Einfach essen! -  Thomas A. Vilgis

Einfach essen! (eBook)

Gegen den Ernährungswahn in unseren Köpfen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-2859-2 (ISBN)
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Über Essen und Lebensmittel wird viel gesprochen, geschrieben und gesendet. Im Fernsehen auf Bühnen in Zeitungen wird mit einem bunten Allerlei über Essen geschwurbelt und leider oft auch bessergewusst. Die meisten Diskussionen werden leider ideologisch geführt. Was aber steckt wirklich dahinter? Wie viel von den Worten müssen wir wirklich glauben? Wo befinden sich die Trennlinien von Fakten und Esoterik, von Wissen und Glauben? lässt sich ein naturwissenschaftlich getriebener Leitfaden für Essen und Genuss erstellen, der kulturelle oder soziologische Aspekte keineswegs vernachlässigt. Gerade die Evolution lehrt uns die Ursprünge des Geschmacks.

Prof. Dr. Thomas Vilgis ist Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. Er leitet dort eine Arbeitsgruppe zur Theorie der Weichen Materie und eine experimentelle Gruppe zu »Soft Matter Food Physics«. Über seine Erfahrungen beim Kochen schreibt er in verschiedenen Medien und ist Mitherausgeber des Journal Culinaire. Bei Hirzel hat er bereits Die Molekül-Küche und Die Molekülchen-Küche veröffentlicht. Sein Credo: Kreativität ist sowohl in der Küche als auch in der Wissenschaft die Zutat Nummer eins.

Das erste Mal, als Essen in der Menschheitsgeschichte spannend wurde, ist etwa 4,5 Millionen Jahre her. Zu dieser Zeit kam für einen Teil der Menschenaffen der »Obstler« ins Spiel. Zuvor war die Nahrungsaufnahme sehr einfach. All das, was man auf dem Boden, an den Sträuchern und auf den Bäumen fand, wurde gegessen. Wurzeln, Beeren, Früchte. Alles, was unter strenger Begutachtung einer augenscheinlichen Prüfung standhielt, wurde gegessen. Vermutlich auch das eine oder andere Stück Aas, das Raubtiere in der Steppe zurückließen. Erste Versuche im Jagen folgten. Kleinstlebewesen, Insekten, Weichtiere, vielleicht Fische aus Gewässern. Das war’s. Friss oder stirb gleich. Die Natur war roh. Etwas anderes gab es nicht. Gemecker, Befindlichkeiten oder Sätze wie: »Das mag ich nicht!« gab es nicht. Die Menschenaffen hatten nur ein Ziel: den nächsten Tag überleben und den Nachwuchs über die Runden bringen. Die Nährstoffdichte der Lebensmittel war gering. Wurzeln aus der Erde, »Urzeitgemüse«, unreife Beeren und harte Früchte sind je nach Zustand schwer verwertbar. Besonders bei Wurzeln und Blättern verbergen sich die Nährstoffe tief im Inneren der Zellen. Bei stärkereichen Wurzeln, wie sie erst im späteren Paläolithikum verarbeitet und gegessen wurden, wird dies deutlich. Die »rohe« und sehr harte Stärke konnte physiologisch gar nicht verwertet werden. Wie erst kürzlich bei archäologischen Ausgrabungen festgestellt, handelt es sich um die kartoffelähnliche Wurzel von Hypoxis [1], die vor etwa 170 000 Jahren in Afrika gegessen wurde. Spuren in Gefäßen deuten damit auf die bislang ältesten »Bratkartoffeln«; das widerspricht gleich zu Beginn dieses Buches der »Paläothese«, Kohlenhydrate würden nicht zur ursprünglichen Ernährung der Steinzeitmenschen gehören.

Ein weiteres Beispiel ist die Wasserbrotwurzel, auch Taro genannt. Sie wächst in tropischen und subtropischen Gegenden, besteht praktisch aus 100 % Stärke, hat im Gegensatz zur Kartoffel kein Protein und auch kein Solanin. Roh wäre sie zwar essbar, dann ist der Nährwert aber sehr gering, da die Stärkekörner nur zu einem geringen Anteil im Dünndarm verarbeitet werden könnten.

