Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung -  Svenja Heck

Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung (eBook)

Professionelles Handeln und Verstehen in der Heilpädagogik

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
166 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-039542-8 (ISBN)
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Im aktuellen Fachdiskurs gilt die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung als unabdingbares Recht und das positive Erleben von Partnerschaft und Sexualität wird in unmittelbarem Bezug zur Lebensqualität diskutiert. Gleichzeitig sind die konkreten Erfahrungsräume des Personenkreises von anhaltenden Reglementierungen und Tabuisierungen gekennzeichnet. Das Buch geht der Frage nach, wie sich dieses durchaus widersprüchliche Phänomen erklären lässt und welche Perspektiven sich daraus für das heilpädagogische Handeln ergeben. Neben einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung werden ausgewählte Leitideen und Handlungsansätze behandelt, um sich praxisnah und verstehend einem fachlichen Umgang mit der Thematik anzunähern.

Professorin Dr. Svenja Heck lehrt Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt.

Professorin Dr. Svenja Heck lehrt Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt.

2 Grundlegende Aspekte professionellen Handelns im Bereich von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung


2.1 Einleitende Gedanken zum Bedarf eines »behinderungsspezifischen« Blickwinkels


Mit Blick auf ein professionelles Handeln im Bereich von Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung muss zunächst die Frage erlaubt sein, ob es überhaupt einer spezifischen Auseinandersetzung bedarf oder auf diese Weise vielmehr »die damit einhergehende ›Behinderung der Sexualität‹ reproduziert« (Trescher/Börner 2014, o. S., Hervorhebung im Original) wird? Können wir von einer Sexualpädagogik der Vielfalt (Sielert 2015) ausgehen oder gewährleistet erst ein expliziter Blick auf die dem Thema innewohnenden anhaltenden Herausforderungen und Chancen für Menschen mit Behinderung einen differenzierten fachlichen Umgang (Ortland 2020, 19 ff.)? Ortland argumentiert in dieser Frage wie folgt:

»Müssten viele Menschen mit Behinderungen nicht mit der Negierung ihrer Sexualität, der Tabuisierung sexueller Themen, mangelnder Sexualerziehung, segregierenden gesellschaftlichen Tendenzen sowie Stigmatisierungen im alltäglichen Lebenskontext und noch vielen weiteren Erschwernissen von Aktivität und Teilhabe leben, so bräuchten wir keine ›behinderungsspezifische‹ Sexualpädagogik« (ebd., 9, Hervorhebung im Original).

Kunz wiederum resümiert: »Die Fachliteratur formuliert übereinstimmend, dass es keine behinderungsspezifische Sexualität gibt bzw. geben kann« (Kunz 2022, 63), wodurch zu schlussfolgern wäre, dass auch eine behinderungsspezifische Unterstützung von Sexualität nicht angemessen erscheint.

Sicherlich läuft eine exklusive Betrachtung von Sexualität und Partnerschaft bei geistiger Behinderung Gefahr, die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen nur vor dem Hintergrund determinierter und zugestandener Grenzen zu reflektieren (Trescher/Börner 2004, o. S.). Ein Bewusstsein über ebendiese kann allerdings nicht unter Bezugnahme auf ein »abstraktes Normalitätstheorem« (Ahrbeck 2011, 10) gelingen, sondern muss sich an den konkreten Lebensrealitäten orientieren (Brückner 2017, 39), die keine ausschließlich objektiv zu betrachtenden Bedingungen darstellen, sondern auch subjektive Empfindungen und Realitätskonstruktionen sowie soziale Normvorstellungen einbeziehen (Krüger 2009, 18). Dabei geht es keineswegs um eine defizitorientierte Sichtweise auf geistige Behinderung, sondern vielmehr darum, die Realität der Beeinträchtigung und deren mögliche Folgen nicht zu nivellieren, denn »[d]‌ie besonderen Einschränkungen, die behinderte Menschen erleben und die spezielle Form ihres Angewiesenseins auf andere erzeugen eine psychische Faktizität, die es anzuerkennen gilt« (Ahrbeck 2004, 190).

Darüber hinaus stellt sich mir in diesem Zusammenhang die Frage, wie eine behinderungsspezifische Sexualität zu definieren sei. Geht es um eine besondere Sexualität aufgrund der Behinderung, die grundsätzlich andere Zugänge und Betrachtungsweisen verlangt? Auf diese Frage ist aus meiner Sicht mit einem klaren »Nein« zu antworten. Wenn aber unter einer behinderungsspezifischen Sexualität die vielschichtigen Dimensionen in den Blick rücken, denen Menschen mit geistiger Behinderung, Fachkräfte sowie Eltern und Angehörige in Konfrontation mit der Thematik begegnen können, möchte ich mich klar für eine spezifische Thematisierung aussprechen. Denn nur in der Benennung und in dem Wissen um Zuschreibungen, Phantasien und einschränkenden Entwicklungsräumen liegt die Chance, diese reflexiv aufzulösen. Dabei geht es nicht um eine Verallgemeinerung von Menschen mit geistiger Behinderung und deren Lebensrealitäten, sondern um eine differenzierte Auseinandersetzung mit Partnerschaft und Sexualität ohne Verleugnung von möglichen Hemmnissen, aber eben auch nicht von individuellen Möglichkeiten, Stärken und Ressourcen sowie unterstützenden Bedingungen in Einrichtungen und im Elternhaus.

