Kinder brauchen Bindung -  Johannes Huber

Kinder brauchen Bindung (eBook)

Beziehungsgestaltung in Familie und Kita
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
199 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-037992-3 (ISBN)
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Eine stabile, sichere Bindung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen, seien es Mutter, Vater, Großeltern oder pädagogische Fachkräfte, ist grundlegend für ihre Entwicklung. Welche Faktoren für eine sichere Bindungsbeziehung ausschlaggebend sind und wie Bezugspersonen die Grundbedürfnisse nach Beziehung, Bindung und Kontrolle in den ersten Lebensjahren erfüllen können, zeigt das Buch. Dabei werden u.a. folgende Fragen beantwortet: Wie gehe ich feinfühlig mit meinem Kind um, insbesondere wenn es noch nicht sprechen kann? Kann sich der Vater genauso gut um einen Säugling kümmern wie die Mutter? Schadet eine Krippenbetreuung der kindlichen Bindungsentwicklung? Lässt sich eine sichere Bindung zum Kind aufbauen, wenn die eigene Kindheit unglücklich war? Der Band bietet Grundlagenwissen aus der internationalen Entwicklungsforschung sowie Beispiele und Reflexionsimpulse für die Umsetzung im Erziehungsalltag. Abgeschlossen wird er mit einer Übersicht zu evaluierten bindungstheoretischen Präventionsprogrammen in Familienbildung und Frühen Hilfen.

Prof. Dr. Johannes Huber lehrt und forscht u.a. zur Entwicklungstheorie des (frühen) Kindesalters an der Technischen Hochschule Rosenheim.

2 Was ist »Bindung«?


»Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet« (John Bowlby5).

Bindung ist ein psychisches Grundbedürfnis, das unabhängig vom Nahrungstrieb existiert.6 Das Bindungsmotiv hat einerseits eine evolutionär-physiologische Komponente, die das körperliche Überleben des Kindes (Hunger stillen, Wärmeregulation, äußere Gefahrenabwehr etc.) gewährleisten soll, andererseits eine psychologische Komponente, welche das Bedürfnis nach vertrauensvollen und Sicherheit spendenden zwischenmenschlichen Beziehungen umfasst. Ein Kleinkind, welches beide Aspekte regelmäßig und vorhersagbar befriedigt bekommt, kann sich sicher gebunden fühlen und zugleich als liebenswert erleben.

In der Bindungstheorie hat der Begriff Bindung respektive Bindungsbeziehung eine spezifische Bedeutung. So verweist Bindung nicht auf die (quantitative) Dauerhaftigkeit oder biologische Verwandtschaft einer Beziehung, sondern einerseits auf die Aktivierung des kindlichen Bindungsverhaltenssystems, andererseits auf die spezifische Qualität einer Bezugsperson als Bindungsperson. Das Bindungssystem wurde von Bowlby explizit nicht als Trieb, sondern als zielkorrigiertes Verhaltenssystem definiert, das primär durch Defiziterfahrungen aktiviert wird.

Als Bindungsverhalten gelten all jene Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Nähe und Erreichbarkeit der Bindungsperson zu versichern oder wiederherzustellen (Weinen, Schreien, Nachlaufen etc.). Potenzielle Auslöser für Bindungsverhalten sind alle kindlichen Erfahrungen von Unsicherheit, wie z. B. Krankheit, Müdigkeit, tatsächlich oder vermeintlich antizipierte Trennungen von der Bindungsperson, akute Bedrohungen (z. B. durch unbekannte Situationen oder fremde Personen) oder auch Reizüberflutung bzw. Überstimulationen. Die Qualität als Bindungsperson ist nicht durch eine äußere oder biologische Verwandtschaftskategorie (z. B. Mutter, Geschwister) definiert, sondern durch ihre spezifische Funktion und Bedeutung, die die Person in der Beziehung für das Kind hat. Eine Bezugsperson hat sich aus Sicht des Kindes aufgrund erlebter Interaktionserfahrungen als Bindungsperson bewährt, weil sie zuverlässig und vorhersehbar zur (Co-)‌Regulierung des aktivierten Bindungssystems beitragen konnte, um dem Kind ein Gefühl von physiologischer und/oder psychologischer Sicherheit zu vermitteln. Die Qualität der Bindungsbeziehung zwischen Kind und Bindungsperson ist deswegen auch nicht auf andere Personen ›übertragbar‹, sondern immer das Resultat der individuellen Lern- und Erfahrungsgeschichte zwischen Kind und einer konkreten Bezugsperson. Die frühen Bindungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen in der Kindheit haben Einfluss darauf, wie bindungsrelevante Situationen in der Kindheit und auch im späteren Erwachsenenalter erlebt und verarbeitet werden, d. h. wie wir diesbezügliche Gefühle wahrnehmen und regulieren. Je nach Entwicklungs- und Lebensalter äußern sich Bindungsmuster auf unterschiedlichen Ebenen.

