Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung -

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (eBook)

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2024 | 1. Auflage
274 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045306-7 (ISBN)
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Der Umgang mit Verhaltensstörungen bildet einen der Brennpunkte der Schulentwicklung in den nächsten Jahren und eine Nagelprobe der Inklusion. Verhaltensstörungen sind nicht nur verbreitet und vielfältig; sie stellen die Lehrkräfte auch vor erhebliche Probleme. Das Buch zeichnet zunächst ein exaktes Bild der gegenwärtigen schulischen Situation in diesem Förderschwerpunkt und arbeitet die wichtigsten Entwicklungs- und Leitlinien zusammen mit den sich heute abzeichnenden Zukunftsperspektiven heraus. Anschließend geht es um wirksame Maßnahmen im Hinblick auf spezifische Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben und die Organisationsformen inklusiver Förderung. Der Bogen wird dabei von der schulischen Prävention bis zur intensiven Intervention gespannt.

Prof. Dr. Roland Stein ist Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg. Prof. Dr. Thomas Müller ist dort Akademischer Direktor. Mit Beiträgen von: Roland Stein, Thomas Müller, Gino Casale, Thomas Hennemann, Birgit Herz, Christian Huber, Pierre-Carl Link, Heinrich Ricking, Marc Willmann und David Zimmermann.

Prof. Dr. Roland Stein ist Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg. Prof. Dr. Thomas Müller ist dort Akademischer Direktor. Mit Beiträgen von: Roland Stein, Thomas Müller, Gino Casale, Thomas Hennemann, Birgit Herz, Christian Huber, Pierre-Carl Link, Heinrich Ricking, Marc Willmann und David Zimmermann.

Verhaltensstörungen und emotional-sozialer Entwicklungsbedarf: zum Gegenstand


Roland Stein/Thomas Müller

Das Bemühen um eine inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf zieht unweigerlich die Frage nach sich, um wen und was es sich dabei genau handelt und ob mit der Bezeichnung ›emotional-sozialer Förderbedarf‹ auch alle Kinder und Jugendlichen gemeint sind, die zum Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gezählt werden können. In diesem Rahmen soll ein begriffliches Konzept entworfen werden, das im Sinne von Inklusion nicht nur interventive, sondern auch präventive Perspektiven eröffnet. Daher ist es notwendig, mit Blick auf die Ausgangslage und Entstehung der Disziplin ›Pädagogik bei Verhaltensstörungen‹ Begrifflichkeiten und Erscheinungsweisen in den Blick zu nehmen und ausgehend von diesen nach den zugrundeliegenden Kriterien und Normen zu fragen. Im Anschluss an Möglichkeiten der Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie wird die Frage nach einer inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf schließlich unter anthropologischer Perspektive in ihrer Komplexität diskutiert.

