Die Macht der Ordnung. Perspektiven auf Veranderung in der Pädagogik -

Die Macht der Ordnung. Perspektiven auf Veranderung in der Pädagogik (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
234 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-6675-3 (ISBN)
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In den letzten Jahren war zu beobachten, dass sich viele Felder der Erziehungswissenschaft mit sich ausdifferenzierenden (macht-)kritischen Theorien und Perspektiven auseinandergesetzt und dabei auch die Wirkung der eigenen gesellschaftlichen Positionierung reflexiv in den Blick genommen haben. Der vorliegende Band greift dies für die Sonderpädagogik auf, sei es durch Anknüpfung an bewährte Ansätze der kritischen Sonder- und Allgemeinpädagogik, der Psychoanalyse, des (Post-)Strukturalismus oder durch die Rezeption macht- und diskriminierungskritischer Theorien. Dabei geht es um die Reflexion eigener Positionierungen von Pädagog*innen sowie um strukturelle und personale Diskriminierungspraktiken im pädagogischen Alltag und deren Wirkung.

Susanne Leitner, Dr., lehrt und forscht mit dem Schwerpunkt Flucht an der TU Dortmund. Weitere Arbeitsfelder sind Kinder und Jugendliche, Bildung und Erziehung, sequentielle Traumatisierung im Kontext prekärer Aufenthaltsperspektiven, reflexive/psychoanalytische Forschung und machtkritische Forschung. Ramona Thümmler, Dr. phil., Dipl.-Päd., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, promovierte an der Technischen Universität Dortmund zur interprofessionellen Zusammenarbeit und arbeitet dort an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Fachgebiet Soziale und Emotionale Entwicklung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Aufwachsen unter erschwerten Bedingungen, interprofessionelle Kooperation, Flucht und Migration, Zusammenarbeit mit Eltern sowie Professionalisierung von pädagogischen Fachkräften.

Worte finden


Yandé Thoen-McGeehan und Beyza Kacmaz

„Eine der letzten romantischen Sachen in der Welt ist wohl wirklich die Vielsprachigkeit. Sie ist so liebenswert umständlich, zwingt uns in unpraktische Prozeduren, macht uns auf einen Schlag von weltläufigen, selbstbewussten Individuen zu kindlich agierenden, imbezilen Stammlern, die sich mit primitiven Gesten und blödsinniger Schauspielerei zu verständigen suchen“ (Roger Willemsen zit. n. Grjasnova 2021).

Ist Mehrsprachigkeit eigentlich eine Ressource oder ein Risikofaktor für die Entwicklung von Heranwachsenden? Eine Schulleiterin in Berlin-Neukölln klagte 2018 in der Bild-Zeitung über die Arabisierung ihrer Schule (vgl. Mildner 2018). Gleichzeitig erfreuen sich bilinguale und sogar trilinguale Schulen größter Beliebtheit in deutschen Großstädten (vgl. Grjasnova 2021).

In diesem Artikel wollen die beiden Autorinnen des Textes eigene biographische Erfahrungen oder Anekdoten aus ihrem Umfeld heranziehen, um die Dilemmata aufzuzeigen, die sich aus Forderungen nach Inklusion und Chancengleichheit auf der einen Seite und Leistungsanspruch und Deregulierung auf der anderen Seite ergeben.

Während eine der beiden Autorinnen dieses Textes vier Sprachen fließend (Deutsch, Türkisch, Pomakisch, Englisch) und eine zusätzlich gebrochen (Französisch) spricht und die andere der beiden zwei Sprachen fließend (Deutsch und Englisch) spricht, erhält letztere für das Sprechen ihrer Muttersprache regelmäßig Komplimente. Am Flughafen wird sie je nach Standort grundsätzlich auf Englisch, manchmal auf Französisch oder Spanisch angesprochen, niemals in ihrer Muttersprache Deutsch.

