Individualisierung und Schule -

Individualisierung und Schule (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
204 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-6696-8 (ISBN)
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Der Begriff der Individualisierung hat Einzug in die Schulen und Lehrer:innenbildung genommen und wird dort mit konkreten Maßnahmen umgesetzt. Dieser Wandel zu mehr Selbstbestimmung eröffnet zahlreiche Chancen und beinhaltet zugleich viele Risiken. Diese Chancen und Risiken nimmt der Sammelband in den Blick. Untersucht werden zum einen konkrete Umsetzungen der Individualisierung in der Schule und zum anderen jene gesellschaftlichen Entwicklungen, die wiederum maßgeblich auf die Individualisierung der Schulen einwirken (Digitalisierung, Migration, Ökonomisierung, Inklusion usw.).

Michael Röhrig leitet das Studienseminar für Gymnasien in Marburg und war Lehrkraft, Ausbilder am Studienseminar für Gymnasien in den (Fach-)Modulen Deutsch, Methoden und Medien sowie Schulleiter. Prof. Dr. Thomas Kron ist Professor für Soziologie an der RWTH Aachen. Yvonne Nehl leitet den Seminar-Entwicklungsprozess Individualisierung und ist selbst Ausbildnerin am Studienseminar für Gymnasien in Marburg. Felix Naglik ist Lehrer am Schwalmgymnasium in Treysa für die Fächer Deutsch, Ethik und Geschichte sowie Ausbilder am Studienseminar für Gymnasien in Marburg in den Ausbildungsbereichen »Unterrichten im Unterrichtsfach Deutsch« sowie »Die Lehr- und Lernkultur im Unterrichtsfach innovativ gestalten«. Gemeinsam mit Yvonne Nehl koordiniert er den Seminarentwicklungsprozess »Individualisierung«.

Vorwort


In Hessen sind Lehrkräfte gesetzlich verpflichtet, Unterricht so zu gestalten, dass sich alle Schüler:innen in ihrer eigenen Weise entwickeln können (HSchG § 3 Abs. 6). Dieser Auftrag trifft sicherlich auf breite Zustimmung. Es gibt jedoch auch gute pädagogische Gründe, dass Schüler:innen entsprechend ihrer jeweiligen individuellen Lernausgangslage angemessen gefördert werden. Ein Blick in die Schulrealität zeigt, dass es bei Kindern und Jugendlichen zunehmend enorme Unterschiede in ihren jeweiligen Lernvoraussetzungen gibt, beispielsweise hinsichtlich Interessen, Motivation, Begabung, Alter und Geschlecht, ethnischer, kultureller oder sozialer Herkunft. Hinzu kommt, dass keine zwei Menschen auf die gleiche Weise lernen. Und doch soll die Schulzeit für alle ertragreich sein, alle sollen etwas mitnehmen. Damit dies gelingen kann, muss Unterricht sich weiterentwickeln, müssen Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit zukünftig verstärkt auf die individuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen richten. Daraus ergibt sich notwendigerweise eine große Herausforderung für die Aus- und Fortbildung aller Lehrkräfte, insbesondere der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst, die noch am Anfang ihres Professionalisierungsprozesses stehen.

Die Fokussierung auf das Individuum in Schule und Gesellschaft steht in engem Zusammenhang mit dem immer stärker werdenden Einfluss bestimmter soziokultureller Phänomene wie z. B. Inklusion, Migration, Globalisierung und Digitalisierung. Der daraus resultierende gesellschaftliche Wandel (siehe hierzu Kron in diesem Band) sorgt für eine zunehmende Diversität von Kindern und Jugendlichen in der Schule, die zunächst einmal sehr zu begrüßen ist. Für alle an Schule Beteiligten (zu den verschiedenen Akteur:innen siehe Brüsemeister in diesem Band) stellt sich darüber hinaus die Frage, wie schulische Lernprozesse gestaltet werden müssen, um vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Lernausgangslagen und Lernbedürfnisse für alle Schüler:innen wirksam zu sein.

Individualisiertes Lernen versucht, dieser Unterschiedlichkeit u. a. dadurch Rechnung zu tragen, dass eine Vielfalt an Lernwegen, Lernmethoden und Lernangeboten präsentiert wird (siehe dazu exemplarisch Schütz/Möller in diesem Band). Es kommt dabei vornehmlich darauf an, eine optimale Passung zwischen den Lernvoraussetzungen und den Lernangeboten zu finden, da sowohl eine Unter- als auch eine Überforderung der Lernenden sich negativ auf den Lernerfolg auswirken kann. Individualisierung bedeutet folglich, die Lernenden individuell zu fördern und auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe abzuholen. Was theoretisch plausibel und erstrebenswert erscheint, ist in der praktischen Umsetzung indes bisweilen schwierig. Den angehenden Lehrkräften stellt sich nämlich zu Beginn ihrer Ausbildung unweigerlich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des individualisierten Lernens im Klassenzimmer mit Bezug auf die Realisierbarkeit eines solchen Unterrichts. Bereits der erste Schritt in diesem Prozess ist für Anfänger:innen eine große Hürde: Bevor sie ein Klassenzimmer zum ersten Mal betreten, müssen sie sich nämlich von der Vorstellung befreien, dass sie eine Klasse bzw. Lerngruppe unterrichten und ihr Lehren sich an imaginären Durchschnittslernenden ausrichtet. Sie müssen lernen, dass sich ihr unterrichtliches Handeln an den individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler:innen orientieren soll, denn das Lernen bestimmt das Lehren (siehe am Beispiel sehbehinderter Schüler:innen Mahnke in diesem Band). Individualisierter Unterricht ist dementsprechend voraussetzungsreich und beansprucht fachdidaktische und diagnostische Kompetenz, adaptive Expertise, die Befähigung zu effektivem Feedback, Beziehungskompetenz sowie eine förderdiagnostische Haltung auf Seiten der Lehrkräfte.

