Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen (eBook)
165 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041506-5 (ISBN)
Prof. Dr. Etta Wilken lehrte am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik. Mit Beiträgen von Maren Aktas, Solveig Chilla, Janina Dott, Andrea Halder, Tanja Jungmann, Ulla Licandro, Lena Lingk, Kristin Snippe, Ingeborg Thümmel, Verena Weinert, Sylvia Maria Wolf.
Prof. Dr. Etta Wilken lehrte am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik. Mit Beiträgen von Maren Aktas, Solveig Chilla, Janina Dott, Andrea Halder, Tanja Jungmann, Ulla Licandro, Lena Lingk, Kristin Snippe, Ingeborg Thümmel, Verena Weinert, Sylvia Maria Wolf.
Diagnostische Fragen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen
Maren Aktas & Sylvia Maria Wolf
1 Die diagnostische Herausforderung
1.1 Sprachdiagnostik bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen
Die kommunikative und sprachliche Entwicklung von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen einzuschätzen, stellt Fachleute vor die Herausforderung, dem Kind einerseits in seiner Individualität gerecht zu werden und andererseits methodische Standards einzuhalten. Kinder mit kognitiven Beeinträchtigungen unterscheiden sich erheblich in ihren Kompetenzen, und weder das Lebensalter noch das mentale Alter geben zuverlässige Hinweise darauf, auf welchem sprachlichen Entwicklungsstand sie sich befinden und welche Untersuchungsmethoden entsprechend geeignet sind. Bewährte diagnostische Vorgehensweisen können nicht unmittelbar angewendet werden, weil die Kinder oft nicht in der Lage sind, die gestellten Anforderungen zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund haben wir ein entwicklungsorientiertes Vorgehen für die Sprachdiagnostik bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung ausgearbeitet (Aktas, Asbrock, Doil & Müller 2012). Ein Kernpunkt des theoriegeleiteten Konzepts ist das adaptive Testen (Aktas 2004), bei dem nicht automatisch ein für das Lebensalter des Kindes vorgesehenes Testinstrument eingesetzt, sondern die Aufgabenauswahl in einem systematischen Suchprozesse an das aktuelle Funktionsniveau des Kindes angepasst wird.
1.2 Diagnostische Fragen im Kontext kindlicher Mehrsprachigkeit und kognitiver Beeinträchtigung
Potenzieren sich bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die zudem mehrsprachig aufwachsen, die Herausforderungen? Was die Diagnostik betrifft sicherlich. Die Sprachdiagnostik ist bei dieser Zielgruppe ein noch komplexeres Unterfangen, da auch die Einflussfaktoren auf einen gelingenden Mehrspracherwerb mannigfaltig sind. Hierzu zählen unter anderem das Alter bei Beginn des Lernens der jeweiligen Sprache, die individuellen Sprachverarbeitungsfähigkeiten des Kindes, die Qualität und Quantität des Inputs in den verschiedenen Sprachen, die gesellschaftliche und individuelle Einstellung zum mehrsprachigen Aufwachsen, das Sprachprestige der jeweiligen Sprachen, motivationale Aspekte, Merkmale der Erstsprache u.v.m. (Chilla 2020). Zudem besteht keine Übereinkunft darüber, wie eine gute Sprachdiagnostik aussehen sollte. Unterschiedliche Fachdisziplinen verfolgen differente diagnostische Zielsetzungen (kategoriale Diagnostik z. B. zur Frage der passenden Beschulung; Förderdiagnostik z. B. zur Ableitung konkreter Förderziele; Einschätzung der Teilhabemöglichkeiten).
Eine Reihe grundsätzlicher Fragen, deren Beantwortung Auswirkungen auf die Diagnostik, Interventionsplanung und Elternberatung hat, sind ebenfalls noch weitgehend ungeklärt. Zum Beispiel die Frage, ob das mehrsprachige Aufwachsen bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung den Spracherwerb noch zusätzlich erschwert (vgl. Ostad, 2014). Wenn dem so wäre, wäre die Empfehlung, den Spracherwerb bei einem Kind mit kognitiver Beeinträchtigung auf eine Sprache zu beschränken, durchaus nachvollziehbar (abgesehen davon, dass es aus vielen anderen Gründen nicht empfehlenswert ist). Dem scheint aber nicht so zu sein. Die bisherigen Befunde für Kinder mit einer kognitiven Beeinträchtigung lassen, so Ostad (2014), vielmehr folgenden Schluss zu: »Sofern ein Kind eine Sprache lernen kann, kann es auch zwei beherrschen« (ebd., S. 85). Einige Fallbeispiele untermauern diese Aussage (z. B. Rondal 1998; Vallar & Papagno 1993). Bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung definieren eher die sprachübergreifenden zugrundeliegenden Sprachverarbeitungs- und Sprachlernfähigkeiten des Kindes (Regelableitung, Merkfähigkeit etc.) die Grenzen des Möglichen. Bei der Gestaltung der Sprachintervention müssen diese kognitiven Beeinträchtigungen bestmöglich berücksichtigt werden.
