Sicher miteinander - ein Schutzkonzept für die heterogene Schule entwickeln (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
160 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61770-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sicher miteinander - ein Schutzkonzept für die heterogene Schule entwickeln -  Michelle Lok-Yan Wichmann,  Lisa Tölle,  Silke Pawils,  Daniel Mays
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Gewalt - auch sexualisierte Gewalt - hat viele Gesichter und ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Sie kann verbal oder körperlich, versteckt oder auch offensichtlich sein und den Schul- bzw. Berufsalltag der Betroffenen zur Hölle werden lassen. Das Praxisbuch bietet am Beispiel sexualisierter Gewalt einen kompakten Überblick, wie ein Schutzkonzept in der Schule erarbeitet werden kann - egal für welche Schulform. Neben Basiswissen u. a. zu Kinder- und Jugendrechten, rechtlichen Rahmenbedingungen des Kinderschutzes in der Schule und sexualisierter Gewalt, gibt es Hinweise zur Arbeit mit SchülerInnen mit Behinderungen bzw. Förderbedarfen, mit Fluchtgeschichte und LSBTIQA*-Personen. Verschiedene Arbeitsmaterialien erleichtern die nachhaltige Implementierung eines lebendigen Schutzkonzeptes.

Michelle Lok-Yan Wichmann M.Sc. ist Psychologin und forscht im Department Erziehungswissenschaft der Universität Siegen u. a. zu (Prävention von) interpersoneller Gewalt. Lisa Tölle LL.M. ist Sonderpädagogin und Kriminologin an der Universität Siegen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist u. a. sexuelle und politische Bildung mit marginalisierten jungen Menschen. PD Dr. Silke Pawils, Dipl.-Psych., leitet seit 2008 die Forschungsgruppe "Prävention im Kindes- und Jugendalter" am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.Prof. Dr. Daniel Mays, lehrt und forscht in der Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik ("Emotionale und soziale Entwicklung") an der Universität Siegen.

Michelle Lok-Yan Wichmann M.Sc. ist Psychologin und forscht im Department Erziehungswissenschaft der Universität Siegen u. a. zu (Prävention von) interpersoneller Gewalt. Lisa Tölle LL.M. ist Sonderpädagogin und Kriminologin an der Universität Siegen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist u. a. sexuelle und politische Bildung mit marginalisierten jungen Menschen. PD Dr. Silke Pawils, Dipl.-Psych., leitet seit 2008 die Forschungsgruppe "Prävention im Kindes- und Jugendalter" am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.Prof. Dr. Daniel Mays, lehrt und forscht in der Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Förderpädagogik ("Emotionale und soziale Entwicklung") an der Universität Siegen.

1Basiswissen I: Kinder- und Jugendschutz in der Schule

1.1Zur Orientierung: Schule als sicherer und „feuerfester” Ort

Lassen Sie uns mit einem Vergleich zur Verdeutlichung unseres Anliegens beginnen. Jede Schule verfügt über ein Brandschutzkonzept: Welche Schritte unternehmen wir, wenn ein Feuer ausgebrochen ist? Wo stehen wie viele Feuerlöscher? Wo sind die Feuermelder? Wo sind sichere Orte, an denen wir uns sammeln, wenn es brennt? Aber auch: Welche Risiken bestehen, dass an unserer Schule ein Feuer ausbrechen kann? Was tun wir konkret, damit gar nicht erst ein Brand entsteht? Wie häufig überprüfen wir unsere Sicherheitsmaßnahmen – entsprechen sie noch unseren Bedarfen und den gesetzlichen Bestimmungen, oder müssen sie an neue Rahmenbedingungen angepasst werden? In Schulen müssen im Vorfeld eines Brandes – um in diesem Bild zu bleiben – die Schultische, der Boden, die Decken und die Wände „feuerfest” gemacht werden, um präventiv schützen zu können.

