Auditives Lesen (eBook)
216 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8209-8 (ISBN)
Prof. Dr. phil. Miklas Schulz ist Gastwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Inklusive Pädagogik und Schulentwicklung am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Behinderung aus Perspektive der Disability/Critical Blindness Studies, Intersektionalität und Disability in Education, Rekonstruktive Methoden der Sozialforschung, inbs. Dispositiv-/Subjektivierungsanalyse sowie leibphänomenologisch informierte (Auto-)Ethnografie.
2.Das Lesedispositiv und seine Medien
Mit einer dispositivanalytischen Forschungsperspektive sind gewisse Grundüberzeugungen verbunden, die zumindest knapp angedeutet werden sollen. Das an Foucault (1978) anschließende Dispositivkonzept will das Zusammenwirken von heterogenen Elementen rekonstruieren und die Wirklichkeit machtvoll und diskursiv konfigurieren. Diese heterogenen Elemente sind im vorliegenden Fall die lesenden oder hörenden Körper (Ebene der Subjektivationen), die Medientechnologien, die Schrift und ihre Stimmen (Ebene der Objektivationen) sowie Diskurse über dieselben. Das Dispositiv ist das Netz zwischen diesen einzelnen Elementen. Es ist genauer gesagt die Art und Weise, wie Subjektivationen und Objektivationen über diskursive und nichtdiskursive Praktiken miteinander verbunden sind (Bührmann/Schneider 2008). Das geschieht relativ willkürlich, aber eben nicht zufällig. Vielmehr entscheiden nach Foucault sogenannte Macht-Wissen-Komplexe über die Konfigurationen der Wissensbestände in einem Dispositiv.
Die hier im Fokus stehenden Subjektivationen lassen sich wiederum in Subjektformierungen und Subjektivierungsweisen unterscheiden. Hinsichtlich Subjektformierungen wird untersucht, wie Diskurse Menschen in ihren Programmatiken als anerkennbare Subjekte entwerfen und machtvoll anrufen. Die Frage ist demnach, wer wie und warum zu einem bestimmten und bestimmbaren (Lese-)Subjekt werden kann. Dazu zählt auch das Verständnis dessen, was Lesen heißt, und die Frage danach, wer dazu eigentlich warum (nicht) in der Lage sein soll. Die offenkundige Bedeutung der für das Lesen eingesetzten Sinnesmodalität konnte über eine knappe Untersuchung des Hörbuch-Diskurses nachgewiesen werden (Schulz 2018: 122).
Demgegenüber wird bei Subjektivierungsweisen rekonstruiert, wie Menschen den in Diskursen zirkulierenden sowie normativen ebenso wie normierenden Zumutungen in den empirisch vorfindlichen alltäglichen Orientierungen tatsächlich begegnen. Letzteres stand im Fokus der neuerlichen Untersuchungen des Lesedispositivs. Erweitert wurde die empirische Referenz auf die Gruppe blinder und stark sehbeeinträchtigter Menschen und ihre einschlägigen Erfahrungen, die eben nicht notwendig Übereinstimmungen mit den subjektformierenden Effekten von Fachdiskursen aufweisen müssen. Das Spannende ist insbesondere das Moment der Eigensinnigkeit. Auffindbar sind Fährten, die die Menschen in ihren Alltagsroutinen legen; und zwar mitunter (gezielt) vorbei an gesellschaftlich vorherrschenden Machtverhältnissen. Diese Aspekte werden in den neu erhobenen Interviewdaten ausführlicher verhandelt und stellen das Kernstück dieser Studie dar.
Angeschlossen werden kann dabei weiterhin an Jürgen Links (2005) Differenzierung der Diskursebene, der in Fach-, Inter- und Alltagsdiskurs unterscheidet, sodass nach Übersetzungen und Kombinationen dieser Wissensbestände gefragt werden kann. In medialen Interdiskursen werden sowohl das Wissen aus den fachlichen Spezialdiskursen als auch die damit verbundenen (vermeintlichen) Gewissheiten popularisiert und mit Alltagsdiskursen dialogisiert.
2.1Forschungsperspektive und bisherige Untersuchungshorizonte
Für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Frage nach Übersetzungen unterschiedlicher Diskursbestände in verschiedene Untersuchungsebenen relevant, weil sich hieran die Deutungsmacht ablesen lässt, mit der das Lesedispositiv verschiedene Sprechbarkeiten und (Subjekt-)Positionen sowie verkörperte Praxiszusammenhänge konfiguriert.
