Waldorfschule, Globalisierung und Postkolonialismus - Versuch einer Annäherung -

Waldorfschule, Globalisierung und Postkolonialismus - Versuch einer Annäherung (eBook)

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2024 | 1. Auflage
337 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8462-7 (ISBN)
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Die Waldorfpädagogik gehört zu den wenigen international wirksamen Schulformen, die mit einem eigenständigen, anthropologischen und pädagogischen Konzept aufwarten. Als ursprünglich europäischer Impuls sind die in Deutschland befindlichen Schulen mit 254 von 1187 weltweit zwar in der Minderzahl, doch dominieren deutsche bzw. mitteleuropäische Institutionen, Forschungen etc. die Pädagogik und ihre Ausrichtung. Aus diesem Grund widmet sich die vorliegende Veröffentlichung dem auch in der Waldorfpädagogik notwendigen postkolonialen Diskurs über Momente kolonialen, eurozentrischen und kulturell monoperspektivischen Denkens.

Postkolonialismus zur Einführung: Die Genealogie vom „Oder“ zum „Und“


Andreas Holtz

Abstract


Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht die Analyse epistemologischer Binaritäten, um sie für die Analyse des Postkolonialismus zu nutzen. In diesem Rahmen werden auch die zentralen Ansätze von Fanon, Said, Spivak und Bhabha diskutiert. Der Text schließt mit einem Ausblic auf die Bedeutung postkolonialer Ansätze im pädagogischen Kontext, insbesondere in Bezug auf die Waldorf Pädagogik.

1.Kolonialismus als Ordnungssymbol und Fortführung kulturalisierter Sexualität


Logisch dem Postkolonialismus vorangegangen muss der Kolonialismus sein. Dabei ist es wichtig, zwischen den (englischen) Begriffen des Colonialism und der Coloniality zu unterscheiden. Während Colonialism eine zeitlich befristete Periode der direkten Gebietsherrschaft beschreibt, handelt es sich bei der Coloniality um ein System (vor allem) westlicher Vorherrschaft, das auch über die Periode der direkten Gebietsherrschaft hinaus reicht: „Coloniality is different from colonialism and decoloniality is different from decolonization“ (Maldonado-Torres 2016, S. 10). Dieses System dient einer tendenziell zeitlich unbefristeten Ausübung von Macht, die sich letztlich in dem Selbstverständnis der Menschen im Sinne des Binärverhältnisses von Kolonisierenden und Kolonisierten ausdrückt.

Der Kolonialismus als solcher bezeichnet die Ausdehnung einer Einflusssphäre (bzw. Macht) von Staaten, ökonomischen und/oder religiösen Gruppen auf eine andere Einflusssphäre mit dem Ziel der Landnahme (Sturm 1994a, S. 398). Detaillierter beschreibt dies Conrad (2012, S. 3).

Demnach ist Kolonialismus „erstens ein territorial bestimmtes Herrschaftsverhältnis – das unterscheidet Kolonialismus von dem breiteren Begriff des Imperialismus, der auch Formen der informellen Steuerung ohne Ansprüche auf Gebietsherrschaft mit einschließt; zweitens die Fremdherrschaft, die dadurch charakterisiert ist, dass kolonisierende und kolonisierte Gesellschaften unterschiedliche soziale Ordnungen aufweisen und auf eine je eigene Geschichte zurückblicken; drittens schließlich die Vorstellung seitens der Kolonisatoren, dass beide Gesellschaften durch einen unterschiedlichen Entwicklungsstand voneinander getrennt sind“ (Hervorhebungen A.H.) (Conrad 2012, S. 3).

Betrachtet man denn zudem noch den Begriff der Kolonie, so stolpert man unwillkürlich über dessen lateinischen Ursprungsbegriff colere, was so viel wie „bebauen“ oder „Land bestellen“ bedeutet. Bereits bei diesem Begriff zeigt sich zum einen ein binäres System und zum anderen eine Subordination/Asymmetrie der Begriffe. So bedarf es zunächst einer Unterscheidung zwischen dem Land, das eben „bestellt“ wird, und der Person, die es bestellt. Während die Person aktiv frei entscheiden kann, ob, wie und wann bestellt wird, bleibt das Land passiv – es wird bestellt. Nach Conrads Definition sehen wir die Binarität im Gebiet der Herrschaft; ein Gebiet herrscht über ein anderes. Es besteht weiterhin eine Differenz der sozialen Ordnungen und schließlich die Annahme, dass es (a) eine Entwicklung im Sinne einer Entwicklungsasymmetrie gibt, die (b) bei den Bestellenden und den Bestellten unterschiedlich ausgeprägt ist.

