Der weite Weg nach Hause (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
490 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74120-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der weite Weg nach Hause -  Rose Tremain
Systemvoraussetzungen
10,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Lev ist ein Glückssucher: Er ist nach London gekommen, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Fremd und einsam denkt er zurück an seine jung verstorbene Frau Marina, seine kleine Tochter Maya und die verrückten Erlebnisse mit seinem Freund Rudi. Doch Lev ist entschlossen, sich eine Zukunft zu erkämpfen: Er entdeckt ein ungeahntes Talent, findet Freunde und sogar eine neue Liebe. Kraftvoll und klar, voller Menschlichkeit, Herzenswärme und befreiendem Humor erzählt Rose Tremain von einem, der akzeptieren muß, daß bei jedem Aufbruch etwas zurückbleibt.

<p>Rose Tremain wurde 1943 geboren und wuchs in London auf.<strong> </strong>Sie studierte ein Jahr lang an der Pariser Sorbonne, ging zurück in ihre Heimat und begann ein Anglistikstudium an der University of East Anglia in Norwich, das sie 1967 abschloss. Dort lehrte sie später von 1988-1995 als Dozentin <em>creative writing</em>. Vorher war sie Lehrerin an einer Privatschule für Jungen. Rose Tremain veröffentlichte Romane, Kurzgeschichten, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman <em>Zeit der Sinnlichkeit </em>wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (<em>Restoration</em>). Ihr Roman <em>The Road Home</em>, der im Suhrkamp Verlag unter dem Titel <em>Der weite Weg nach Hause </em>erschien, wurde 2008 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Tremain lebt mit ihrem Lebenspartner, dem Biographen Richard Holmes, in London und Norwich. Im Jahr 2020 wurde sie von der Queen in den Adelsstand erhoben. Ihr Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp und Insel Verlag.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Der weite Weg nach Hause 5
Motto 7
Widmung 8
1 Wichtige Zigaretten 9
2 Die Diana-Karte 30
3 »Ein Mann mag weit reisen, aber sein Herz hält nicht Schritt« 49
4 Elektrisches Blau 70
5 Zwei Komma fünf Meter Abtropffläche aus Stahl 94
6 Elgars bescheidene Anfänge 117
7 Die Eidechsentätowierung 140
8 Notwendige Schocks 154
9 Wieso sollte ein Mann sich nicht für das Glück entscheiden? 173
10 »Die reinste Anarchie hier …« 188
11 Rückwärts fließen 210
12 Ein Besuch im Museum für Rettungsboote 229
13 Der Höhepunkt 252
14 Hopp, hopp … 273
15 Neun Uhr abends 291
16 Alle außer Hamlet ab 308
17 Das Nobelfräulein der Gemüsewelt 330
18 Fast wie ein Geruch 350
19 Das Zimmer der bunten Gläser 369
20 Darlehen für Träume 393
21 Fotos anschauen 413
22 Das letzte Biwak 433
23 Kommunistisches Essen 453
24 Podrorskystraße 43 473
Danksagung 491
Quellennachweise 492
Inhalt 493

1
Wichtige Zigaretten


Im Bus suchte Lev sich einen Platz ganz hinten, und er lehnte sich ans Fenster und starrte hinaus auf das Land, das er verließ: auf die vom trockenen Wind verdorrten Sonnenblumenfelder, die Schweinefarmen, die Steinbrüche und Flüsse und auf den wilden Knoblauch, der grün am Straßenrand wuchs.

Lev trug eine Lederjacke und Jeans und eine tief ins Gesicht gezogene Lederkappe, sein hübsches Gesicht war grau vom Rauchen, und in seinen Händen hielt er ein altes rotes Baumwolltaschentuch und ein zerdrücktes Päckchen russischer Zigaretten. Bald würde er 43 Jahre alt sein.

Nach einigen Kilometern, die Sonne ging gerade auf, zog Lev eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen, und die Frau, die neben ihm saß, eine pummelige, zurückhaltende Person mit Leberflecken im Gesicht, die wie Schmutzspritzer aussahen, sagte sofort: »Entschuldigen Sie, aber in diesem Bus ist Rauchen nicht erlaubt.«

Das wusste Lev, hatte es schon im Voraus gewusst und versucht, sich seelisch auf die lange Qual vorzubereiten. Aber selbst eine unangezündete Zigarette war eine Gefährtin ? etwas zum Festhalten, ein Versprechen ?, und das einzige, wozu er sich jetzt bereit fand, war, zu nicken, einfach um der Frau zu zeigen, dass er sie verstanden hatte, um ihr zu signalisieren, dass er keinen Ärger machen würde; denn sie würden noch fünfzig Stunden oder länger nebeneinander sitzen müssen, mit ihren jeweiligen Schmerzen und Träumen, wie ein verheiratetes Paar. Sie würden einander schnarchen oder seufzen hören, würden riechen, was beide zu essen und zu trinken mitgenommen hatten, spüren, wie groß ihre Furcht oder ihre Unbekümmertheit war, würden kleine Unterhaltungsversuche wagen. Und später, wenn sie endlich in London angekommen wären, würden sie sich wahrscheinlich fast ohne Worte oder Blicke trennen, würden, jeder für sich, in einen regnerischen Morgen hinaustreten und ein neues Leben beginnen. Und Lev wusste, dass all dies seltsam, aber notwendig war und ihm schon etwas über die Welt verriet, in die er fuhr, eine Welt, in der er bis zum Umfallen arbeiten würde ? wenn sich denn eine solche Arbeit finden ließ. Er würde sich von anderen Menschen fernhalten, würde Ecken und Winkel finden, wo er sitzen und rauchen könnte, würde zeigen, dass er keine neue Heimat brauchte, dass sein Herz in seinem eigenen Land blieb.

