(Un-)mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule (eBook)
428 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-6667-8 (ISBN)
Benjamin Badstieber ist akademischer Rat am Lehrstuhl Inklusive Pädagogik und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaften an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Bettina Amrhein hat die Leitung des Lehrstuhls für Inklusive Pädagogik und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaften an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen inne.
Die Mehrdimensionale Diagnostik – Von der wahrnehmbaren Erscheinung zum Verborgenen – die Rekonstruktion als Möglichkeit des Verstehens und des Erklärens
Kerstin Ziemen
Der Beitrag skizziert mögliche Wege der Rekonstruktion von Verhalten und Handlungsweisen, die als problematisch im Kontext von Schule und vorschulischen Institutionen bewertet werden. Das Ziel ist es, Hintergründiges und Verborgenes aufzudecken und damit eine mögliche Basis zum Verstehen und Erklären zu bieten. Grundlage dafür ist relationales, kreatives Denken, um das Beobachtete systematisch zu befragen und seine invarianten Merkmale (das Verborgene) erkennen zu können. Die Erkenntnis wird zur begründeten Hypothese, welche schließlich im pädagogischen Kontext Bedeutung gewinnt. Grundsätzlich sind diese dargestellten Erkenntnisse auf alle Lebensaltersphasen zu übertragen.
Vorbemerkungen
Die traditionelle medizinische bzw. psychologische Sichtweise auf „Störung“, „Auffälligkeit“ und „Behinderung“ abstrahiert von der Lebensgeschichte des Menschen und stellt das Normabweichende und Defekthafte als dominante Bezugsgröße heraus. Die wahrgenommene „Störung“ oder „Abweichung“ wird dem Menschen als Eigenschaft zugewiesen. Die Feststellung und Beobachtung von außen führt dazu, das Beobachtete als alleinigen Ausdruck der Person anzusehen, diese demnach zu „verdinglichen“ (vgl. Jantzen 2000/2001). Erst wenn die zu Diagnostizierenden selbst und die Beobachteten als wesentliche Bedingung des beobachteten Prozesses miteingeführt werden, beginnt sich diese Verdinglichung zu verflüssigen. Wissenschaftstheoretisch wird damit zu einem neuen Paradigma übergegangen, das mit Toulmin (1981, S. 47) als verändertes „Ideal der Naturordnung“ oder „Regularitätsprinzip“ zu verstehen ist. Dieses abstrakte Paradigma ist in seiner Ausarbeitung bezüglich der Diagnostik noch längst nicht abgeschlossen.
Veränderung der Perspektive
Die Kennzeichnung von „Auffälligkeiten“ und „Störungen“ als solche ebenso wie die diagnostische Klassifikation tragen zumeist kaum etwas dazu bei, die wahrgenommenen Phänomene erklären und die Situation verstehen zu können. Die Kennzeichnungen und Klassifikationen können mit Bourdieu als „common sense“ (etwas, was alle oder die meisten teilen) bezeichnet werden. Der Forschung kommt die Aufgabe zu, diesen „common sense“ zu hinterfragen und damit seine allgemeinen oder invarianten Merkmale herauszuarbeiten (vgl. Bourdieu 1996, S. 267). Der Bruch mit dem „common sense“ erfordert auf das Verborgene und Nicht-Sichtbare zu achten. Zumeist werden vermeintliche Realitäten, wie z. B. das deklarierte „abweichende Verhalten“, als das zu Behandelnde und zu Vermeidende in den Fokus gerückt. Zweifel an der vermeintlichen Realität und ständige Alarmbereitschaft darüber, auch selbst als Diagnostiker*in und Pädagog*in diesen Einflüsterungen ausgesetzt zu sein, ist ein erster Ansatz. Alles das, was als selbstverständlich erscheint und hingenommen wird, wie hier vermeintliche Probleme im Verhalten von Menschen, sind auf der Basis relationalen Denkens in ihrer Genese und ihrer Verwobenheit mit sozialen und gesellschaftlichen Fragen zu dechiffrieren. Das erfordert Rekonstruktionsarbeit mit dem Ziel, sich dem Beobachtbaren im Verhältnis zum Verborgenen und zur Situation erklärend und verstehend zu nähern. Das führt zum Perspektivwechsel, aus dem sich pädagogische Ideen entwickeln können.
Führt die bloße Kennzeichnung von „Störung“ oder „Abweichung“ zur Reduktion der Komplexität des Menschen auf ein „Merkmal“, auf eine (beobachtbare) Seite; öffnet relationales Denken die Wahrnehmung dahin, den Menschen als Menschen in seiner Komplexität und Ganzheit, als Menschen in der Menschheit zu betrachten.