So etwas schaffte nicht einmal der stärkste Menschenaffenmann; mit Enzymen waren diese harten, verschlossenen Stärkekörner trotz seiner Darmlänge allein aus physikalischen Gründen nicht richtig zu knacken. Die Nahrungsaufnahme war, wie es Kopfform und Kiefer samt Muskulatur erkennen lassen, Schwerstarbeit. Das Essen musste gekaut und im Mund stark zerkleinert und zermahlen werden, um möglichst viele Vitamine, Mikronährstoffe und Mineralien herauszuarbeiten. Was Mund und Kiefer nicht schafften, musste während der sehr langen Magen-Darm-Passage bewerkstelligt werden. Der Nahrungsbrei wurde von Verdauungssäften bearbeitet, die wenigen Proteine der Nahrung bis auf die letzte Aminosäure genutzt, Pflanzenfasern und Zellwände von Säuren im Magen und Basen im Darm so lang malträtiert, bis möglichst viele Mikronährstoffe freigelegt waren. Bei den lebensnotwendigen Makronährstoffen war es ähnlich[2]. Proteine standen kaum zur Verfügung, es sei denn, Vogeleier, Aas, Insekten und Weichtiere kamen auf den Speiseplan. Pflanzenproteine wie Speicherproteine aus Ölsaaten oder »Gemüse« sind schwer zu verwerten. Das Beschaffen von Nahrung, das Essen selbst und das Verdauen kosteten sehr viel Energie, die von den Hominiden erst einmal aufgebracht werden musste. Die Nahrungsbeschaffung kostete die meiste Lebenszeit.

Was essbar war und was nicht, mussten die Hominiden, gleich welcher Art, selbst entscheiden. Dafür bot ihnen die Evolution ihre Sinne. Die Nahrung wurde mit den Augen gesichtet, mit den Händen untersucht. Geruchs- und Geschmackssinn waren der nächste Schritt der Lebensmittelprüfung. Roch es »essbar« oder gab es Fehlaromen? Roch es gar zersetzt, verfault? Mit diesem Schritt machte die Natur aus nicht essbarer Nahrung wie auf den Boden gefallenen Baumfrüchten wieder Erde. Oder befielen Fruchtfliegen die Nahrung, um sich daran zu vermehren und Mikroorganismen wie wilde Hefen und Milchsäurebakterien weiterzutragen?

Stimmte das alles mit der Erfahrung überein, folgte die Geschmacksprüfung. Süß, nicht zu sauer, salzig und ein Geschmack, den wir heute umami nennen – all das musste ausgewogen sein. War das Lebensmittel hingegen bitter, war Vorsicht geboten. Bei zu starker Säure, etwa sehr unreifen Früchten, oder starken Bittertönen schrillten die Alarmglocken, denn die bedeuten bis heute Unverträglichkeiten oder gar Gift. Die Nahrungsbeschaffung und das Essen waren ein tägliches Abenteuer, selbst wenn das Nahrungsangebot karg und im Grunde langweilig und saisonal eingeschränkt war. Solange aber die Energiebilanz der Nische stimmte und das Überleben sicherte, war die Welt in Ordnung. Und so sollte es bis heute immer noch sein.

Wie beschwerlich das wirklich Rohe zu essen ist, können wir mit unserer heutigen körperlichen Ausstattung nicht mehr nachvollziehen. Es gab keine Werkzeuge, keine Messer, keine Blitzhacker und keinen Paläomixer. Die verfügbaren Pflanzen waren weder kultiviert noch gezüchtet. Sie schmeckten so, wie sie aus der Erde gegraben wurden, und mussten nach Prüfung so, wie sie waren, gegessen werden. Aber kein Affe konnte es sich erlauben, essbare Teile der Nahrung zu verschwenden. Egal ob Wurzeln, Blätter, Knollen oder sogar anhaftende Würmer und Insekten, alles musste verzehrt werden, sofern es der Geschmacks- und Aromaprüfung standhielt.

Lauch roh, ohne Hilfsmittel

  • 1 Stange Lauch frisch aus dem Garten
  • Die Stange Lauch so gut wie möglich von Erdresten mit den Händen befreien, gegebenenfalls im nahen Bach waschen und ohne weitere Hilfsmittel alle Teile verzehren.

