Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral (eBook)

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2016 | 1. Auflage
282 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74822-0 (ISBN)

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Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral -  Michael Tomasello
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Die Entstehung der menschlichen Moral gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert Michael Tomasello die Entwicklung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen langfristigen Prozess. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mussten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral ist der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.



<p>Michael Tomasello, geboren 1950, ist Professor f&uuml;r Psychologie und Neurowissenschaft an der Duke University. Von 1998 bis 2018 war er Co-Direktor des Max-Planck-Instituts f&uuml;r Evolution&auml;re Anthropologie in Leipzig. F&uuml;r seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er f&uuml;r sein Gesamtwerk den prestigetr&auml;chtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.</p>

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Die Evolution der Kooperation


 

Und wenn sich diese Knappheit (von Ressourcen) nicht durch gemeinsame Tätigkeit lindern ließe, würde sich der Bereich der Gerechtigkeit nur auf die Vermeidung wechselseitig zerstörerischer Konflikte erstrecken und nicht auf die kooperative Erzielung von gegenseitigem Nutzen.

DAVID GAUTHIER, Morals by Agreement

 

Sozialität ist nicht unvermeidlich. Viele Organismen leben praktisch ein völlig einsiedlerisches Leben. Aber viele andere Organismen leben in Gesellschaft, typischerweise wenn sie sehr nah bei anderen ihrer Art bleiben, um soziale Gruppen zu bilden. Die evolutionäre Funktion dieser Gruppenbildung ist in erster Linie der Schutz vor Raubtieren. Eine solche Sozialität à la »Zusammen ist man weniger gefährdet« wird manchmal als Kooperation bezeichnet, da die Individuen sich mit anderen relativ friedlich zusammentun. Aber bei komplexeren sozialen Spezies kann sich die Kooperation auch in aktiveren sozialen Interaktionen manifestieren, wie beispielsweise altruistischer Hilfe und auf Gegenseitigkeit beruhender Zusammenarbeit.

Die gesteigerte Nähe des Soziallebens bringt eine gesteigerte Konkurrenz um Ressourcen mit sich. Bei sozialen Spezies müssen die Individuen täglich aktiv um Nahrung und Paarungspartner konkurrieren. Diese Konkurrenz kann auch zu körperlichen Angriffen führen, was für alle Beteiligten potentiell schädlich ist, und daher ein Statussystem hervorbringen, bei dem Individuen mit geringerer Kampffähigkeit denen mit größerer das überlassen, was diese haben wollen.

Damit sind wir bei den beiden grundlegenden Achsen der Tiersozialität angelangt (Abbildung 2.1): einer horizontalen Achse der Kooperation, die in den (großen oder geringen) Neigungen der Individuen gründet, sich anderen ihrer Art anzuschließen (oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten oder ihnen zu helfen); und einer vertikalen Achse der Konkurrenz, die auf der (großen oder geringen) Macht und Dominanz der Individuen im Kampf um Ressourcen beruht. Die grundsätzliche Herausforderung eines komplexen Soziallebens besteht darin, ein befriedigendes Gleichgewicht zwischen Kooperation und Konkurrenz zu finden.

Abbildung 2.1: Die beiden Dimensionen des Soziallebens bei komplexen Lebewesen

 

Innerhalb eines Darwinschen Rahmens erfordert die Konkurrenz natürlich keine besondere Erklärung, die Kooperation aber schon. So zu handeln, daß andere Vorteile davon haben, ist nur unter bestimmten Bedingungen eine stabile evolutionäre Strategie. Die erste Aufgabe in diesem Kapitel besteht deshalb darin, unter Verwendung des Prinzips der Interdependenz als Leitfaden zu untersuchen, wie die Kooperation in der Evolution im allgemeinen funktioniert. Anschließend nutzen wir diesen theoretischen Rahmen, um die Eigenart der Kooperation bei Gesellschaften von Menschenaffen im besonderen zu charakterisieren, und dies mit dem Ziel, die kooperativen Interaktionen des letzten gemeinsamen Vorfahrens von Menschen und anderen Menschenaffen vor etwa sechs Millionen Jahren als Ausgangspunkt für unsere Naturgeschichte der menschlichen Moral darzulegen.

