Vienna (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
432 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30660-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vienna -  Eva Menasse
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»Ein bedeutsamer, aus der aktuellen Literatur herausragender Roman« Die ZeitSo hat lange niemand mehr erzählt - Eva Menasses Familiensaga fängt von Wien aus ein ganzes Jahrhundert ein. Von der Vergangenheit bleibt nur, was erzählt wird. Eva Menasse macht das Erinnern zum Ausgangspunkt des Erzählens und entwirft mit den fulminanten Geschichten einer Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln den Bilderreigen einer Epoche. »Mein Vater war eine Sturzgeburt«: Kopfüber, wie die Hauptfigur, fällt der Leser in diesen Roman und erlebt, wie die Großmutter über ihrer Bridge-Partie beinahe die Geburt versäumt. So kommt der Vater der Erzählerin zu Hause zur Welt, ruiniert dabei den kostbaren Pelzmantel und verhilft der wortgewaltigen Familie zu einer ihrer beliebtesten Anekdoten. Hier, wo man permanent durcheinander redet und sich selten einig ist, gilt der am meisten, der am lustigsten erzählt. Fragen stellt man besser nicht, obwohl die ungewöhnliche Verbindung der Großeltern, eines Wiener Juden und einer mährischen Katholikin, im zwanzigsten Jahrhundert höchst schicksalsträchtig ist. So verschlägt es deren drei Kinder auf der Flucht vor den Nazis in die Welt. Während der eine in England Fußballer wird und der andere sich im Dschungel von Burma als Soldat durchschlägt, geht die schöne Schwester Katzi in Kanada verloren. Über sie wird später am Familientisch auffällig geschwiegen, lieber redet man vom legendären Onkel Königsbee, der mit Wortverdrehungen wie »Das ist nicht meine Dämone« unsterblich geworden ist. Doch als die Enkel beginnen, Fragen zu stellen, zerrinnt ihnen das einzige Erbe, der tragikomische Geschichtenfundus, zwischen den Fingern. Eva Menasse beeindruckt mit einem Ensemble hinreißender Figuren und unerwarteten Begebenheiten und zeigt wie nebenbei das Entstehen und den Zerfall von Familiengeschichte und Identität.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.

Anfang


Mein Vater war eine Sturzgeburt. Er und ein Pelzmantel wurden Opfer der Bridgeleidenschaft meiner Großmutter, die, obwohl die Wehen einsetzten, unbedingt noch die Partie fertigspielen mußte. Bis auf ein einziges dramatisches Mal hat meine Großmutter alle Partien ihres Lebens fertiggespielt, denn eine Partie in der Mitte abzubrechen war unzumutbar. Deshalb hätte sie über den Karten beinahe die Geburt meines Vaters versäumt. Oder besser gesagt: Deshalb wäre mein Vater beinahe unter einem mit grünem Filz bespannten Kartentisch zur Welt gekommen, was übrigens seinem Charakter und seinem Lebensweg gar nicht schlecht entsprochen hätte.

Das einzige, was meiner Großmutter im Leben Freude machte, war Bridge. Sie saß, wie an fast jedem Tag seit jenem, an dem sie meinen Großvater geheiratet hatte und aus einem kleinen mährischen Dorf nach Wien gezogen war, mit ihren Bekannten im Café Bauernfeind und spielte. Das war ihre Art, mit der Welt, die ihr selten behagte, fertig zu werden. Sie verschloß davor die Augen, ging ins Kaffeehaus und spielte Bridge.

An jenem Tag, als mein Vater geboren wurde, verzögerte sich die Partie. Es wurde noch Kaffee bestellt. Die Wehen schienen nicht stärker zu werden, und die Bridgepartnerinnen meiner Großmutter kümmerten sich ohnehin nicht darum. Beim Abrechnen brach der rituelle Streit unter den Spielerinnen aus. Eine zahlte ihre Spielschulden nie gleich, sondern bat immer um Aufschub und stiftete dadurch Verwirrung. Dabei ging es bloß um ein paar Groschen. Manchmal gelang es einer vielleicht, einen Schilling zu gewinnen, doch den war sie am nächsten Tag bestimmt wieder los. Im gesamten gesehen gab es kein signifikantes Ergebnis. Trotzdem zeterten sie und machten einander Vorhaltungen. Zwei von ihnen konnten nicht besonders gut rechnen, die anderen beiden, darunter meine Großmutter, sahen schlecht, gaben es aber nicht zu.