Konzept schützt und gibt Sicherheit

Ebenso wie Gefährdungslagen im Kontext Schule durch Brände bestehen, können sie auch durch (sexualisierte) Gewalthandlungen entstehen. Um Kinder und Jugendliche wirksam und bestmöglich vor (sexualisierter) Gewalt schützen zu können und allen Mitarbeitenden der Schule Sicherheit zu geben, braucht es auch ein Konzept, damit alle genau wissen: Was ist zu tun, damit es nicht „brennt”, oder was, wenn es (doch) „brennt”? Dazu sind tiefgreifende, feste Strukturen und Regeln, die als präventive Maßnahmen einen dauerhaften Grundschutz vor jeglicher Form von Gewalt garantieren, nötig. Damit in Verbindung stehen z.B. die folgenden Fragen:

Wie präsent sind die Themen Kinder- und Jugendrechte an unserer Schule?

Welche Strukturen und Regeln garantieren, dass Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen und auch wahrnehmen können?

Wie gehen wir an unserer Schule grundsätzlich mit Beschwerden von Lernenden um? Gibt es hier klar kommunizierte Abläufe und Zuständigkeiten, oder existiert das schuleigene Beschwerdemanagement doch eher nur „auf dem Papier”?

Welche Kompetenzen zur Prävention von Übergriffen jeglicher Art, darunter auch sexualisierte Gewalt, sind in unserer Schule eigentlich vorhanden und wo haben wir noch inhaltlich-fachlich oder auch organisatorisch-strukturell Nachholbedarf?

Was machen wir eigentlich, wenn wir den Verdacht haben, dass Lernende zu Hause oder in der Freizeit (sexualisierte) Gewalt erfahren?

Was machen wir, wenn sexualisierte Gewalt z.B. auch gegenüber Mitarbeitenden in unserer Schule ausgeübt wird?

besondere Rolle von Schulen

Fakt ist: Mit Ausnahme von Schulen müssen sämtliche Organisationen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und Verantwortung für sie übernehmen, verpflichtend über ein Schutzkonzept zur Prävention von (sexualisierter) Gewalt und der Intervention bei solcher verfügen (Schröer/Wolff 2018).

Situationen mit erhöhtem Risiko

Schulen kommt allerdings eine besondere Bedeutung zu: Sie spielen im Leben von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle und erreichen aufgrund der allgemeinen Schulpflicht täglich so viele Kinder und Jugendliche wie keine pädagogische Institution sonst: In Deutschland gibt es aktuell etwa 32.000 allgemeinbildende Schulen, an denen rund acht Millionen Lernende beschult werden (Statistisches Bundesamt 2021, 2022).

verantwortungsvoller Umgang mit Machtvorschuss

Im Rahmen der zahllosen sozialen Interaktionen, die an Schulen täglich u.a. in geringer sozialer Distanz ablaufen, gibt es auch solche Situationen, die ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von (sexualisierter) Gewalt an und zwischen Kindern und Jugendlichen bergen – sei es im Kontext des Sport- oder Schwimmunterrichts, in Pausen- oder Gesprächssituationen.

eigenes Rollenverhalten reflektieren

Aufgrund des Machtvorschusses, den Lehrkräfte und Fachkräfte an Schulen gegenüber Lernenden haben, kommt ihnen dabei eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu: Sie müssen verantwortungsvoll und sensibel mit diesem Machtvorschuss umgehen und ihn nicht missbrauchen. Gleichzeitig können sie erste Kontakt- und Vertrauensperson sein, wenn Lernende Gewalt erlebt haben. Eine Auseinandersetzung mit einem Schutzkonzept bedeutet also immer auch eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverhalten in der Schule, und damit verbunden eine Arbeit an der eigenen professionellen pädagogischen Haltung wie auch der professionellen Beziehungsgestaltung. Bereits 2014 forderte der damalige Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, dass Prävention im Handlungsfeld Schule verankert wird:

„Schulen sollten künftig das Aktionsfeld Nr. 1 der Prävention sein, denn nur dort können alle Kinder erreicht werden. Schutzkonzepte müssen in Schulen selbstverständlich werden.“ (Rörig, 2014)

Mays, D., Roos, S. (2018): Prima Klima in der inklusiven Schule. Wie man auch schwierige Beziehungen positiv gestalten kann. Ernst Reinhardt, München

1.1.1Der Auftrag von Schule: Bildung und Schutz

„Die Schule hat einen Bildungsauftrag, keinen Schutzauftrag!” oder „Bildung, Erziehung, Inklusion, und jetzt auch noch Kinder- und Jugendschutz – was denn noch alles?!” – das mögen erste Gedanken sein, die Ihnen durch den Kopf gehen. Wir möchten Sie mit diesem Ratgeber ermutigen, den Kinder- und Jugendschutz und damit auch einen Schutzauftrag der Schule nicht als etwas anzusehen, das „on top”, also zusätzlich zu dem Tagesgeschäft an der Schule passieren soll.