Grundlagen der Kooperation


Die Kooperation hält für die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese eine Vielfalt von Rätseln bereit. Nicht alle davon müssen wir hier lösen. Für den vorliegenden Zweck reicht es aus, nur diejenigen evolutionär stabilen Kooperationsmuster zu bestimmen, die für unsere Untersuchung der menschlichen Spezies relevant sind. Bei der Identifikation dieser Muster wird es uns speziell sowohl um die proximalen (psychologischen) Mechanismen gehen – die kognitiven, sozial-motivationalen und selbstregulativen Prozesse –, die die Angehörigen komplexer sozialer Spezies befähigen, miteinander zu kooperieren, als auch um die Anpassungsbedingungen, unter denen diese psychologischen Prozesse wahrscheinlich von der natürlichen Selektion begünstigt wurden.

Evolutionär stabile Kooperationsmuster


Der gewöhnlichen Evolutionstheorie zufolge kann Kooperation als evolutionär stabile Strategie nur dann aufrechterhalten werden, wenn sie der reproduktiven Fitness der beteiligten Individuen nicht allzu abträglich ist (Altruismus wird von Evolutionsbiologen – humorvoll, aber demonstrativ – definiert als »das, was sich nicht entwickeln kann«). Aber es gibt eine Reihe klassischer Interaktionskategorien, die Möglichkeiten beschreiben, wie Individuen ihr unmittelbares Eigeninteresse zeitweise unterdrücken können, um mit anderen zu kooperieren, ohne dadurch langfristig ihre eigene Existenz und die ihrer Nachkommenschaft aufs Spiel zu setzen. Der Theorie der Multilevel-Selektion zufolge ist es am nützlichsten, von drei Großkategorien auszugehen, die sich hinsichtlich der Ebene unterscheiden, auf der sie operieren: Die Verwandtschaftsselektion operiert auf der Ebene der Gene; die Gruppenselektion setzt auf der Ebene der sozialen Gruppe an; und Gegenseitigkeit und Reziprozität operieren auf der Ebene des einzelnen Organismus. Jede dieser Kategorien kooperativen Verhaltens kann bei verschiedenen Spezies potentiell durch eine breite Vielfalt verschiedener proximaler Mechanismen realisiert werden.

Die Verwandtschaftsselektion ist wohl der grundlegendste Prozeß bei der Evolution der Kooperation. Darwin fragte sich, warum soziale Insekten, etwa Ameisen und Bienen, sich so bereitwillig füreinander aufopfern (bis hin dazu, daß es sogar zeugungsunfähige Helfer gibt). Im Kontext der modernen Genetik lösten Haldane und Hamilton das Problem durch die Feststellung, daß bei sozialen Insekten Individuen, die in derselben sozialen Gruppe leben, mehr Gene miteinander teilen als die Gruppenmitglieder anderer Tierarten. Indem sie anderen helfen, begünstigen die einzelnen Ameisen und Bienen Kopien ihrer eigenen Gene; in einem gewissen Sinne helfen sie sich selbst. Dawkins (1976) trieb diese Ansicht ins Extrem, indem er die gesamte Evolution aus dieser »Genperspektive« betrachtete.