1 Ausgangslage und Entstehung einer Disziplin


Es lässt sich nur vage ausmachen, wo, durch wen, unter welchen Bedingungen und Intentionen die pädagogische Arbeit mit solchen Kindern und Jugendlichen ihren Ausgangspunkt nahm, die man heute als verhaltensauffällig, als erziehungsschwierig oder als förderbedürftig hinsichtlich ihrer sozial-emotionalen Entwicklung bezeichnet. Sicher ist, dass beispielsweise Personen wie Pestalozzi (1799; 1801), Wichern (1853; 1863) und Trüper (1909; 1920), aber auch Aichhorn (1957) und Fuchs (1930), Redl (1978) und Bettelheim (1950) durch ihr eigenes Tun entscheidende Impulse setzten, die auch heute noch die Pädagogik bei Verhaltensstörungen und die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens beeinflussen. Auch wenn sich bei den erstgenannten Persönlichkeiten gesinnungs- und verantwortungsethische Anteile in der Intention ihrer Auseinandersetzung mit so genannten sittlich verwilderten, verwahrlosten oder kranken Kindern und Jugendlichen teils noch vermischen, so ließe sich ihr Wirken im Hinblick auf das Anliegen ›Inklusion‹ durchaus als inklusiv charakterisieren und verstehen: Sie nahmen sich Kindern an, mit denen sich sonst niemand auseinandersetzen wollte, die, im Falle Pestalozzis, hungernd und bettelnd über das Schweizer Land zogen, die, im Falle Wicherns, auf sich selbst angewiesen durch die Hamburger Hinterhöfe trieben oder an vielen anderen Orten als lästig, überflüssig und störend empfunden wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg war es vor allem Fuchs (1930), dem es zu verdanken ist, dass Kinder und Jugendliche, welche durch die Kriegserfahrungen seelisch geschädigt – heute würde man sagen: traumatisiert – waren, beschult wurden. Gleichzeitig fand die Psychoanalyse durch die Arbeit von Aichhorn (1925; 1957) eine frühe ›Anwendung‹ bei ›verwahrlosten‹ Kindern, in der Form, dass erstmals zwischen den Erscheinungsweisen des Verhaltens und den Ursachen unterschieden wurde. Die Annahme, dass jedes Verhalten aus dem Kontext seiner Verursachung heraus verstehbar und damit subjektiv sinnvoll ist, trug wesentlich zu einer veränderten Haltung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten bei. In den USA waren es Redl (1979) und Bettelheim (1950), die durch psychoanalytische Einsichten und die konkrete Arbeit mit auffälligen und traumatisierten Kindern, welche sonst nirgendwo (mehr) Platz fanden, Erfahrungen sammelten, die bis in die heutige Pädagogik bei Verhaltensstörungen hineinwirken.

Während des Nationalsozialismus kam der Ausbau der von Fuchs begründeten Erziehungsklassen zum Erliegen (Liebrich, 1986). Erhalt und Vermittlung von Zucht und rigider Ordnung waren von Bedeutung. Verhaltensauffälligkeiten stellten diesbezüglich eine Gefährdung dar, galten als ›genetisch fixierte Minderwertigkeit‹ und wurden daher als pädagogisch nicht beeinflussbar angesehen. Nur dem Arbeitsdienst schrieb man eine positive Wirkung zu und teilweise wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 bzw. 1942 den ›Jugendschutzlagern‹ Moringen und Uckermark zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Nach 1945 setzte man die vor dem Zweiten Weltkrieg begonnene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten im Westen fort, obgleich die psychoanalytische Pädagogik nach und nach an Einfluss verlor. Es war nun nicht mehr von sittlich verwahrlosten oder kranken Kindern, sondern vom ›verhaltensgestörten Kind‹ die Rede, obgleich bei relativ einheitlichem Sprachgebrauch die Sichtweisen auf diese Kinder und Jugendlichen auseinanderliefen. Sonderschulbedürftigkeit, seelische Belastungen und »Haltschwäche« (Moor, 1960) wurden ebenso diskutiert wie frühkindliche Hirnschädigungen als Auslöser auffälligen Verhaltens und Anpassungsprobleme an bestehende Strukturen. Seit den 1970er Jahren wurde als Folge davon problematisiert, inwieweit ›verhaltensgestörte‹ Kinder und Jugendliche tatsächlich ›gestört‹ und inwieweit sie ›nur‹ Opfer von gesellschaftlichen wie individuellen Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozessen seien.