Dieser Herausforderung stellt sich die für die Lehrkräfteausbildung in Hessen zuständige Hessische Lehrkräfteakademie, indem sie seit 2013 den hessischen Studienseminaren als ein landesweites Ziel in den jährlichen Arbeitsprogrammen verpflichtend vorschreibt, individualisierte Lern- und Gestaltungsprozesse in ihrer Ausbildungsarbeit zu verstetigen und dafür Sorge zu tragen, dass Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst entsprechende Kompetenzen erwerben. Dieser Auftrag wird von den Ausbildungskräften durch ein breites Angebot an entsprechenden Ausbildungselementen umgesetzt. Zu nennen sind in diesem Kontext das Modul „Diagnostizieren, Fördern, Beurteilen“, das alle Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst absolvieren müssen, sowie weitere Ausbildungselemente wie z. B. die Arbeit mit dem Prozessmodell (Bauch/Maitzen/Katzenbach 2011), individualisierte Unterrichtsnachbesprechung, individuelle Entwicklungsgespräche, Portfolioarbeit, kollegiale Fallberatung und personenorientierte Beratung mit Coaching-Elementen (vgl. Nehl/Naglik/Röhrig in diesem Sammelband).

Auch der Bundesarbeitskreis für Lehrerbildung (bak), die bundesweite Interessenvertretung der Seminar- und Fachleitungen in den Studienseminaren, hält mit Blick auf eine möglichst hohe Qualität der Lehrkräfteausbildung den Erwerb interkultureller und inklusiver Kompetenzen wie z. B. Umgang mit Vielfalt und förderpädagogische Grundkompetenzen für dringend geboten.

Der neue Hessische Referenzrahmen Schulqualität (Hessische Lehrkräfteakademie 2021) schließlich widmet dem Thema „Umgang mit Heterogenität und Diversität“ ein eigenes Kapitel innerhalb des Qualitätsbereichs VI „Lehren und Lernen“ und verdeutlicht damit, welch großes Gewicht dem Konzept der Individualisierung in der Schule von heute beigemessen wird. Der Hessische Referenzrahmen Schulqualität beschäftigt sich dabei mit folgenden Fragen: Wie kann das einzelne Kind erfolgreich lernen? Worin liegt seine persönliche Besonderheit, wo seine nächste Entwicklungsstufe und wie kann die Lehrkraft es bis dahin begleiten?

Nicht unerwähnt bleiben darf die bedeutsame Rolle, die die Digitalisierung in diesem Kontext spielen kann. Bei der Implementierung von individualisiertem Lernen können digitale Angebote die Lehrkräfte bei der Erstellung z. B. von differenzierten Unterrichtsmaterialien und bei Korrektur- und Feedbackprozessen erheblich entlasten (vgl. den Beitrag von Deckert-Peaceman/Scholz in diesem Band). Die Möglichkeiten hierbei sind fast grenzenlos, da Lehren und Lernen dadurch mobil, zeit- und ortsunabhängig geworden ist. Selbstverständlich ist es bei digitalen Lernangeboten immer erforderlich, neben der kreativen Gestaltungskompetenz auch kritische Urteilsfähigkeit bzw. Medienmündigkeit auszubilden.

Wenn das Lernen stärker auf die einzelne Person abgestimmt wird, dann kann aus dem Lernen an sich ein Lernen werden, das für die Schüler:innen persönlich bedeutsam ist, was nachgewiesenermaßen zumindest den Lernerfolg sowie die Lernlust erhöht. Zusätzlich können sich durch individualisiertes Lernen weitere positive Effekte in einer Lerngruppe mit Blick auf überfachliche Kompetenzen ergeben. Das Kennenlernen anderer Kulturen, das zu einem besseren Verständnis untereinander und damit zu einem stärkeren Zusammenhalt in der Lerngruppe führen kann, setzt voraus, dass jede und jeder wahrgenommen wird und ihre bzw. seine Geschichte erzählen kann. Damit solcher Unterricht gelingen kann, bedarf es neben der erwähnten nachhaltigen Aus- und Fortbildung weiterer gemeinsamer schulischer Anstrengungen, wie z. B. Stärkung der kooperativen Professionalität von Lehrkräften – im Übrigen die mit 1,57 höchste gemessene Effektstärke in der vielzitierten Studie von Hattie – oder die Arbeit in multiprofessionellen Teams.

Die Lebenswelt der Kinder hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert, wohingegen unser Bildungssystem weitgehend konstant geblieben ist. Die Frage muss erlaubt sein, welche Voraussetzungen eine zukunftsfähige Schule braucht. Wenn man sich vor Augen führt, dass es in der Grundschule Leistungsunterschiede von bis zu drei Schuljahren in einer Klasse gibt, ist die Frage nach anderen Kriterien als dem Alter bei der Einteilung in Lerngruppen mehr als angebracht. Wenn individualisierter Unterricht – wie gesetzlich vorgegeben – implementiert werden soll, muss zweifellos auch über eine Weiterentwicklung der Prüfungskultur nachgedacht werden, denn die Prüfungskultur bedingt die Lernkultur. Sind Vergleichsarbeiten und Zentralprüfungen dann nicht anachronistisch? Wenn Lernen im Gleichschritt tatsächlich ausgedient hat, wird sich auch...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-6696-4 / 3779966964
ISBN-13 978-3-7799-6696-8 / 9783779966968
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