Die proximalen Mechanismen für die Verwandtschaftsselektion sind normalerweise nicht besonders kompliziert. Man muß dazu prädisponiert sein, Dinge zu tun, die anderen helfen (ohne daß man kognitiv versteht, daß man das tut), und dieses Verhalten muß selektiv auf die eigene Sippe gerichtet sein. Diese Selektivität gegenüber Verwandten wird am häufigsten durch räumliche Nähe erreicht. Beispielsweise tun Ameisen und Bienen einfach Dinge, die anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung helfen, und selbst kognitiv komplexere Organismen, wie etwa Menschen, identifizieren in den meisten Fällen diejenigen als Verwandte, mit denen sie in enger physischer Nähe aufgewachsen sind (Westermarck, 1891). Diese psychologische Schlichtheit bedeutet, daß die Verwandtschaftsselektion wahrscheinlich nicht die Brutstätte für die vielen komplexen kognitiven Unterscheidungen und Urteile war, die der menschlichen Moral zugrunde liegen. Sie war jedoch höchstwahrscheinlich für die grundlegende prosoziale Emotion des Mitgefühls verantwortlich, da sie im Kontext der Bindung zwischen Eltern und Nachkommen sowie der Hilfe für die eigenen Verwandten entstand. Wie wir bei der Darstellung der Kooperation von Menschenaffen noch sehen werden, hatten dann einige Spezies Gelegenheit, ihr Mitgefühl über Verwandte hinaus auf »Freunde« auszudehnen.

Ein zweiter wichtiger Prozeß bei der Evolution der Kooperation ist, umstrittenermaßen, die Gruppenselektion. Die Theorie der Gruppenselektion nimmt keine Genperspektive auf den Prozeß ein, sondern vielmehr eine Gruppenperspektive, wobei manche Theoretiker sogar anmerken, daß ein vielzelliger Organismus einfach eine Gruppe von kooperierenden einzelligen Organismen ist (Wilson und Wilson, 2008). Die Grundidee lautet: Wenn die sozialen Gruppen einer Spezies jeweils intern genetisch homogen sind und sich zugleich genetisch gut voneinander unterscheiden, dann können diese Gruppen tatsächlich selbst zu Einheiten der natürlichen Selektion werden. Kooperation kommt ins Spiel, weil man sich vorstellen kann, daß soziale Gruppen mit mehr Kooperatoren solche mit mehr Nichtkooperatoren ausstechen. Einzelne Kooperatoren haben daher zwar innerhalb ihrer Gruppe einen Nachteil gegenüber den Nichtkooperatoren (die in den Genuß der Vorteile kommen, ohne dafür zahlen zu müssen), aber ihre Gruppe floriert, und daher haben sie einen Vorteil gegenüber Individuen aus anderen Gruppen derselben Spezies. Die meisten Theoretiker stimmen darin überein, daß Gruppenselektion zwar im Prinzip möglich ist, aber daß es de facto in den meisten Fällen (aufgrund von Einwanderung) zu viel Genfluß zwischen den Gruppen gibt, als daß die Gruppenselektion in mehr als nur ein paar wenigen isolierten Fällen eine mächtige Kraft sein könnte.

Abermals sind die proximalen Mechanismen der Gruppenselektion einfach. Wieder muß man einfach prädisponiert sein, Dinge zu tun, die anderen helfen (ohne unbedingt kognitiv zu verstehen, daß man das tut), und dieses Verhalten muß selektiv auf Gruppenmitglieder gerichtet sein, die auch hier wieder meist durch räumliche Nähe erkannt werden.1 Obwohl die Gruppenselektion dieses Typs vielleicht keine entscheidende Rolle bei der Evolution der menschlichen Kooperation und Moral gespielt hat, hat doch eine Variante davon, die als kulturelle Gruppenselektion bezeichnet wird, höchstwahrscheinlich genau das getan, wenn auch recht spät. Die kulturelle Gruppenselektion betrifft nicht in erster Linie die genetische Evolution, sondern vielmehr die kulturelle, da Individuen sich via soziales Lernen nach dem Verhalten...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Übersetzer Jürgen Schröder
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel A Natural History of Human Morality
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Technik
Schlagworte Biologie • Evolution • Kooperation • Primaten • STW 2321 • STW2321 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2321 • Verhaltensbiologie
ISBN-10 3-518-74822-X / 351874822X
ISBN-13 978-3-518-74822-0 / 9783518748220
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