Diejenige, die immer die Abrechnung führte, war eine von denen, die nicht rechnen konnten. Sie verwechselte oft die Kolonnen, ob aus Konzentrationsmangel oder aus Unredlichkeit, weiß heute niemand mehr. Denn sie irrte sich auch zu ihren eigenen Ungunsten. Darüber hinaus hatte sie eine sehr kleine, verschnörkelte Schrift, gerade bei Ziffern.

Die dritte, die immer Kredit wünschte, war nur bereit, ihre Schuld vom vorvergangenen Tag zu bezahlen. Am vergangenen Tag hatte sie auch verloren, aber mehr. Und am meisten verlor sie an jenem Tag, an dem mein Vater geboren werden sollte. Das nun wollte sie aber am allerwenigsten bezahlen. Von der vierten weiß ich nichts.

Der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹ kam lange nicht. Er war ein stadtbekannter Feschak, und die Damen, mit Ausnahme meiner Großmutter, pflegten mit ihm kindisch zu kokettieren. Meine Großmutter kokettierte nie. Irgend etwas in ihr war schon früh erfroren, sie war eine blasse, rotblonde Schönheit, die der Welt bloß ironische Strenge zeigte. Sie tobte nur zu Hause. Ihr Busen war sagenhaft. Der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹ behandelte sie ausgesucht. Er war mindestens zehn Jahre jünger als sie, und wobei sich die Bridgepartnerinnen ihn und meine Großmutter gerne vorstellten, hätten sie bei ihrer Seele nicht laut gesagt, nicht einmal heimlich, zueinander. Dabei hatte der Zahlkellner vom ›Bauernfeind‹ wahrscheinlich bloß Respekt vor der Unnahbarkeit meiner Großmutter, und sie hat ihn vielleicht niemals richtig bemerkt. Am Tag der Geburt meines Vaters bemerkte sie nur ärgerlich, daß er nicht kam. Die Damen kramten in ihren Börsen und rutschten auf den Plüschbänken hin und her. Meine Großmutter wurde nervös. Es wurde dunkel, und die Wehen wurden stärker.

 

Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte.

Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft so machen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingen sollte. Die Einstellung meiner Großmutter zu dieser letzten Schwangerschaft und diese Geburt selbst erforderten es allerdings besonders, sich von Anfang an so normal wie möglich zu verhalten. Denn meine Großmutter, bereits über vierzig, hatte dieses dritte Kind nicht haben wollen. Sie hatte mit Stricknadeln, heißen Sitzbädern und mit Vom-Tisch-Springen versucht, es loszuwerden. Sie erzählte das später gern.

Aber mein Vater war den Stricknadeln ausgewichen und hatte sich bei den Sprüngen angeklammert, so müsse es gewesen sein, sagte man in meiner Familie später immer und nickte dazu. Über die heißen Bäder sagte man nichts. Er wollte es ihr dann recht machen, indem er schnell und schmerzlos herausrutschte, aber meiner Großmutter hat es selten jemand recht machen können. Mein Vater hatte die Bridgepartie verdorben und er verdarb den schwarzen Persianer, eines der großzügigen Geschenke, mit denen mein Großvater seine zahllosen Seitensprünge zu sühnen versucht hatte. Meine Großmutter geruhte diese Geschenke wortlos anzunehmen und ins Kaffeehaus zu gehen, um Bridge zu spielen.

Meine Großmutter schrie, weil die Hebamme noch nicht da war. Weil das Kind noch an der Nabelschnur hing und alles voll Blut war. Weil mein Großvater weder in der Lage schien, das ältere Kind, meinen Onkel, aus dem Zimmer zu entfernen, wie meine Großmutter es für passend gehalten hätte, noch sich anzuziehen und einen Arzt oder die Hebamme holen zu gehen.

