Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung -

Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung (eBook)

Autonomie, Unterstützung, Verantwortung

Tobias Bernasconi (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
205 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043632-9 (ISBN)
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Menschen mit geistiger Behinderung werden in Deutschland ebenso wie die Bevölkerung insgesamt immer älter. Dadurch entstehen neue Fragestellungen rund um das Erwachsenwerden und -sein sowie die Bedürfnisse im Alter von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Band greift diese Themen auf und setzt sich kritisch mit sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen von 'Erwachsensein' im Spiegel von Autonomie, Unterstützung, Reife oder Verantwortung auseinander. Darauf aufbauend werden praktische Fragen und Aufgaben des Erwachsenwerdens mit geistiger Behinderung wie Partnerschaft und Familie, Wohnen, Arbeitswelt, kulturelle Teilhabe und politische Partizipation diskutiert.

Prof. Dr. Tobias Bernasconi hat den Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und komplexer Behinderung an der Universität zu Köln inne. Mit Beiträgen von Susan Balandin, Tobias Bernasconi, Torsten Dietze, Timo Dins, Julia Fischer-Suhr, Lena Grüter, Caren Keeley, Michaela Naumann, Theresa Stommel, Oliver Totter, Annalena Ziemksi.

Anforderungen, Ambivalenzen und Aufträge an das und im Erwachsenwerden von Menschen mit geistiger Behinderung


Tobias Bernasconi

1 Erwachsenwerden und Erwachsensein


Der Weg in das Erwachsenenleben ist für junge Menschen Aufgabe, Herausforderung und Entwicklungsfeld in einem. In der Jugend werden zentrale Prozesse der Autonomie- und Identitätsentwicklung angestoßen, die im Erwachsenwerden weiter ausgebildet werden und so das künftige Leben, aber auch Teilhabe- und Entwicklungsschancen beeinflussen und bestimmen. Das Erwachsenwerden ist zudem eine Phase der Ablösung von Vertrautem, Gewohntem und der zunehmenden Individuation. Wie alle Lebensphasen ist auch die Phase des Erwachsenwerdens keine statische, sondern eine Phase im Lebenslauf des Menschen, die sich chronologisch zwischen Jugend und Alter einsortiert, ohne dabei an ein festes Alter gebunden zu sein. Sie verläuft zudem keinesfalls bei allen Menschen gleich. Vielmehr »impliziert sie ständige Weiterentwicklung, die sich nicht in gesetzmäßigen Stufentheorien festlegen lässt, [ ... sondern] ist durch individuelle Entwicklungsprozesse gekennzeichnet, die die Auseinandersetzung mit sog. Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1982) mit sozialen, psychischen und physischen Anforderungen beinhaltet« (Stöppler, 2013, 116). Erwachsenwerden ist damit ein komplexer Prozess, der keinen festen Regeln oder genauen Zeitpunkten unterliegt, an denen Menschen als »erwachsen« gelten. Auch existiert immer weniger ein einheitliches Bild eines ›Erwachsenen‹, da »das Erwachsenenalter [...] längst einer offenen Entwicklungsdynamik unterworfen« (Böhnisch, 2023, 185) ist.