Mit der Frage nach ihrer ursprünglichen Herkunft, werden beide Autorinnen ihr Leben lang in ihrem Geburtsland Deutschland darauf hingewiesen, dass ihr äußeres Erscheinungsbild nicht der hegemonialen Norm entspricht. Sie werden deshalb gebeten, ihrem Gegenüber verständlich zu machen, weshalb sie durch ihre Hautfarbe oder Haartextur, Gesichtszüge oder Bedeckungsgrad ihrer Haare so gar nicht den Anschein erwecken, Deutsche zu sein.

Die vier Sprachen fließend beherrschende Autorin des Textes wurde in ihrer ersten Physikunterrichtsstunde gebeten, ihren Hijab für die Schulstunde abzunehmen. Sie weigerte sich. Am Ende des Schulhalbjahres erhielt sie die Note Mangelhaft. Die Begründung des Lehrers bestand in den angeblich schlechten Deutschkenntnissen der Schülerin. Der Physiklehrer empfahl ihr, doch mehr zu lesen, um diese aufzubessern. Dass sie genau das seit ihrer Kindheit tat und im Abitur 15 Punkte im Fach Deutsch erhielt, erfuhr er nie.

Wir sind mit Texten wie diesen in die Lage versetzt, Diskurse um Inklusion und Benachteiligung mitzugestalten. Das hängt mit Sicherheit mit einem immer breiteren Zugang zu Bildung zusammen. Die zunehmende Sichtbarkeit aller (vgl. Roig 2021) ist Produkt von Bildungspolitik und Deregulierung, von Digitalisierung und Aktivismus. Häufig werden Erfolge marginalisierter Menschen im deutschen Bildungssystem als Beweis dafür betrachtet, dass Integration gelingen kann. Wir sind der Meinung, dass diese Erfolge häufig nicht wegen des deutschen Bildungssystems, sondern trotz desselben möglich waren. Selten werden diese Menschen nach den Hürden befragt, die ihre Markierung als Andere zur Folge hatten. Wir haben uns deshalb entschlossen, persönliche Erfahrungen an den Anfang dieses Textes zu stellen.

In dem Bonmot der französischen Soziologin Colette Guillaumin findet sich eine Paradoxie, die sich im Grunde auf viele Differenzlinien übertragen lässt: Rasse existiert nicht, aber sie vermag es, Menschen zu töten (vgl. Guillaumin zit. n. Roig 2020). Handelt es sich in dem Beispiel des Physiklehrers um einen hohen Anspruch an Deutschkenntnisse? Oder wird die Religion seiner Schülerin zum Merkmal, dass seine Wahrnehmung von ihr beeinträchtigt? Wie viel hat das mit der realen Religiosität dieser Schülerin zu tun? Und inwiefern handelt es sich um Projektionen von Rückständigkeit und Bildungsferne auf die Gruppe muslimischer Menschen? Wir sehen also, dass die Gründe und Hintergründe für unser Unbehagen komplex, verworren und teilweise irrational sind. Schule als Bildungsort versäumt es unserer Ansicht nach in weiten Teilen, ihrem Bildungsauftrag in Bezug auf diese Kategorien gerecht zu werden. Fragen nach der Verbindung zwischen historischen Entwicklungen der Kolonialzeit und heutigen gesellschaftlichen Missständen finden aus wissenschaftlichen Diskursen der Postkolonialen Studien oder der Critical Whiteness selten Eingang in die Lehrer*innenausbildung (oder gar schulische Lehrpläne).