Es gab zwei Busfahrer. Diese Männer würden sich mit Fahren und Schlafen abwechseln. Es gab eine Bordtoilette, weshalb der Bus nur zum Tanken haltmachen würde. An den Tankstellen würden die Passagiere vielleicht aussteigen, ein paar Schritte tun, Wildblumen an einem Seitenstreifen, schmutziges Papier in den Büschen, Sonne oder Regen auf der Straße betrachten. Sie würden die Arme recken, dunkle Brillen gegen den Ansturm natürlichen Lichts aufsetzen, nach einem Kleeblatt Ausschau halten, rauchen oder vorbeifahrende Autos anstarren. Dann würden sie zurück in den Bus getrieben werden, würden ihre alten Haltungen wieder einnehmen, sich wappnen gegen die nächsten paar hundert Kilometer, gegen den Gestank eines weiteren Industriegebiets oder das plötzliche Aufglänzen eines Sees, gegen Regen und Sonnenuntergang und das Nahen der Dunkelheit über stillem Sumpfland. Zwischendurch würde es Zeiten geben, in denen die Reise scheinbar kein Ende nehmen würde.

Im Sitzen zu schlafen war etwas, das Lev nicht gewohnt war. Die Alten schienen es zu können, aber 42 war noch nicht alt. Levs Vater Stefan hatte manchmal im Sitzen geschlafen, im Sommer, auf einem harten Holzstuhl, während seiner Mittagspause in der Baryner Sägemühle, wenn die Sonne auf die in Papier gewickelten Wurstscheiben auf seinem Knie und seine Thermoskanne mit Tee brannte. Stefan und Lev konnten beide ausgestreckt auf einem Heuhaufen oder einem Moosteppich im Wald schlafen. Häufig hatte Lev auf einem Flickenteppich neben dem Bett seiner Tochter geschlafen, wenn sie krank war oder sich fürchtete. Und als seine Frau Marina im Sterben lag, hatte er fünf Nächte lang zwischen Marinas Krankenhausbett und einem Vorhang mit rosa- und lilafarbenen Gänseblümchen geschlafen, auf einem Stück Linoleum, nicht breiter als sein ausgestreckter Arm, und der Schlaf war auf eine verwirrende Weise gekommen und gegangen und hatte seltsame Bilder in Levs Gehirn gemalt, die nie ganz verschwunden waren.

Gegen Abend, nach dem zweiten Tanken, wickelte die leberfleckige Frau ein hart gekochtes Ei aus. Sie pellte es schweigend. Der Eigeruch erinnerte Lev an den schwefligen Frühling in Jor, wohin er mit Marina gefahren war, für den Fall, dass die Natur heilen könnte, was der Mensch endgültig aufgegeben hatte. Marina hatte ihren Körper gehorsam in das schaumige Wasser getaucht, hatte dagelegen und beobachtet, wie die Störchin in ihr hohes Nest zurückkehrte, und zu Lev gesagt: »Wenn wir doch Störche wären.«

»Warum sagst du das?« hatte Lev gefragt.

»Weil man nie Störche sterben sieht. Es ist, als stürben sie nicht.«

Wenn wir doch Störche wären.

Auf den Knien der Frau war eine saubere Baumwollserviette ausgebreitet, und mit ihren weißen Händen strich sie sie glatt und packte Roggenbrot und etwas Salz aus.

»Ich heiße Lev«, sagte Lev.

»Ich heiße Lydia«, sagte die Frau. Und sie schüttelten einander die Hand, Lev hielt in seiner noch das zusammengeknüllte Taschentuch, und Lydias war ganz rau vom Salz und roch nach Ei, und dann fragte Lev: »Was haben Sie in England vor?«, und Lydia sagte: »Ich habe ein paar Vorstellungsgespräche für eine Stelle als Übersetzerin.«

»Das klingt vielversprechend.«

»Hoffentlich. Ich habe an der Schule 237 in Yarbl Englisch unterrichtet, deshalb spreche ich es fließend.«

Lev schaute Lydia an. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie vor einer Klasse stand und Wörter an die Tafel schrieb. Er sagte: »Aber wieso verlassen Sie dann unser Land, wenn Sie an der Schule 237 in Yarbl eine gute Stelle hatten?«

