Leistungsheterogenität in der Grundschule -  Katrin Liebers

Leistungsheterogenität in der Grundschule (eBook)

Umgang mit Vielfalt im Unterricht
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
196 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-037589-5 (ISBN)
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Heterogenität stellt kein neues schulisches Phänomen dar. Dennoch sind Schulklassen in Hinblick auf die Leistungen der Kinder deutlich heterogener geworden. In einer sich rasant verändernden Gesellschaft steht die Grundschule heute erheblichen Herausforderungen gegenüber, grundlegende Bildung und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Unterschiede etwa in Bezug auf Geschlecht, Ethnizität, Milieu oder Behinderung und Begabung sind vielschichtig mit lern- und leistungsbezogenen Differenzen und dem Unterricht selbst verflochten. Im Mittelpunkt des Bandes stehen das Leistungsverständnis und die Leistungsheterogenität. Die Autorin stellt Konzepte für einen reflexiven Umgang damit in Unterricht, Schule und Gesellschaft vor. So können die komplexen Verschränkungen von Unterricht und verschiedenen Dimensionen von Heterogenität und Schulleistung verstanden und berücksichtigt werden.

Prof. Dr. Katrin Liebers lehrt und forscht am Institut für Grundschulpädagogik der Universität Leipzig.

Prof. Dr. Katrin Liebers lehrt und forscht am Institut für Grundschulpädagogik der Universität Leipzig.

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Heterogenität im Spiegel interdisziplinärer Diskurse


Leistungsheterogenität stellt eine spezifische Variante von Heterogenität dar, weswegen der Begriff Heterogenität genauer zu konturieren ist. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs finden sich neben dem Begriff der Heterogenität ( Kap. 2.3) ebenso der naturwissenschaftliche Begriff der Variabilität ( Kap. 2.1) oder die sozialwissenschaftlichen Begriffe der Differenz, Vielfalt, Diversität und Intersektionalität ( Kap. 2.2), wenn die Unterschiedlichkeit von Kindern in der Grundschule thematisiert wird. Diese Begriffe, die aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und zeitlichen Epochen herrühren, weisen gewisse semantische Schnittmengen auf, unterscheiden sich aber dennoch konzeptuell voneinander. Abschließend werden Schlussfolgerungen für eine reflexive Verwendung des Begriffes Heterogenität in der Grundschulpädagogik gezogen ( Kap. 2.4).

2.1           Naturwissenschaftliche Diskurse – Variabilität


Variabilität (von latein. variabilis = veränderlich) bezeichnet allgemein die Veränderlichkeit und speziell in der Biologie bzw. Genetik die Unterschiede zwischen einzelnen Individuen innerhalb einer Population. Die Variabilität führt zu einer Verschiedenheit bei der Ausprägung von Aussehen und Eigenschaften eines Individuums (Phänotyp), wobei die phänotypische Vielfalt als unendlich groß gilt (Peschke, 2019). Nach molekularbiologischen Untersuchungen sind die Unterschiede zwischen Individuen innerhalb einer Population größer als »die genetischen Unterschiede zwischen Populationen (Ethnien) der Menschen« (Peschke, 2019, S. 45).

Variabilität gilt als ein Motor der Evolution und wird durch genetische Faktoren (genetische Variabilität) wie auch Umweltfaktoren (modifikatorische Variabilität) bedingt (a. a. O.). Neuere Forschungen in der Epigenetik zeigen, dass die Umwelt Einfluss auf die Gene nehmen und somit auf zweifachem Wege die Variabilität beeinflussen kann. Bei epigenetischen Prozessen führen z. B. vorgeburtlicher oder frühkindlicher Stress des Kindes oder Traumaerfahrungen der Eltern dazu, dass Genabschnitte durch Enzyme verändert werden. Dadurch können diese stärker oder schwächer abgelesen (»an- und ausgeknipst«) und über Generationen hinweg in dieser veränderten Form vererbt werden (Fischer, 2016). Die DNA-Sequenz selbst und die darin abgelegten Informationen ändern sich jedoch nicht.

Bezogen auf die Entwicklung von Kindern werden drei Formen von Variabilität unterschieden: die interindividuelle Variabilität, die intraindividuelle Variabilität sowie die Variabilität des Entwicklungsverlaufs (Largo, 2007).

Die interindividuelle Variabilität bezeichnet die Unterschiedlichkeit der Entwicklung zwischen verschiedenen Kindern gleichen Alters, die sich in allen Entwicklungsmerkmalen und Eigenschaften feststellen lässt. Sie bezieht sich nicht nur auf biologische Merkmale wie das Aussehen, sondern auch auf die Entwicklung wichtiger Funktionen und Fähigkeiten; so prägen von gleichaltrigen Kindern einige schon sehr viel früher bestimmte motorische oder sprachliche Fähigkeiten aus als andere, ohne dass langfristig mit einer späteren Entwicklung dieser Funktionen gravierende Entwicklungsverzögerungen vorgegeben sind (Jenni et al., 2013).

Die intraindividuelle Variabilität beschreibt die Unterschiedlichkeit von Entwicklungsverläufen verschiedener Merkmale und Fähigkeitsbereiche innerhalb eines Kindes. Diese zeigen sich in der Schule z. B. als unterschiedlich ausgeprägte Stärken in den verschiedenen Fächern.