Obgleich es schwierig ist, von dem Kolonialismus auszugehen, zeigen sich dennoch einige definitorische Gemeinsamkeiten: „Kolonialismus ist also Herrschaft einer (ursprünglich) ortsfremden über eine ortsansässige Gruppe, wobei die Motive für diese Fremdherrschaft ganz unterschiedlich sein können. Es lassen sich dabei Stützpunkt-, Siedlungs- und Beherrschungskolonien unterscheiden“ (Zimmerer 2012, S. 11). Jürgen Osterhammel beschreibt den Kolonialismus als besondere Ausprägung des Imperialismus:

„Kolonialismus wäre […] eine Politik zur Eroberung und dauerhaften Beherrschung von Kolonien. Oft bezeichnet man dies auch als formal empire. ‚Formal‘ bedeutet dabei, daß die expansive Macht unmittelbare Regierungsfunktionen übernimmt und sich eine Art Gewaltmonopol über das unterworfene Territorium sichert. Informal empire hingegen ist der ‚übermächtige Einfluß‘ (preponderant influence), [der sich als] Einfluß […] in solchen Privilegien von Ausländern kristallisiert, die durch besondere ‚asymmetrische‘ Institutionen abgesichert werden, etwa durch ‚ungleiche Verträge‘ […]“ (Osterhammel 2000, S. 224).

Anibal Quijano (2000) hat die Bausteine der Kolonialismus-Matrix und damit seine Methodik herausgearbeitet, die im Wesentlichen wie folgt interagieren:

  • Die Aneignung von Land und die Ausbeutung von Arbeitskräften.

  • Die Kontrolle der Autorität (Vizekönigtum, Kolonialstaaten, militärische Strukturen).

  • Die Kontrolle von Geschlecht und Sexualität (die christliche Familie, geschlechtliche und sexuelle Werte und Verhaltensweisen).

  • Die Kontrolle der Subjektivität (der christliche Glaube, die säkulare Idee des Subjekts und des Bürgers) und des Wissens (die Prinzipien der Theologie, die alle Formen des Wissens strukturieren, umfassen das Trivium und das Quadrivium; die säkulare Philosophie und der Begriff der Vernunft, die die Human- und Naturwissenschaften und das praktische Wissen der Berufsschulen strukturieren, z. B. Jura und Medizin, in Kants Wettstreit der Fakultäten).

Aus diesen Säulen des Kolonialismus ergibt sich eine bestimmte Interaktion. Diese vier Säulen sind die besondere Struktur, die die Verbindung von Wissen und Kapital im 16. Jahrhundert und darüber hinaus angenommen hat. Die Kontrolle des Wissens in der westlichen Christenheit gehörte den westlichen Christenmenschen, was bedeutete, dass die Welt nur aus der Perspektive der christlichen Männer des Abendlandes betrachtet werden konnte, was grundsätzlich zu Binaritäten und Exklusionen führen musste und sich als Narrativ bis heute hält. Der Postkolonialismus hat demnach die Aufgabe, eben dieses Narrativ zu dekonstruieren.

Die Gründe für den Kolonialismus (dazu im Folgenden: Sturm 1994a und Osterhammel/Jansen 2017, S. 18 ff.) lagen (a) zum einen darin, durch wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien die Staatseinnahmen des Mutterlandes in einem merkantilistischen Sinne zu vergrößern. Das Ziel des Merkantilismus war demnach eine positive Leistungs- und Handelsbilanz, was durch Maximierung des Exports bei gleichzeitiger Minimierung des Imports zu erreichen war. Dies war jedoch kein Selbstzweck, sondern eine einfache Notwendigkeit im Zeitalter absolutistischer Staaten. Die absolutistischen Herrscher mussten zunächst ihre stehenden Heere und ihre wachsende Beamtenschaft bezahlen. Zudem benötigte der hohe repräsentative Aufwand im absolutistischen Selbstverständnis große finanzielle Mittel, die allein aus Steuern nicht generiert werden konnten. Funktional bedeutete dies, die eigene Ökonomie vor Eingriffen zu schützen (Protektionismus), was allerdings nur deswegen möglich war, weil zwischen den Handels-„Partnern“ ausgeprägte Asymmetrien bestanden. Wirtschaftshistorisch bekleidet der Begriff des Merkantilismus die Phase des Frühkapitalismus (dazu allgemein: Gömmel 1998). Gerechtfertigt wurde diese ökonomische Ausbeutung vor allem durch den „Mythos von der anthropologischen Minderwertigkeit der Farbigen“ (Sturm 1994a, S. 399). Darüber...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8462-8 / 3779984628
ISBN-13 978-3-7799-8462-7 / 9783779984627
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