»Menschen mit oder ohne Handicap verdienen differenzierte, ihrer Individualität angemessene Begleitung – wenn sie der Begleitung bedürfen. [...] Ich habe zwangssterilisierte Menschen getroffen, die Sexualität für sich kaum denken konnten, oft noch nicht einmal fühlen. Ich habe selbstständige, lebensfrohe und lustvolle Paare erlebt, deren intellektuelle Beeinträchtigung ich als beträchtlich gefühlt habe, beziehungsfähige Menschen mit so genannter autistischer Störung, schwer mehrfach behinderte Menschen, die ein Ja und ein Nein zu Körperberührungsangeboten sehr differenziert ausdrücken konnten, obwohl sie über kaum mehr als die Augen als Kommunikationsträger verfügen konnten, ich habe ein 70jähriges Elternpaar kennen gelernt, das gegenüber Sexualassistenzangeboten für ihr Kind offen waren« (Herrath 2010, 5).

Mit einem solchen Spektrum können Fachkräfte in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung konfrontiert sein. Damit geht eine hohe Komplexität im fachlichen Alltag einher, die wiederum begünstigt, dass »eine intuitiv‐zufällige Art der Anwendung von Wissen, Know‐how, Handlungsidealen und Leitbildern praktiziert [wird – d. Verf.]. Das führt zur Verfestigung zufälliger Lösungen, zur Überbetonung von individuellen Erfahrungen« (Greving/Ondracek 2009, 36). Es gilt daher im Folgenden, grundlegende Merkmale und Bedingungen professionellen Handelns in der Heilpädagogik zu reflektieren.

2.2 Merkmale und Herausforderungen professionellen Handelns und Verstehens in der Heilpädagogik


Sich einem professionellen Handeln in der Heilpädagogik anzunähern, geht mit einigen Herausforderungen einher. So sind nicht nur unterschiedliche Begrifflichkeiten zu differenzieren, sondern es scheint auch unklar, inwieweit sich die Diskurse in Pädagogik, Heilpädagogik und Sozialer Arbeit voneinander unterscheiden. In den nachfolgenden Überlegungen steht das professionelle Handeln im Sinne einer heilpädagogischen Professionalität im Fokus, die es zunächst vom Terminus der Professionalisierung abzugrenzen gilt. Im Alltag finden sich zuweilen synonyme Verwendungen beider Begriffe vor, wenngleich die unterschiedlichen Konturierungen durchaus bedeutsam sind. Professionalisierung ist eng mit der Frage der Profession6 verbunden und lässt sich als prozesshafte Weiterentwicklung eines Berufs zur Profession verstehen, wenngleich zuletzt genannter Status nicht zwangsläufig erreicht werden muss. Professionalität bezieht sich auf das konkrete berufliche Handeln in der Praxis und kann einen wesentlichen Stellenwert im Prozess der Professionalisierung einnehmen, muss dort jedoch nicht vordergründig behandelt sein (Greving 2011, 17 ff.).

»Als Synonym für ›gekonnte Beruflichkeit‹ stellt Professionalität die nur schwer bestimmbare Schnittmenge aus Wissen und Können dar; sie markiert die widersprüchliche Einheit jener Kompetenzen und Wissensformen, die ihrerseits den Umgang mit beruflichen Wiedersprüchen, Paradoxien und Dilemmata erlaubt« (Nittel 2002 zit. n. Greving 2011, 19).

Dabei ist grundsätzlich ein Rückbezug auf Fachwissen erforderlich, um der hohen Komplexität im Berufsalltag begegnen zu können, die nicht mit reinem Alltagswissen und simplifizierten Problemlösestrategien beantwortet werden kann (Scherr 2018, 9).

Kommen wir zur zweiten Herausforderung: der Frage des Einbezugs von Diskursen zu Professionalität aus Pädagogik und Sozialer Arbeit, die Greving für eine umfassende Auseinandersetzung mit einem professionellen Handeln in der Heilpädagogik als bereichernd und notwendig ansieht (Greving 2011, 11). Auch Krebs und Eggert-Schmid Noerr gehen davon aus, dass (Heil-)‌Pädagogik und Soziale Arbeit Schnittmengen zueinander aufweisen, wenngleich mit ihnen jeweils unterschiedliche Entstehungszusammenhänge, Aufgabenfelder und Ausdifferenzierungen verbunden sind (Krebs/Eggert-Schmid Noerr 2012, 106). Meines Erachtens ist insbesondere mit Bezugnahme auf Inklusion, »[p]‌rofessionelles Handeln [...] nicht weiter ›unter dem Gesichtspunkt der Exklusivität der Zuständigkeit‹ bestimmter Fachdisziplinen für bestimmte Probleme [zu führen – d. Verf.], vielmehr wird die ›Qualität des Handelns‹ zum zentralen Punkt dieser Diskussionen« (Jonas 2013, 1, Hervorhebungen im Original). Nicht zuletzt finden sich in der Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung unterschiedliche Ausbildungshintergründe bei den Fachkräften und Mitarbeitenden in Einrichtungen vor, die es noch einmal mehr erforderlich machen, sich im Folgenden weniger auf die Unterschiede der Fachrichtungen zu konzentrieren, sondern verbindende Aspekte professionellen Handelns herauszuarbeiten.

»Soziale Arbeit will verstehen, um aus dem Verstehen heraus zu erkennen, ob, wo und wie sie zu handeln hat, ob, wo und wie in gegebenen Notsituationen Unterstützungen und Hilfen notwendig und möglich sind. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber [...] nicht« (Thiersch, 2018, 16). So scheint...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Geistige Behinderung • Partnerschaft • Sexualität
ISBN-10 3-17-039542-4 / 3170395424
ISBN-13 978-3-17-039542-8 / 9783170395428
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