Weder während unserer eigenen Schulzeit noch bei unserer beruflichen Auseinandersetzung mit Schule, begegneten uns Lehrer*innen, die die Diversität ihrer Schülerschaft als Aufforderung dazu verstanden hätten, ihre eigenen Sprachkenntnisse, ihre geografischen oder interkulturellen Fähigkeiten aufzupolieren. Die deutsche Kolonialgeschichte nimmt im Lehrplan einen stiefmütterlichen Platz ein und verwehrt es Schüler*innen Bezüge zu strukturellem Rassismus in der Gegenwart herzustellen. Christine Riegel spricht in ihrer Auseinandersetzung mit Othering von einem hegemonialen Zentrum, das sich zur Norm erklärt und deshalb unbenannt und unmarkiert bleibt (vgl. Riegel 2016, S. 53). Die afroamerikanische Aktivistin und Dichterin Audre Lorde nennt die Norm „mythisch“. Wer eigentlich ein*e echte*r Deutsche*r ist, bleibt in den hochgradig wirksamen Prozessen des Othering im Kontext von Schule immer wieder diffus. Weiße Schüler*innen, die Wurzeln im Ausland haben, machen für ihre türkischen Mitschüler*innen deutlich, dass der Begriff der Xenophobie, also der Angst vor dem Fremden, irreführend ist. Außerdem lernen sie hier, dass die Zugehörigkeit zur Norm stark mit Weißsein verknüpft ist (hierzu auch Tißberger in diesem Band).

Wenn weiße Schüler*innen oder Student*innen Sprachkenntnisse in Arabisch oder Mandarin nachweisen können, ist das immer noch ungewöhnlich und gilt als besondere interkulturelle Kompetenz. Schüler*innen mit arabischem, türkischem oder (nord-)afrikanischem Migrationshintergrund, die diese Kenntnisse haben, schrecken in der Regel aus Angst vor oben beschriebenen Diskriminierungserfahrungen davor zurück, sie als Kompetenzen aufzulisten (vgl. Amjahid 2018; Amjahid 2020).

Die Fähigkeit, Worte für innere und äußere Zustände und für seine Erfahrungen mit der Welt zu finden, ist unserer Ansicht nach, ein lebenslanger Prozess. Die Realität der Vielsprachigkeit verdeutlicht uns, dass unsere Sprache Grenzen hat. Die Anerkennung dieser Realität ist vielleicht ernüchternd. Sie ist aber ebenso eine Aufforderung, Kommunikation nicht als etwas zu verstehen, was von einer mächtigen Position eingefordert und reguliert wird und von einem hegemonialen Zentrum aus eingefordert wird. Es ist vielmehr so, dass die Perspektiven weißer, westlicher und christlich geprägter Gesellschaften durch eine aufrichtig respektvolle Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Praxen und religiösen Räumen immer stärker mit ihrer Begrenztheit konfrontiert werden.

Schulischer Alltag im Jahr 2021 ist geprägt von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität, von heterogenen Erscheinungsbildern, Religionen und Milieus. Pädagog*innen, die in einem defizitären Blick auf diese Diversität verharren, setzen die einzige Ressource, die dieses Land hat, aufs Spiel: junge Menschen.

Literatur

Amjahid, Mohamed (2018): Unter Weißen. Was es heißt privilegiert zu sein. München: Hanser Literaturverlage.

Amjahid, Mohamed (2020): „Arabisch? Klar, kann ich!“ www.zeit.de/campus/2020-07/sprachkenntnisse-arabisch-bewerbung-job-muttersprachler (Abfrage: 24.06.2021).

Grjasnova, Olga (2021): Die Macht der Mehrsprachigkeit. Berlin: Duden.

Guillaumin, Colette (2016): Sexe, race et pratique du pouvoir: l’idée de nature. Paris: iXe.

Mildner, Vivica (2018): Rektorin klagt über mangelndes Deutsch – Stadtteilmütter zeigen wie Förderung funktionieren kann. www.focus.de/politik/deutschland/schule-in-neukoelln-schulleiterin-klagt-ueber-mangelnde-deutschkenntnisse-stadtteilmuetter-kennen-die-loesung_id_9966396.html (Abfrage: 07.02.2022).

Riegel, Christine (2016): Bildung, Intersektionalität, Othering: Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld: Transcript.

Roig, Emilia (2021): Why we matter. Das Ende der...

Erscheint lt. Verlag 22.6.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-6675-1 / 3779966751
ISBN-13 978-3-7799-6675-3 / 9783779966753
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