Mein Großvater, dessen Lieblingstonart eigentlich das halblaute, mürrische Schimpfen war, das man in Wien »keppeln« nennt, schrie, weil meine Großmutter schrie. Anders hätte er sich kaum Gehör verschafft. Außerdem lagen auch seine Nerven bloß. Das Bild, das sich ihm auf seinem Ehebett bot, war ebenso grotesk wie faszinierend. Es muß ein wenig an die griechische Mythologie erinnert haben, von der mein Großvater allerdings keine Kenntnis hatte: Ein Wesen, halb schwarzes Schaf, halb Mensch, hatte geboren. Denn aus Scham vor ihrem Mann und ihrem Sohn hielt meine Großmutter den Pelzmantel über ihrem Unterleib fest geschlossen. Sie lag halb eingerollt auf der Seite und umfing mit ihrem Körper meinen Vater, von dem nur der Kopf aus dem Mantel sah und der vor dem schwarzen, pelzigen Hintergrund besonders blutig und neugeboren wirkte.

»Du bist an allem schuld«, schrie meine Großmutter, »du hast mich zu spät abgeholt!«

»Wo ist mein Schal«, schrie mein Großvater von der Tür her, »du hättest früher nach Hause gehen sollen!«

»Du hast mir dieses Kind angehängt«, schrie meine Großmutter, »im Kasten neben der Tür!«

»Wahrscheinlich hast du unbedingt die Partie zu Ende spielen müssen«, schrie mein Großvater, »in welchem Kasten?«

»Mit welcher Schickse hast du dich herumgetrieben«, schrie meine Großmutter, »du Blinder, neben der Tür, hab ich gesagt!«

»Geh, gib a Ruh«, sagte mein Großvater resigniert, der seinen Schal gefunden hatte und sich anschickte zu gehen. Denn wie jeder wußte, der ihn auch nur ein bißchen kannte, waren alle seine Geliebten immer jüdisch und übrigens meistens ebenfalls verheiratet. Noch nie hatte er mit einer Schickse ein Verhältnis gehabt. Er kannte nur eine einzige Schickse näher – die Frau, mit der er verheiratet war.

Unter diesen Umständen kam mein Vater zur Welt: als Sohn eines jüdischen Vertreters für Weine und Spirituosen und einer katholischen Sudetendeutschen, die aus der Kirche ausgetreten war.

 

Ein paar Wochen später kam die Tante Gustl, eine der Schwestern meines Großvaters, um das Kind zu begutachten. Die Tante Gustl hatte einen reichen Christen geheiratet und benahm sich seither wie eine große Dame. Ihr Vater, mein Urgroßvater, hatte schon die konfessionsübergreifende Wahl seines Sohnes, meines Großvaters, zu einem Familienskandal gemacht. Obwohl meine Großmutter aus der Nähe von Freudenthal und nicht aus Bratislava stammte, begann er, wenn die Rede auf sie kam, mißmutig den alten Schüttelreim zu deklamieren: »Zum Vesuv ging a Bratislavaer Gojte, damit sie dort gratis Lava erbeute.« Man pflegte nur den notwendigsten Kontakt. Die Eltern meines Großvaters, die aus Tarnów stammten, waren dort geblieben, wo die Einwanderung sie angespült hatte: auf der »Mazzesinsel«, ganz nah beim Augarten, in einer dieser grauen Gassen, wo es auch im Sommer kühl und feucht ist und die Stiegenhäuser nach Moder und Kohl riechen. »Fischhändler und Fromme«, sagte mein Großvater verächtlich, »geschmacklos, billig und doch ordinär.« Er zog nach Döbling, in den Bezirk der Ärzte und Rechtsanwälte, der Notare und Opernsängerinnen, der Hausherren und Seidenfabrikanten. Daß er sich nur den Döblinger Rand, nah beim Gürtel, leisten konnte, fiel nicht ins Gewicht. Denn trotzdem blieb es Döbling.

Als die Tante Gustl ihren Vater von ihrer bevorstehenden Heirat unterrichtete, vertraute sie darauf, daß der laute, furchterregende Skandal von einst inzwischen zu einem kleinen, depressiven Zusammenbruch geschrumpft sein würde, denn die Tante Gustl war von Jugend an äußerst abgebrüht. »Is er a Jud?« fragte ihr Vater, und er muß der Tante Gustl in diesem Moment herrlich schwach und hilflos erschienen sein. Sie trug den neuen Fuchs mit den blinkenden...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2012
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Ein Buch für die Stadt Köln • Eva Menasse • Familie • Familiensaga • Flucht • Generationen • Identität • Jüdisch • Kiepenheuer & Witsch • Köln • Nationalsozialismus • Roman • Schicksal • Zeit-Geschichte
ISBN-10 3-462-30660-X / 346230660X
ISBN-13 978-3-462-30660-6 / 9783462306606
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