Bildung, Erziehung und Schutz gehen Hand in Hand

Im Gegenteil gehen Bildungs- und Erziehungs- sowie Schutzauftrag Hand in Hand: Lernende sind nur dann in der Lage, an Bildung teilzunehmen und teilzuhaben, wenn sie das in einem geschützten Rahmen tun können. Lassen Sie uns erläutern, was wir meinen.

sexualisierte Gewalttaten und ihre Folgen bleiben oft unsichtbar

Das Erleben von (sexualisierter) Gewalt ist häufig mit einer Beeinträchtigung der körperlichen und psychischen Gesundheit sowie der sozio-emo­tionalen Entwicklung verbunden, die Kinder und Jugendliche ein Leben lang begleiten kann und oftmals unentdeckt bleibt (Kap. 2.2.4).

keine Bildung ohne Schutz

Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erfahren haben und mit den Folgen leben müssen, werden von Bildung ausgeschlossen, weil sie im schlimmsten Fall gar nicht daran teilnehmen können. Ohne Schutz ist also keine Bildung möglich!

„Die Schule, als institutionalisierte Form des Lernens und Unterrichtens, darf Traumatisierungen und deren Folgen nicht in die therapeutische Schublade legen, sondern muss sich vielmehr um pädagogische Antworten und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen bemühen. Ein erfolgreiches Lernen, der Aufbau von Freude am Lernen und einer Selbstwirksamkeit in der Auseinandersetzung mit schulischen Themen können nur an einem „sicheren Ort“ erfolgen.“ (Möhrlein/Hoffart 2017, 93)

Lassen Sie uns auf unser Beispiel des Brandschutzkonzeptes zurückkommen. Es würde wahrscheinlich keine Schulleitung und mitarbeitende Person auf die Idee kommen zu sagen: „Nein, also ein Brandschutzkonzept brauchen wir nicht. Das ist völlig überflüssig, so etwas passiert an unserer Schule nicht.”

Schutzkonzept als selbstverständlicher und alltäglicher Teil des Schullebens

Ganz im Gegenteil: Ein Brandschutzkonzept ist ein ganz selbstverständlicher und alltäglicher Teil des schulischen Lebens. Und ein Brand passiert (meist) nicht, weil ein Brandschutzkonzept vorliegt. Gleichzeitig kann auf Grundlage des Konzeptes schnell und sicher gehandelt werden, sollte der Notfall doch eintreten. Genauso selbstverständlich und alltäglich soll auch ein Schutzkonzept für Ihre Schule werden, um den Schutz- und Bildungsauftrag der Schule vollständig leisten zu können (Abb. 1).

!

Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat bereits 2010 Empfehlungen „zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen in Schulen und schulnahen Einrichtungen” veröffentlicht und 2013 überarbeitet. Darin leitet sie einen Schutzauftrag von Schulen in Form von Prävention und Aufarbeitung (sexualisierter) Gewalt aus deren Bildungs- und Erziehungsauftrag ab und spricht sich dafür aus, dass „standortspezifische Schutzkonzepte bzw. Maßnahmen für den Kinderschutz” Teil des Schulalltags werden (KMK 2013, 3). Sie fordert u.a. auch, dass Fälle (sexualisierter) Gewalt „rückhaltlos” aufgeklärt werden: Die Schule soll ein „geschützte[r] und sichere[r] Ort” sein (KMK 2013, 1).

Abb. 1: Schule sicher leben – Bildung/Erziehung und Schutz als Teil des Schulalltags

Kultusministerkonferenz...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Diskriminierung • Grenzverletzung • interpersonelle Gewalt • Interventionsplanung • Kinderschutz • Missbrauch • Mobbing • Prävention • Praxisbuch • Schutz vor Gewalt • Schutz vor sexualisierte Gewalt • Übergriffe • UBSKM
ISBN-10 3-497-61770-9 / 3497617709
ISBN-13 978-3-497-61770-8 / 9783497617708
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