Kinder, die von Geburt an die Erfahrung machen, dass ihre Äußerungen verstanden und zeitnah und angemessen beantwortet werden, lernen, dass sie sich bei Unwohlsein auf ihre Hauptbezugsperson‍(en) verlassen können. Die kindliche Beziehungslogik könnte etwa lauten: ›Immer, wenn ich mich unwohl fühle und getröstet werden möchte, erlebe ich, dass meine Bezugsperson meinen Kummer wahrnimmt, diesen anspricht und mir Nähe und Trost zum Bewältigen meiner Gefühle gibt. Dadurch lerne ich, darauf zu vertrauen, mich immer an sie wenden zu können.‹

2.1 Wann beginnt der Bindungsaufbau?


Der Aufbau der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind beginnt nicht erst mit der Geburt, sondern bereits in der vorgeburtlichen (pränatalen) Phase. Die direkte Verbindung der Mutter mit ihrem Kind über die Nabelschnur und Plazenta stellt nicht nur aus physiologischer Sicht eine essenzielle Verbindung dar, deren körperlich-zelluläre und psychoneurophysiologische Mechanismen (inkl. Epigenetik) erst allmählich aus der Grundlagenforschung an die interessierte Öffentlichkeit gelangen. Auch wenn es vorgeburtlich noch zu keinen von außen direkt beobachtbaren Interaktionen zwischen Mutter und Kind kommt (sieht man einmal von den Kindsbewegungen im Mutterleib und den elterlichen Reaktionen hierauf ab), entwickeln Eltern spätestens nach Kenntnis der Schwangerschaft unterschiedliche Fantasien und Wunschvorstellungen in Bezug auf ihr künftiges Kind: Wie wird das Kind vom Wesen her wohl sein? Wird es gesund sein? Welche Art von Erziehung und Förderung möchte ich ihm später zugutekommen lassen? Etc. Eltern entwickeln dabei möglicherweise ein inneres Bild vom ›idealen Kind‹, welches später mit dem realen Kind in Übereinstimmung gebracht werden muss. Die von den Eltern wahrgenommenen Kindsbewegungen im Mutterleib können hierfür Auslöser und Projektionsfläche für dem Kind zugeschriebene Eigenschaften sein: Was möchte es mir mit seinen ›Tritten‹ sagen? Nimmt es gerade Kontakt mit mir auf? Bestimmt wird es später einmal ein ganz aktives Kind sein usw.

Die bei beiden Elternteilen ausgelösten Gedanken und Gefühle müssen dabei nicht nur durchweg positiv getönt sein (und können es auch nicht). In die anfängliche Freude und Euphorie können sich möglicherweise auch Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der mit dem Übergang zur Elternschaft erwarteten Veränderungen (z. B. eigene Partnerschaft, zukünftige Berufsausübung) dazu gesellen. Der innere Gefühlszustand positiver und negativer Stimmungen und Gefühle stellt an sich einen zunächst normalen und durch das allgemeine Veränderungsgeschehen verursachten Übergangszustand dar, der bei Eltern ein hinreichendes Maß an sog. Ambivalenztoleranz (d. h. das Akzeptieren und Halten von widersprüchlichen Gefühlen, Motiven etc.) erfordert. Extreme Ambivalenzen und/oder negative Affekte bezüglich der Schwangerschaft können auf einen tiefer liegenden, innerseelischen Konflikt zurückgehen, der gegebenenfalls einer einfühlsamen therapeutischen Begleitung bedarf. Generell ist diesen bei Müttern wie auch Vätern vorgeburtlich ablaufenden Prozessen verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken, um das subjektive Stresserleben (insbesondere der Mutter) zu minimieren bzw. Sicherheit und Zuversicht in Bezug auf die anstehende Geburt zu erreichen. Studien belegen, dass pränataler Stress zu Früh- und Mangelgeburtlichkeit wie auch zu einer Beeinträchtigung der emotional-behavioralen Entwicklung des Säuglings führen kann (Wurmser, 2007). Verunsicherungen und Ängste der werdenden Mutter können auch durch frühere Fehl- oder Todgeburten verstärkt werden, die als Traumatisierung nachwirken und durch die neue Schwangerschaft ›getriggert‹ werden. In solchen Fällen ist neben der medizinischen stets auch eine kompetente psychosoziale Begleitung oder gegebenenfalls Psychotherapie indiziert (Brisch, 2007). Gleiches gilt für die im Rahmen der vorgeburtlichen Diagnostik möglicherweise ausgelösten Unsicherheiten (z. B. Angst vor Fehlbildungen des Kindes etc.).

Die größere ›biologische Nähe‹ der Mutter zum Kind verhindert allerdings nicht, dass auch Väter von dieser vorgeburtlichen Vorstellungsdynamik ›angesteckt‹ und in diese eingebunden werden. Insofern kann zurecht von einem sog. pränatalen Beziehungsdreieck gesprochen werden (von Klitzing et al., 1999). Diese frühen Bindungsprozesse auf der Vorstellungs- und Fantasieebene sind wichtig und helfen, den emotionalen Raum vorzubereiten, in den das Kind hineingeboren werden wird. Je ausgeglichener das vorgeburtliche Beziehungsdreieck zwischen Mutter, Vater und Kind und je lebendiger und flexibler der elterliche Fantasieraum in Bezug auf die künftige Interaktion zu dritt ausgestaltet ist, umso besser entwickelt sich das Kind langfristig (von Klitzing & Bürgin, 2005). Auf Väter kommt hierbei insbesondere die Herausforderung zu, sich in Anbetracht der ›symbiotischen‹ Mutter-Kind-Dyade nicht ausgeschlossen zu fühlen, sondern sich als aktiver Dritter im Bunde selbst zu begreifen und einzubringen (z. B., indem der Vater am Bauch der Mutter den Bewegungen des Kindes lauscht oder die Mutter aktiv unterstützt und entlastet).

Der Beziehungsaufbau zwischen Mutter und Kind (und ebenso Vater und Kind) beginnt bereits vorgeburtlich auf der Vorstellungs- bzw. Fantasieebene. Je ausgeglichener und positiver die Vorstellungen der Eltern gegenüber ihrem zukünftigen Kind sowie ihrer zukünftigen Interaktionen zu Dritt sind, umso wahrscheinlicher werden eine gelungene Anpassung an die zukünftige Elternschaft sowie eine günstige Entwicklung des Kindes.

2.2 Wie entwickelt sich Bindung in den ersten Lebensjahren?


Die nachgeburtliche...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-037992-5 / 3170379925
ISBN-13 978-3-17-037992-3 / 9783170379923
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