jäh das Bild vom Kornwurm bzw. vom Holzbock vor ihm stand, wo sich am Bullaug abmüht und doch nicht hochkommt (ja, das gibts), und das macht ihm mächtig Angst, da Voyl im Animal, ob Wurm, ob Bock, das Symbol von Unglück und Not sah.

Bald darauf sah sich Voyl, kafkaähnlich (man las das nämlich oft in Kafkas Storys), stumm und lahm im Sarg (tatsächlich wars das Sofa, doch Täuschung ist für ihn normal), trug als Kluft ’n Brustharnisch aus Zinn und Stahl und kam sich völlig hilflos vor. Und war an Kopf und Stirn natürlich naß vor Angst. Brüllt laut, doch nichts rührt sich, und hilflos starrt Voyl nachtwärts. Ihm war zu warm. Mit trifingrig Hand macht sich Voyl Luft, doch kühlt ihn das nicht ab. Im Haus ists still, nur dann und wann das Klopfklopf vom Lavabo, das rinnt. Was wird nun aus ihm? Ists nur Zukunftsmusik, daß man mal auf ihn achtsam wird, ihn sucht, nach ihm schaut? Gabs da ’n Wort, das ihm Trost wär? Voyl schnappt nach Luft. Bald ists aus mit mir, gings ihm durchs Hirn. Im Hals wird ihm ganz komisch. Voyl glaubt, man sägt ihm das Stimmband durch, und brüllt wild SOS. Doch was aus ihm rauskommt, ist kläglich und tonlos. Kränklich und stumm grinst Voyls Mund. Hals und Stirn sind blau von Spannung und Druck. Voyl stöhnt. Als wär Voyl ’n Kalb, das man absticht, läuft das Naß an ihm ab. Brust und Bauch drückt Last und Qual. Voyl fühlt sich unwohl, sagt sich, nun ist bald Schluß mit mir, sah sich als Moribundus schon und sonst noch was. Schwarz war das Blut, das faulig ausm Ohr ihm troff. Schwach und waidwund schnappt Voyl nach Luft. Links am Arm ’n Mordsding, dick und prall von Blut. Dann und wann spritzt Rotz und Butz raus.

Voyl schmolz dahin, ward dünn und nahm täglich gut zwo Kilo ab. Statt Hand hat Voyl ’n Stumpf am Arm. Das Antlitz, rund zuvor, schrumpft stündlich fast, am Hals hängt Haut, schlaff und dürr. Aufm Bauch, bis hinauf zur Brust, suhlt sich tückisch und falsch so ’n Lindwurm, Boa constrictor bzw. Python, schlingt sich um ihn rum, schnürt ihn zu, drückt ihm aufn Brustkorb. Und manchmal hört man da so’n Ton, wo dir durch und durch fährt, als malmt man Voyls Rumpf zu Mark und Mus. Voyl ruft laut, doch stimmlich kommt nichts aus ihm raus.

Da wird ihm klar: mit dir ists aus, Tod ist dir nah. Doch um ihn rum ahnt man nichts davon, gibt man sich sorglos. Abwärts gings mit ihm, bald war Schluß und nicht Pastor noch Kaplan in Sicht für Absolution und Trost.

Hoch am Azur schaut Voyl schon Polarfalk, Blaufuß, Raro, Smirill, Habicht, Bussard, Aar, mit Blick auf ihn. Das Aasvolk sah in ihm nur Fraß und Nahrung, bald schon tilgbar, so hoffts. Rings um ihn, um das Sofa rum, das ihm nun zum Sarg wird (als Bild natürlich völlig schräg, man wirft das Sofa nicht ins Loch): Mungo, Maus, Fuchs, Wolf, Bär, Mops, Frosch, Molch, wild auf ihn, sobald mal tot und starr, halbfaul, stinkig, kurzum, wild auf ihn als Aas. ’n Bussard stürzt sich auf ihn, und ’n Saharaschakal läuft auf ihn zu.

Ich bin zu imaginativ, sinnt Voyl mal in Angst, mal voll Spaß. Ist doch toll, was aus dir noch wird: Schakalslunch, Spitzmausration, Polarfraß. Das ist nun mal so, da machst du nichts dran. Das sah schon Arthur so und Buddha längst vor ihm. Willst du davon fort, gibts nur Absolutsstopp für sofort und künftig, kurzum, das Nirwana. Doch sobald du tot bist, sagt sich Voyl dann, machts dir nichts aus, ob du Aas bist und Fraß (vormals las Voyl oft Malcolm Lowry), Gott wills so, und was Gott will, so hört man, ist gut. Und damit gab Voyl Amphitryons Wunsch nach.

Voyl sah sich nicht als Simulant und fand doch schlimm, was ihn da so krankhaft anzog. Für ihn war das Signal und Notruf, war was, das ängstlich macht und hoffnungsfroh. »Bin ich mal dort (und Voyl schaut hoch), dann hab ich Ruh!« Woraufs ihm ankam, war das:

Nicht Tod (obwohl doch ständig mit dir ist) noch Dammnis (obwohl auch Dammnis ständig in dir ist) macht ihm angst, doch dafür Auslassung: das Nichts, das Nirwana, das Loch.

All das ist sichtlich normal, all das ist sichtlich wohlauf, all das ist sichtlich signifikant, doch schaut man ganz nah hin, kratzt am Wort, machts sichtbar für dich und mich, formts zum Satz, auf daß das Wort nicht nur Talisman ist und Schutzschild, voll Naivität, dann kommt das Chaos ganz und gar ans Licht: ja, all das ist sichtlich...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2018
Reihe/Serie diaphanes Broschur
Übersetzer Eugen Helmlé
Verlagsort Zürich-Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Avantgarde • Französische Literatur; Oulipo; Gegenwartsliteratur; Sechziger Jahre; experimentelle Literatur • Krimi • Literatur • Oulipo
ISBN-10 3-03734-406-7 / 3037344067
ISBN-13 978-3-03734-406-4 / 9783037344064
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