Erwachsensein bzw. das Erwachsenenalter als Lebensphase impliziert entsprechend eher die Übernahme verschiedener Rollen und Funktionen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens, wenngleich diese unterschiedlich ausgestaltet werden und ebenfalls als fluid betrachtet werden müssen. Erwachsen sind Menschen damit nicht einfach irgendwann – sondern erwachsen werden Menschen im Laufe des Lebens durch Übernahme von Rollen und Funktionen der ›Erwachsenen‹. Das Erwachsenenalter ist aktuell jedoch einer »offenen Entwicklungsdynamik unterworfen« (ebd., 185), die häufig von Diskontinuität, Neuanfängen, nur eingeschränkt planbaren Wegen und einem durchweg prozesshaften Charakter gekennzeichnet ist, bei dem das Erwachsenwerden vor allem den Übergang von der Jugend ins Erwachsensein durch bestimmte Prozesse und Ereignisse begleitet. Diese sind z. B. das Ende der Schulzeit und der Eintritt in die ausbildungsbezogene Bildung, der Auszug aus dem Elternhaus oder zumindest die stärkere räumliche Ablösung von den Eltern, Partnerschaften, sexuelle Erfahrungen und ggf. Familiengründung und schließlich das zunehmende Ausfüllen der Rolle einer mündigen Person, die ihre Bürgerrechte z. B. im Rahmen von politischer Partizipation oder zunehmender selbstständigen Lebensführung gestaltet. Im Erwachsenwerden erwerben Menschen dabei die Verhaltensmuster, Normen und Einstellungen, die für die Kultur und Gesellschaft relevant sind, in der die Menschen aufwachsen bzw. hineinwachsen und leben (Hurrelmann 2007). In Abgrenzung zum Erwachsensein wird in der Phase der Jugend oft der Fokus auf die Identitätsentwicklung, das Selbstständigwerden und die zunehmende Unabhängigkeit von der Elterngeneration gelegt. Dabei haben die Personen jedoch noch weniger Verpflichtungen als Erwachsene, insbesondere was eine finanzielle unabhängige Lebensführung betrifft. Vielmehr steht die Entwicklung eines zunehmend internalisierten moralischen Bewusstseins im Mittelpunkt und es werden erste Vorstellungen der Berufswahl und des späteren Lebens entwickelt bzw. konkretisiert (vgl. Berngruber & Gaupp, 2021, 9; Oerter & Montada, 1995).

Im Gegensatz zur Betrachtung einzelner Phasen und Abschnitte im Leben eines Menschen legt die Lebenslaufforschung einen etwas anderen Blick auf das Erwachsenwerden an. Die Lebenslaufforschung sieht ihr Ziel darin, gesellschaftlich bedingte Muster zwischen einzelnen Lebensereignissen abzubilden (Elder, 1978, 21). Dabei werden der Zeitpunkt, die Dauer und die Entstehung bestimmter biografischer Ereignisse beschrieben, um letztlich normative Rahmenbedingungen einer Gesellschaft zu beschreiben und so Aspekte herauszuarbeiten, die das Erwachsenwerden konstituieren. Da viele Ereignisse im Leben zeitlich miteinander in Zusammenhang stehen und sich wechselseitig bedingen, bietet die Lebensverlaufsperspektive einen Zugang, unabhängig vom Alter bzw. einem konkreten Aspekt das Erwachsenwerden zu beschreiben.

Als ›klassische‹ Lebensereignisse junger Menschen zählen in ähnlicher Art wie oben dargestellt Schritte von der Schule in den Beruf und damit hin zur finanziellen Selbstständigkeit (z. B. Abschluss der Schule, Beginn und Abschluss einer Ausbildung bzw. eines Studiums, Beginn einer Erwerbstätigkeit), das eigenständige Wohnen (z. B. Auszug aus dem Elternhaus) sowie Schritte hin zur Familiengründung (z. B. Eingehen von Partnerschaften, Zusammenziehen mit Partner*innen, Heirat, Geburt von Kindern) (vgl. Konietzka, 2010).

Neben dem Begriff ›Lebensereignis‹ wird auch der Begriff ›Statusübergang‹ genutzt, der biografische Lebensereignisse charakterisiert und verdeutlicht, dass die mit dem Ereignis einhergehenden Veränderungen (z. B. emotionaler Art) oft einen gewissen Zeitraum umfassen (Huinink, 1995). Ein Statusübergang ist »ein zentrales Lebensereignis, das zu einer signifikanten Veränderung der sozialen Position und der Lebensorganisation eines Akteurs führt. Es hat weitreichende Auswirkungen auf den weiteren Lebensverlauf« (ebd., 155).