In der DDR dagegen entstand ab 1965 eine ›Verhaltensgestörtenpädagogik‹ mit eigenem, staatskonformem Verständnis. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen waren darin nicht anerkannt. Auffälliges Verhalten wurde auf intra- und interpersonelle Gründe zurückgeführt. Erst im März 1981 gab das Ministerium für Volksbildung eine »Anweisung über Grundsätze bei der Förderung von Kindern mit wesentlichen physisch-psychischen Störungen im Bereich des Sozial- und Leistungsverhaltens (Verhaltensstörungen)« (1981) heraus. Es entstanden Spezialkinderheime für schwererziehbare Kinder (Zimmermann, 2004). Vormundschaftsgerichte und die Fürsorge waren bis in die Berufliche Bildung hinein für Kinder aus ›erziehungsuntüchtigen Milieus und daraus resultierenden sozialen Fehlentwicklungen‹ verantwortlich. Zudem gab es Jugendwerkhöfe, in die Jugendliche, welche als sehr erziehungsschwierig galten, eingewiesen wurden. Wer mit den dortigen Vorstellungen von Disziplin und Ordnung nicht zurechtkam und/oder mehrfach entwich, wurde in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen, der einer Strafanstalt glich. Jugendliche waren in diesen Formen der Unterbringung in erheblichem Maße Willkür, Misshandlungen und Machtmissbrauch durch Erwachsene ausgesetzt (Beyer/Strobl/Müller, 2016).

In den 1980er Jahren wurden die bestehenden Positionen durch Ansichten der Humanistischen Psychologie, vor allem unter Rückgriff auf Rogers, ergänzt (Stein 2019). In den folgenden Jahren kamen stark systemische und konstruktivistische, aber auch lösungsorientierte Positionen zur Fachdiskussion hinzu. Darüber hinaus erkannte man auch verstärkt die Bedeutung soziologischer Beiträge, insbesondere über Einflüsse von Subkultur- und Anomietheorie (Lamnek, 1979; Böhnisch, 1999). Mit der UN-Konvention von 2006 nahm die kritische Auseinandersetzung hinsichtlich der Notwendigkeit einer gesonderten Beschulung für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten zu. Dennoch hat sich die Zahl der in diesen Schulen geförderten Schüler zwischen 2005 und 2020 mehr als verdoppelt (KMK, 2016; KMK, 2022). Versuche integrativer Beschulung (z. B. regelschulintegrierte Klassen, Kooperationsklassen, temporäre Lerngruppen, ambulante und mobile Dienste und Hilfen etc.) nahmen zugleich zu, fielen aber, soweit sie empirisch untersucht wurden, im Ergebnis sehr unterschiedlich aus (Goetze, 2008). Darüber hinaus und in diesem Zusammenhang muss sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit einer zunehmenden Dominanz des kinder- und jugendpsychiatrischen Zugriffs auf ihren Gegenstandsbereich auseinandersetzen (Schmid, 2012; Willmann, 2012), zugleich einer Nachbardisziplin mit deutlich mehr öffentlicher Wahrnehmung.

Hervorgehoben werden soll hier ergänzend, was Göppel (1989) in Abgrenzung zu anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen festhielt. Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen befasst sich erst in jüngerer Zeit näher mit der Frage geeigneter Beschulung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher. »In der Geschichte der Bemühungen um Kinder, die, ohne offensichtlich behindert zu sein, mit ihrem Verhalten aus dem Rahmen fallen, die vorgegebene Ordnungen verletzen und sich gegen die üblichen erzieherischen Maßnahmen sperren, spielt dagegen die Schule nur eine sehr untergeordnete Rolle« (ebd., S. 327). Es waren vor allem verschiedene Formen von Heimen, Verwahranstalten und Spezialeinrichtungen, die sich dieser Kinder annahmen und in denen Schule auch eine, aber nicht die primäre Rolle spielte (Myschker 2009). Umgekehrt lässt sich aus einer erzieherischen Perspektive auf...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2024
Co-Autor Gino Casale, Thomas Hennemann, Birgit Herz, Christian Huber, Pierre-Carl Link, Heinrich Ricking, Marc Willmann, David Zimmermann
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Erhard Fischer, Ulrich Heimlich, Joachim Kahlert, Reinhard Lelgemann
Zusatzinfo 9 Abb., 6 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Behindertenhilfe • Bildungsgerechtigkeit • Inklusion Unterricht • inklusive Gesellschaft • schulische Inklusion • Verhaltensstörung
ISBN-10 3-17-045306-8 / 3170453068
ISBN-13 978-3-17-045306-7 / 9783170453067
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