Foucault spricht in diesem Kontext auch von einem Wahrheitsspiel und meint damit den Umstand, dass ein spezifischer „Sprachgebrauch in diskursiven Praktiken die Gegenstände, von denen er handelt, als Wissen konstituiert“ (Link 2005: 42). Die Regeln, nach denen ein Wissen als legitimes, vor allem auch wissenschaftlich anerkennungswürdiges Wissen gelten kann, sind allerdings wandelbar und unterliegen selbst Konjunkturen sowie strategischen Positionierungen. Sie sind somit gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen, die auf die zirkulierenden Wissensbestände zurückwirken. Diese Gemengelage macht die Wahrheit zu einem Effekt von Auseinandersetzungen und Interessenlagen und eben nicht zu einer ein für alle Mal entscheidbaren objektiven Tatsache. Durch den Macht-Wissen-Komplex werden mithin auch Grenzen der Wahrheit gezogen. Somit hat jede Gesellschaft zu ihrer Zeit „ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: d. h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht“ (Foucault 1978: 51).
Sobald im Fachdiskurs bestimmte Vorstellungen und Perspektiven unthematisiert bleiben oder gar systematisch ausgestrichen werden, haben sie es erheblich schwerer, von Interviewpersonen überhaupt benannt, geschweige denn im Rahmen ihres Alltagswissens präzise beschrieben zu werden. Dieser Eindruck verschärft sich in dem Maße, wie die Interviewpersonen selbst über akademische Bildung verfügen und somit ein Anschluss an Fachdiskurse naheliegend erscheint. Das Risiko, dass machtvolle Aussparungen mit dem Fachwissen übernommen werden, ist dann relativ hoch.
Im Gegensatz dazu ist in einer Dispositivanalyse ein epistemologischer Bruch intendiert, der sich von den Selbstverständlichkeiten und dem bislang als wahr geglaubten Wissen distanzieren soll. Neben eigenen Überzeugungen der Forschenden werden auch Wissensbestände aus Diskursen und den zur Analyse herangezogenen Daten infrage gestellt. Dies geschieht mit dem Ziel, Episteme zu verändern und die Wissenssysteme anders, reflektierter und neu zu komponieren. Insofern ist die Rede von einem Dispositiv auch nur als Resultat einer Rekonstruktionsleistung plausibilisierbar. Die Beschreibung eines Dispositivs steht notwendig am Ende eines Forschungsprozesses; dass dies hier anders ist und von Beginn an von einem Lesedispositiv gesprochen wird, lässt sich über die bereits erläuterten vorausgegangenen Forschungen zum Gegenstand des auditiven Lesens erklären.
Nach Foucault liegt die zentrale politische, aber auch strategische Funktion von Dispositiven darin, dass sie „zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt […] auf einen Notstand (Urgence) antworten“ (Foucault 1978: 123). Insofern ist ein Dispositiv „immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: an Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen“ (ebd.).
Das Lesedispositiv ist eng mit der Medienkonkurrenz verknüpft, die in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Dies gilt nicht nur auf Ebene der umfangreicher werdenden inhaltlichen Medienangebote, der pluraler gedachten und vielleicht auch gelebten subjektiven Deutungs- und Aneignungsweisen, sondern gleichermaßen für die die Inhalte distribuierenden Medienkanäle. Nun diversifizieren sich zusätzlich noch die sinnlichen Aneignungsmodi, die für eine Praxisform, wie die des Lesens, etabliert und weitestgehend selbstverständlich schienen. Vergegenwärtigt man sich weiterhin, dass jedweder Medieneinsatz Zeit und somit Aufmerksamkeit beansprucht, wird schnell deutlich, dass es hier Begrenzungen durch den Alltag gibt. Dabei beansprucht auch die für so wesentlich gehaltene Kulturtechnik des Lesens zeitliche Ressourcen und fordert die menschliche Aufmerksamkeit in erheblichen Maße. Insbesondere durch die hohen Investitionen beim Erlernen und Üben des Lesens gerät selbiges durch die wachsende Anzahl von alternativen Informationsangeboten unter Druck. Naheliegend, dass diese Ausgangslage zur Triebfeder für eine Medienkritik geworden ist, denn in dem Maße nun, in dem der sinnliche Aneignungsmodus des Lesens selbst noch wählbar wird (visuell oder auditiv), verschärft sich der durch die Medien formierte Notstand von Zeit und Aufmerksamkeit ein weiteres Mal. Folglich ließe sich eine Problematisierung ...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8209-9 / 3779982099 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8209-8 / 9783779982098 |
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