 

Wie schwierig und anstrengend das ist, lässt sich bereits nach den ersten Bissen in diesem Experiment feststellen. Die zwiebeligen Schwefelstoffe des Lauchs brennen in den Augen, schmerzen auf der Zunge. Das Grüne an den Enden wird schwer zu kauen sein, Pflanzenfasern sammeln sich im Mund. Jeder Bissen wird schwerer, der Schmerz auf der Zunge nimmt zu. Der Lauch muss lange im Mund bearbeitet werden, bis sich ein schluckbarer Nahrungsbrei bildet. Bei jedem weiteren Bissen beißen die bitteren Schwefelstoffe, die von Gesundheitsfanatikern als »gesund« ausgelobten Glucosinolate, mehr. Die Enzyme des Lauches lassen beim »oralen Prozessieren« weitere schweflige Geruchsstoffe entstehen, die beim intensiven Kauen über den Nasen-Rachen-Raum retronasal die Nase reizen und die Augen weiter tränen lassen. Bei den haarigen Wurzeln stehen stärkere Bitterstoffe im Vordergrund, sandige Erdreste stören mit Geknirsche das Essen. Ist die Lauchstange tatsächlich ganz gegessen (die wenigsten werden bis zum Schluss durchhalten), beginnt es wenig später im Darm zu grummeln. Nur ganz unerschrockene Esser werden (und sollten) daher dieses Experiment wagen und das damit verbundene Risiko eingehen. Aber genau das ist, nach kulturwissenschaftlicher Definition, »das Rohe«. Nicht das mit Spiralschneidern feinst Geschnittene, in Balsamico und kalt gepresstem Öl Angemachte, das mit Salz Abgeschmeckte oder edlen Gewürzen Verfeinerte. Erst recht nicht das, was Rohköstler*innen in wohlmeinenden Worten als gesund verkaufen und Paläodiätiker als Teil der Paläokost anpreisen.

Die Erkenntnis für unsere heutige Esskultur zeigt sich klar und deutlich: Für dieses Leben und diese Form von Ernährung taugen wir, die Wohlstandsmenschen, schon lange nicht mehr. Eine »vollwertige, gesunde Ernährung« ist gekaute Rohkost beileibe nicht, zu viele Nährstoffe sind biologisch nicht verfügbar, selbst wenn sie in der Pflanze vorhanden sind.

Aber dann kam der Alkohol.

Es ist 4,5 Millionen Jahre her, als sich etwas in der DNA mancher Affen veränderte. Plötzlich entwickelten diese Spezies ein Enzym, das Alkohol (Ethanol) verdauen konnte[3]. Was sich aus heutiger Sicht eher lustig anhört und an Videos mit betrunkenen Tieren erinnert, war die erste Revolution in der Entwicklung der Hominiden, denn sie erlaubte manchen von ihnen, mit von Fruchtfliegen übertragenen wilden Hefen vergorene Früchte zu essen. Diese enthielten etwas Alkohol, zu wenig, um »betrunken« zu werden, aber bereits so viel, dass Ethanol verdaut werden musste. Dazu braucht es Enzyme, sogenannte Alkoholdehydrogenasen, ADH. Endogener, also körpereigener Alkohol entsteht auch bei der Verdauung über das Mikrobiom (die hochkomplexe »Darmflora« aus Viren, Bakterien und Pilzen, die sich an das machen, was Magensäure, Magenenzyme und Bauchspeicheldrüsenenzyme nicht schafften). Dieser »Fermentationsprozess« ähnelt allen Gärprozessen. Dabei entstehen Gase, also Darmwinde, Aromen, Fäkalgerüche und natürlich Alkohol, der sofort im Darm von körpereigenen Alkoholdehydrogenasen quasi vor Ort »unschädlich« gemacht wird. Damit sind die Säugetiere, Hominiden inklusive, bereits gut ausgestattet. Nur um dem externen, also über...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Sachbuch
ISBN-10 3-7776-2859-X / 377762859X
ISBN-13 978-3-7776-2859-2 / 9783777628592
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