»Ach«, sagte Lydia, »ich war den Blick aus meinem Fenster so leid. Jeden Tag, im Sommer wie im Winter, sah ich auf den Schulhof und den hohen Zaun und den Wohnblock dahinter, und ich fing an, mir auszumalen, dass ich das alles noch im Sterben sehen würde, und das wollte ich nicht. Sie verstehen sicher, was ich meine?«

Lev nahm seine Lederkappe ab und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes graues Haar. Er sah, wie Lydia sich für einen Moment zu ihm hindrehte und ihm sehr ernst in die Augen blickte. Er sagte: »Ja, das verstehe ich.«

Dann schwiegen beide, während Lydia ihr hart gekochtes Ei aß. Sie kaute sehr leise. Als sie aufgegessen hatte, sagte Lev: »Mein Englisch ist gar nicht so schlecht. Ich habe in Baryn Stunden genommen, aber mein Lehrer meinte, meine Betonung sei nicht besonders gut. Darf ich ein paar Wörter sagen, und Sie sagen mir, ob ich sie korrekt ausspreche?«

»Ja, natürlich«, sagte Lydia.

Lev sagte auf Englisch: »Herrlich. Entschuldigung. Ich bin legal. Wie viel kostet das, bitte? Vielen Dank. Was können Sie für mich tun?«

»Was kann ich für Sie tun«, verbesserte Lydia.

»Was kann ich für Sie tun«, wiederholte Lev.

»Fahren Sie fort«, sagte Lydia.

»Storch«, sagte Lev. »Storchennest. Regen. Ich habe mich verirrt. Ich brauche einen Übersetzer. Bier und Bier.«

»Bier und Bier?« sagte Lydia. »Nein, nein. Sie meinen wohl ›bye-bye‹, auf Wiedersehen.«

»Nein«, sagte Lev. »Bier und Bier. Familienpension, ziemlich billig.«

»Ach ja, richtig. B & B, die Frühstückspensionen.«

Lev konnte jetzt sehen, wie es hinter dem Fenster immer dunkler wurde, und er dachte daran, wie die Dunkelheit auf immer dieselbe Weise in sein Dorf gekommen war, aus derselben Richtung, über dieselben Bäume, ob früh oder spät, ob im Sommer, Winter oder Frühling, sein ganzes Leben lang. So wie dort in Auror würde der Einbruch der Dunkelheit ? in Levs Herz ? für immer aussehen.

Und deshalb erzählte er Lydia, dass er aus Auror komme, in der Baryner Sägemühle gearbeitet habe, bis die vor zwei Jahren schloss, und dass er seitdem überhaupt keine Arbeit mehr gefunden habe und seine Familie ? seine Mutter, seine fünfjährige Tochter und er ? von dem Geld lebe, das seine Mutter mit dem Verkauf von Schmuck aus Blech verdiene.

»Oh«, sagte Lydia. »Wie erfinderisch, Schmuck aus Blech zu machen.«

»Ja, schon«, sagte Lev. »Aber es reicht nicht.«

In seinem Stiefel steckte eine kleine Flasche Wodka. Er zog die Flasche heraus und nahm einen tiefen Schluck. Lydia aß weiter ihr Roggenbrot. Lev wischte sich den Mund mit dem roten Taschentuch ab und sah, dass sein Gesicht sich in der Fensterscheibe spiegelte. Er schaute weg. Seit Marinas Tod mochte er sein Spiegelbild nicht mehr, denn stets erblickte er darin nur seine Schuld, selbst noch am Leben zu sein.

»Warum hat die Sägemühle in Baryn geschlossen?«, fragte Lydia.

»Ihnen gingen die Bäume aus«, sagte Lev.

»Wie furchtbar«, sagte Lydia. »Was können Sie denn sonst noch?«

Lev nahm einen weiteren Schluck. Jemand hatte ihm erzählt, in England sei der Wodka zu teuer zum Trinken. Immigranten würden ihren eigenen Alkohol aus Kartoffeln und Leitungswasser brauen, und während Lev über diese fleißigen Immigranten nachsann, malte er sich aus, wie sie in einem großen Haus um ein Feuer im Kamin saßen, redeten und lachten, während draußen vor dem Fenster der Regen fiel und rote Busse vorbeifuhren und der Fernseher in einer Zimmerecke flimmerte. Er seufzte und sagte: »Ich...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2012
Übersetzer Christel Dormagen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte Belletristische Darstellung • Bewohner • Dorf • Heimatlosigkeit • insel taschenbuch 4037 • IT 4037 • IT4037 • Kulturkonflikt • London • Osteuropa • Osteuropäer • Rückkehr • Staudamm • Umsiedlung
ISBN-10 3-518-74120-9 / 3518741209
ISBN-13 978-3-518-74120-7 / 9783518741207
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Zusätzliches Feature: Online Lesen
Dieses eBook können Sie zusätzlich zum Download auch online im Webbrowser lesen.

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99