Ähnlich werden Statusübergänge auch im Rahmen der Transitionsforschung betrachtet, die diese Statusübergänge bzw. Transitionen sieht als »komplexe, ineinander übergehende und sich überblendende Wandlungsprozesse [...], in denen das Individuum dabei Phasen beschleunigter Veränderungen und eine besonders lernintensive Zeit durchmacht« (Griebel & Niesel, 2004, 35). Die Reaktionen auf die individuelle Bewältigung können dabei positive Entwicklungen nach sich ziehen, es kann aber auch zu einer Stagnation oder Entwicklungsbeeinträchtigung kommen (vgl. Reichmann, 2010).

Gelingende Transitionsprozesse sind in besonderem Maße von Interaktion und Kooperation zwischen den einzelnen Systemen, z. B. Familie, Schule oder Arbeitsstätte abhängig. Als kritisches Ereignis im Leben sind Transitionen immer mit Chancen und Risiken für die Biographie behaftet. Die gegenseitige Abstimmung der einzelnen Systeme ist dabei essentiell, um anschlussfähige Bedingungen zu schaffen.

Der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter ist in diesem Kontext eine Transition bzw. ein Statusübergang, die mit einer Neustrukturierung der Lebensumstände einhergeht. Dieser Übergang in ein neues Stadium wird in der Regel als positiver, spannender Fortschritt und als Herausforderung angesehen. Gleichsam können Veränderungen aber auch beängstigend und verunsichernd wirken, da vertraute Muster und Gewohnheiten wegfallen und durch Neues und Unbekanntes abgelöst werden (vgl. Bleeksma, 2014, 22). Der Prozess verläuft dabei nicht linear, sondern Menschen entwickeln in unterschiedlichem Tempo in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Reifegrade. Während Erwachsenwerden der Prozess der zunehmenden Aneignung einer neuen Lebensphase ist, kann Erwachsensein verstanden werden als Teilhabe am Erwachsenenleben, was bedeutet, Zugang zu haben zu allen wesentlichen Bereichen, Aufgaben- und Handlungsfeldern von Erwachsenen, wenngleich unterschiedliche Intensitäten und Ausprägungen vorhanden sein können.

2 Allgemeine Aspekte des Erwachsenwerdens


Auch wenn Erwachsenwerden ein letztlich lebenslanger Prozess ist, der nicht an ein bestimmtes Alter gekoppelt ist, kann dieser über allgemeine Aspekte beschrieben werden, die mit dem Erwachsenwerden verbunden sind und sich durch Veränderungen im physischen, sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich zeigen (vgl. Berngruber & Gaupp, 2017 sowie eigene Ergänzungen).

  • Physisch erwachsen zu werden wird gemeinhin mit der körperlichen Reife, dem körperlich Ausgewachsensein verbunden, oftmals auch im Kontext von Gesundheit. Dabei geht es um die Erreichung der körperlichen Geschlechtsreife, der Fähigkeit zur Selbstversorgung und Aufrechterhaltung der eigenen Gesundheit.

  • Emotionale Reife meint das Erreichen einer emotionalen Entwicklung, in der zentral die Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, zu verstehen und konstruktiv mit ihnen umzugehen, als ein wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens gesehen wird.

  • Mit dem Erwachsenwerden geht oft eine größere soziale Unabhängigkeit einher, die gleichsam die Ausbildung von sozialer Kompetenz erfordert. Dies meint die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, Konflikte zu bewältigen und Verantwortung in sozialen und beruflichen Beziehungen zu übernehmen. In diesem Zusammenhang kommt den unterschiedlichen sozialen Beziehungen eine wichtige Rolle zu. Peerbeziehungen können eher feste Freundschaftsbeziehungen sein, informelle Gruppen in schulischen oder...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-043632-5 / 3170436325
ISBN-13 978-3-17-043632-9 / 9783170436329
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