Die Variabilität des Entwicklungsverlaufs verweist darauf, dass sich Fähigkeiten eines Kindes nicht stetig und gleichmäßig entwickeln. Die Entwicklung wird geprägt von Entwicklungszuwächsen und -sprüngen, Stagnationen, in denen sich vorhandene Fähigkeit stabilisieren oder andere Entwicklungsschwerpunkte den Vorrang haben, und zuweilen auch von Rückschlägen. Der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo (1943–2020) hält zusammenfassend fest:

»Die Vielfalt bei Kindern ist in jeder Hinsicht so groß, dass Normvorstellungen in der Erziehung irreführend sind […]. Eine kindgerechte Erziehung setzt voraus, dass wir die Vielfalt in ihrem ganzen Ausmaß kennen und als biologische Realität akzeptieren« (Largo, 2007, S. 43).

2.2           Sozialwissenschaftliche Zugänge – Differenz – Vielfalt/Diversität – Intersektionalität


Die drei sozialwissenschaftlichen Begriffe der Differenz, Vielfalt und Diversität liegen in ihren wörtlichen Bedeutungen eng beieinander und haben sich historisch in verschiedenen Disziplinen der Sozialforschung etabliert. Die Soziologie hat seit Anbeginn soziale Differenz und damit auch soziale Benachteiligung thematisiert ( Kap. 2.2.1). Die Begriffe Vielfalt und Diversität ( Kap. 2.2.2) sowie der Begriff der Intersektionalität ( Kap. 2.2.3) wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Sozial-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften prominent. Sie wanderten über interdisziplinäre Diskurse in die Erziehungswissenschaft ein, wurden hier pädagogisch neu entworfen und veränderten sich weiter (Budde, 2017; Florin, Gutsche & Krentz, 2018, Salzbrunn, 2014; Prengel, 2010).

2.2.1         Differenz


Differenz (von latein. differentia = Unterschied, Verschiedenheit) ist zunächst ein erkenntnistheoretischer Begriff, denn eine eindeutige Unterscheidbarkeit von Dingen, Personen oder Werten etc. wird als Konstrukt von den Beobachtenden – zumeist durch Sprache vermittelt – erst in der Beobachtung geschaffen (Luhmann, 1988).

Eine zweite Bedeutungsvariante von Differenz ist die Feststellung von Verschiedenheit, die eines gemeinsamen Maßstabs oder Kriteriums (tertium comparationis, Prengel, 2010) bedarf, was das davon zu unterscheidende Gleiche auszeichnet – oder anders gesagt: Die Differenz wird verstanden als eine Relation von mindestens zwei in Vergleich gesetzten Aspekten oder Eigenschaften (Sturm, 2016). Mittels darauf basierender Differenzkategorien wird die Komplexität der Wirklichkeit reduziert, um Handlungsfähigkeit zu erzeugen: »Aus Unübersichtlichkeit wird dabei Ordnung, die Handeln überhaupt erst ermöglicht« (Budde, 2017, S. 14).

Diese kategoriale Unterscheidung wird auch auf den Umgang mit Menschen übertragen und übernimmt darin als funktionale soziale Kategorisierung eine entwicklungsgeschichtlich relevante Funktion bei der Entschlüsselung komplexer sozialer Situationen und für schnelle Vorhersagen über das Verhalten und die Erwartungen anderer Menschen (Otten, 2019, S. 28). Diese evolutionär und funktional wichtige Kategorisierung von Menschen auf der Basis von Merkmalsunterschieden geht jedoch zumeist über eine reine Deskription von Unterschieden in Gruppen hinaus und wird mit Wertdimensionen verbunden, nach denen Menschen als besser oder schlechter beschrieben werden (Otten, 2019, S. 27). Aus der Feststellung von Unterschieden folgen damit zugleich Exklusions- und Inklusionsprozesse in Gruppen. Innerhalb von Gruppen werden vor allem solche Unterschiede für Subgruppen relevant, die mit deutlich sicht- und unterscheidbaren Merkmalen belegt sind, was zu einer Favorisierung von Menschen mit ähnlichen Gruppenmerkmalen führt (a. a. O.).

Diese Prozesse sind bereits für antike und vormoderne Gesellschaften überliefert, wenngleich jede Zeit durch eigene »gesellschaftliche Dynamiken ebenso wie durch eine Vielzahl fluider (Binnen-)Differenzierungen geprägt« wird (Florin, Gutsche & Krentz, 2018, S. 10), sowohl auf der Makroebene der Repräsentantinnen und Repräsentanten der Gesellschaft als auch auf der Mikroebene der einzelnen Menschen und ihrer Verortung innerhalb der Gesellschaft (a. a. O.). Differenzkategorien werden im Sinne von doing difference (West & Fenstermaker, 1995) »durch handelnde Individuen immer wieder neu konstruiert und damit auf Dauer bestätigt, aber auch stets neu modifiziert« (Florin, Gutsche & Krentz, 2018, S. 23). Gleichzeitig wurden mithilfe dieser Differenzierungen bereits in der Vergangenheit »gesellschaftliche Ungleichheiten, die unterschiedliche Verteilung von Ressourcen sowie [] [der] Zugang zu Machtpositionen« (a. a. O., S. 9)...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Sanna Pohlmann-Rother, Sarah Désirée Lange
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Bildung • Lehren und Lernen • Ungleichheit
ISBN-10 3-17-037589-X / 317037589X
ISBN-13 978-3-17-037589-5 / 9783170375895
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