Orientierungen mit Blick auf eine subjektorientierte Diagnostik
Neurologische Geschichten von Oliver Sacks
Sicher sind die Bücher und dargestellten neurologischen Geschichten von Oliver Sacks bekannt. Das Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (1996) des bekannten und leider verstorbenen Professors für Klinische Neurologie Oliver Sacks (1933–2015) ebenso wie alle seine anderen Werke, haben mich persönlich und mein Denken über Menschsein, Behinderung, „Störung“ nachhaltig beeinflusst. Als Neurologe ist Sacks Naturwissenschaftler und Arzt, interessiert sich gleichermaßen für Menschen und Krankheiten, fühlt sich zum Wissenschaftlichen sowie „Romantischen“ hingezogen (Sacks 1996, S. I). „Romantiker in der Wissenschaft haben weder das Bedürfnis, die lebendige Wirklichkeit in elementare Komponenten aufzuspalten, noch wollen sie den Reichtum der konkreten Lebensprozesse in abstrakten Modellen darstellen, die die Phänomene ihrer Eigenheiten entkleiden. Ihre wichtigste Aufgabe sehen sie darin, den Reichtum der Lebenswelt zu bewahren, und sie erstreben eine Wissenschaft, die sich dieses Reichtums annimmt“ (Sacks 1993, S. 9).
Sacks kritisiert, dass Krankengeschichten keine Subjekte kennen bzw. durch die Anamnese nur oberflächlich erfasst werden, wie z. B. folgender Auszug aus einem medizinischen Gutachten zeigt: „ein trisomischer weiblicher Albino von einundzwanzig Jahren“ (S. II). Seine Idee ist es, die Krankengeschichten zu wirklichen Geschichten auszuweiten. Was an den Geschichten fasziniert, ist die Übersetzungsleistung des Autors: vorher uns fremde und bizarre Verhaltens- und Handlungsweisen erscheinen durch Entschlüsselung nun verstehbar und erklärbar.
Bezüge zur Sonderpädagogik und dem Fokus auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene scheinen offensichtlich. Diagnosen und Klassifikationen, die durch Untersuchungen, Tests, Beobachtungen, denen vorschnell Bewertungen (z. B. „störend“, „abweichendes Verhalten“) folgen, lassen kaum Raum für Subjektives und persönlich Erfahrenes.
Rehistorisierende Diagnostik
In den Traditionen von A. R. Lurija entwickelte sich die „Rehistorisierende Diagnostik“ (vgl. Jantzen/Lanwer-Koppelin 1996). Wurde diese zunächst für Prozesse schwerer Behinderung ausgearbeitet und diskutiert, erhebt der Ansatz Anspruch auf die Analyse jeglicher Situationen, in denen Verhalten und/oder Handlungsweisen von Menschen irritieren bzw. als nicht verstehbar und erklärbar scheinen. „Rehistorisierung stellt insofern ein methodisches Verfahren der Diagnostik dar, in dessen Mittelpunkt das Werden und Gewordensein eines Menschen steht, d. h. die Rekonstruktion seines Soseins“ (Lanwer 2010, S. 89). Das Besondere des Menschen ist Ergebnis seiner lebensweltlichen Umstände und seiner Lebensgeschichte, seiner Erfahrungen und seiner Sozialisation. Dieses zu entschlüsseln und dem Verstehens- und Erklärungsprozess zuzuführen bezieht alle Akteure ein, auch die diagnostizierende und die zu diagnostizierende Person (vgl. ebd., S. 89).
Die Rekonstruktion der Bedingungen von Lernen und Entwicklung führt dazu, jedes Verhalten, Handeln und Wahrnehmen als Allgemeinmenschliches zu erkennen. Beispiele für die Dekonstruktion und Rekonstruktion finden sich in der „Rehistorisierung“ (vgl. Jantzen/Lanwer-Koppelin 1996) von zuvor fremd erlebtem Verhalten, Handeln, Wahrnehmen und Denken und in pädagogischen Konzepten und Arbeitsweisen, die nach der Rekonstruktion nach Bedingungen für Lernen und Entwicklung suchen, wie das beispielhaft durch die Arbeit von Christel Manske gezeigt werden kann. Auf der Basis „kultur-historischen Denkens“, d. h. auch Wygotskij’s Erkenntnisse stellt sie bspw. heraus, dass die „Ursache der geistigen Behinderung bei Kindern mit Trisomie 21 nicht eine biologische...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-6667-0 / 3779966670 |
ISBN-13 | 978-3-7799-6667-8 / 9783779966678 |
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