Fragen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Diagnostik
Bei jungen Kindern, bei denen später eine kognitive Beeinträchtigung diagnostiziert wird, ist häufig die ausbleibende Sprache Grund für die Vorstellung beim Kinderarzt, in der Frühförderstelle oder in einem Sozialpädiatrischen Zentrum: »Unser Kind spricht noch nicht richtig, weder die Muttersprache noch Deutsch. Es kommuniziert eh nicht viel, sondern schreit und tobt eher. Andere Kinder in dem Alter sind schon viel weiter. Was hat mein Kind bloß?«
In anderen Fällen sind die Eltern selbst zunächst unbesorgt. Wenn das Kind die Kita oder Tagespflege besucht und dort nach einer angemessenen Eingewöhnungszeit keine Fortschritte im Deutschen macht und sich nicht richtig in den Kita-Alltag einfindet, sind es die Fachkräfte, die die Eltern um eine diagnostische Abklärung bitten. Wieder andere Kinder fallen bei den Schuleingangsuntersuchungen mit sprachlichen Rückständen auf.
In all diesen Fällen muss interdisziplinär abgeklärt werden, ob sich die Auffälligkeiten auf die Sprache beschränken, ob eine globalere Entwicklungsproblematik vorliegt und ob körperlich-organische Erkrankungen verursachend sind (z. B. Hörbeeinträchtigungen, syndromale Erkrankungen).
Kasten 1 – Entwicklungs- und differentialdiagnostische Fragen bei der Erstvorstellung eines Kindes, z. B.:
- ·
Liegt überhaupt eine Entwicklungsbeeinträchtigung und/oder Verhaltensauffälligkeit vor?
- ·
Beschränken sich die Beeinträchtigungen auf die Kommunikations- und Sprachentwicklung oder sind weitere Entwicklungsbereiche betroffen? Wenn ja, welche?
- ·
Wenn nur die Sprache betroffen ist: Zeigen sich Auffälligkeiten in beiden oder nur in einer Sprache?
Wird eine kognitive Beeinträchtigung (geistige Behinderung, Lernbehinderung) diagnostiziert, sind die diagnostischen Fragen je nach Anwendungsbereich weiter zu differenzieren (s. Kasten 2). Bei der Verlaufsdiagnostik schließlich geht es um Fragen der Wirksamkeit von Therapiemaßnahmen über die Feststellung von Entwicklungsfortschritten.
Kasten 2 – Sprachpsychologische und förderdiagnostische Fragen, z. B.:
- ·
An welchem Punkt in der Kommunikations- und Sprachentwicklung steht das Kind aktuell?
- ·
Über welche sprachlichen Fähigkeiten verfügt das Kind bereits in der jeweiligen Sprache?
- ·
Wie handelt es im Alltag sprachlich? Wie kommt es mit den verschiedenen Sprachen zurecht?
Fragen zu den Sprachlernbedingungen
Die Analyse der realen Sprachlernbedingungen ist ein elementarer Bestandteil der Sprachdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern, und in jedem Fall sollte eine Optimierung der Lernmöglichkeiten Teil der Intervention sein. Denn während wir auf die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes nur begrenzt Einfluss nehmen können, so ist eine Verbesserung der Sprachlernbedingungen in vielen Fällen zumindest in Ansätzen möglich. Das Fragenspektrum der Eltern und Bezugspersonen dazu, wie sie selbst ihr Kind beim Erlernen mehrerer Sprachen unterstützen können, ist sehr breit (vgl. Buschmann & Schumm 2017). Auf einige grundsätzliche Fragen, z. B. ob ein Kind generell mit dem Lernen mehrerer Sprachen überfordert ist, gibt es inzwischen evidenzbasierte Antworten (Scharff Rethfeldt et al. 2021. Die meisten Fragen erfordern jedoch eine individuelle Analyse der aktuellen Lebenssituation der Familie. Bei den diagnostischen Fragen zur sprachlichen Umwelt orientierten wir uns an den in Kasten 3 dargestellten Kriterien, die günstige Sprachlernbedingungen auszeichnen. So können gemeinsam mit den Eltern Wege zu einer gelingenden Mehrsprachigkeit erarbeiten werden.
Kasten 3: Günstige Sprachlernbedingungen (vgl. Tracy, 2007; Aktas, Asbrock, Frevert & von Lehmden, 2017)
Quantität und Kontinuität – Erhält das Kind genügend und regelmäßig Sprachinput in den jeweiligen Sprachen? Schätzungen zufolge sollte mindestens ein Viertel des regelmäßigen Sprachinputs auf die am wenigsten genutzte Sprache entfallen (Pearson, Fernandez, Lewedeg & Oller 1997). Unklar ist allerdings, ob dieses Ausmaß bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung ausreichend ist.
Qualität – Wie gut sprechen die Bezugspersonen die jeweilige Sprache? Das Sprachangebot sollte qualitativ hochwertig sein, d. h. die Bezugsperson sollte die jeweilige Sprache phonologisch, prosodisch, lexikalisch und grammatikalisch beherrschen (vgl. u. a. Place & Hoff 2016). Diese Forderung gilt allgemein für einen gelingenden Mehrspracherwerb. Bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung kann es womöglich entscheidender sein, dass es der Bezugsperson gelingt, sich möglichst gut an den aktuellen sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes anzupassen. Das bei jüngeren typisch entwickelten Kindern eingesetzte intuitive Elternverhalten (Babytalk,...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2022 |
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Zusatzinfo | 21 Abb., 8 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Förderschule • Förderschwerpunkt Sprache • Migrationshintergrund |
ISBN-10 | 3-17-041506-9 / 3170415069 |
ISBN-13 | 978-3-17-041506-5 / 9783170415065 |
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