Therapeutisches Reiten (eBook)
290 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61430-1 (ISBN)
Die Herausgeberin: Dipl. Sozialpädagogin Marianne Gäng (1934 - 2019), war die Schweizer Pionierin des Heilpädagogischen Reitens. Sie gründete u.a. die Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten (SG-TR) und war lange Jahre Vorsitzende des 'Collegiums' für die Ausbildung von ReitpädagogInnen und ReittherapeutInnen. Sie arbeitete mit PädagogInnen und TherapeutInnen auch in Deutschland und Österreich zusammen und engagierte sich für gemeinsame Qualitätsstandards. Marianne Gäng veröffentlichte eine Reihe von Büchern und Aufsätzen über Voltigieren, Heilpädagogisches Reiten und Reittherapie bis hin zum Einsatz von Tieren für alte Menschen; sie war zudem Mitbegründerin der Zeitschrift 'Mensch & Pferd international'.Wenn Sie die Homepage der Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten besuchen möchten, so klicken Sie bitte <A HREF="http://www.sgtr.de" target="_blank">hier
Psychologische Grundlagen beim Therapeutischen Reiten
Von Barbara Vorsteher
Neben der Hippotherapie, dem Behindertenreiten und dem Heilpädagogischen Reiten und Voltigieren gibt es für mich als Psychotherapeutin die Psychotherapie am und auf dem Pferd (Scheidhacker 1998), die einen eigenständigen, wenn auch teilweise sich überschneidenden Bereich bei den Klienten abdeckt.
Die Kenntnisse von Psychotherapeuten sollten auch jedem Reittherapeuten bekannt sein und ihn in seiner Arbeit qualifizieren. Schließlich gilt es, professionell zu wirken – und das heißt, mit dem Wissen um die psychische Dimension einer Schädigung oder eines Defizits, den Klienten selber zu behandeln oder ihn unter Umständen weiterzuvermitteln.
Das Therapeutische Reiten findet stets in einem Beziehungsdreieck Klient – Pferd – Therapeut (Voßberg 1998) statt. Das bedeutet, dass sich die Aufmerksamkeit des Therapeuten, aber auch seine Kenntnisse und Erfahrungen gleichermaßen auf die teilnehmenden Parteien dieser Triade beziehen sollten, also auf das Pferd, auf den Klienten und auf sich selbst als professionellen Helfer.
Das Pferd – als erster Part der Triade –, sei es als Erziehungshelfer im heilpädagogischen Kontext oder als „Co-Therapeut“ (Vorsteher 1999) im psychotherapeutischen Zusammenhang eingesetzt, braucht, um wirken zu können, den Menschen, der die Fähigkeiten und Grenzen des Pferdes kennt, es fördert und ihm Schutz und Sicherheit gibt.
Als zweiter Part in der Triade ist der Therapeut zu nennen. Er sollte gute Kenntnisse seiner eigenen Geschichte haben, um professionell arbeiten und wirken zu können. Aus diesem Grund darf er im Kontakt mit dem Klienten seine Gefühle nicht ungebremst (im Sinne falsch verstandener Authentizität) ausleben, weil er sich z. B. provoziert fühlt, Gefühle der Langeweile im Zusammensein mit dem Klienten entwickelt oder Probleme in seinem eigenen Lebensalltag hat. Er sollte mit seinen eigenen Verhaltensmustern vertraut sein und erkennen, wenn er unreflektiert und spontan reagiert. Denn sonst kann der Prozess beim Klienten nicht mit der nötigen therapeutischen Sorgfalt und der damit verbundenen Distanz unterstützt werden.
Professionelles Arbeiten heißt daher, die unvorhersehbaren Aspekte einer Kommunikation – zumindest von Seiten des Therapeuten – so gering wie möglich zu halten, um die Prozesse im Klienten im Sinne einer guten Entwicklung wirken zu lassen.
Dritter Teil der Triade ist der Klient, hier das Kind. Der Therapeut sollte tiefgreifende Kenntnisse über die kindliche Entwicklung, Störungen in der Entwicklung und ihre Zusammenhänge besitzen. Zu diesem psychologischen Grundwissen gehören die Begriffe von Übertragung und Gegenübertragung, der Begriff des Widerstands und die Kenntnis einiger Abwehrmechanismen.
Kindliche Entwicklung
Menschliches Verhalten erwächst u. a. aus dem Getragenwerden in der allerersten Zeit, dem Gesehenwerden durch die Eltern (Petzold 1995). Ihre Liebe und Zuwendung sind eine wichtige Voraussetzung für eine positive Entwicklung hin zu einer gesunden Identität (Petzold 1993; Vorsteher 1999).
FALLBEISPIEL
Meggie ist das erstgeborene Kind und von ihren Eltern heiß ersehnt worden. Ihre Mutter fand ihr Baby auf den ersten Blick jedoch „ekelhaft“, was sie auch fortwährend sagte. Meggie hatte wenig Rückhalt in der Familie. Als sie mit elf Jahren ins Heim kam, hatte sie von sich selbst das Bild eines ekelhaften Kindes und sie versuchte, ihre Umwelt davon zu überzeugen, wie grässlich sie sei: Sie schaute grimmig durch ihre verzottelten schwarzen Haare, schimpfte viel und nörgelte, zeigte sich kratzbürstig, hinterlistig, misstrauisch und eigensinnig. Meggie war in ihrer Kindheit nicht gehalten worden, zumindest nicht so, wie sie es gebraucht hätte. Ihre Welt, anfangs repräsentiert durch ihre Mutter, zeigte sich anklagend und feindselig.
Die wenigen guten Erfahrungen mit dem größtenteils abwesenden Vater und der in Meggies sechstem Lebensjahr verstorbenen Großmutter konnten diese Flut von negativen Zuschreibungen nicht kompensieren, und Meggie entwickelte eine Haltung, die besagte: Alle sind mir feindlich gesinnt, also verzichte ich auf Freundlichkeit. Diese Haltung führte zu ihrem jetzigen Verhalten, welches unberechenbar war und durch das sie ihre Mitmenschen weit von sich hielt, obwohl sie sich tief in ihrem Inneren Nähe und uneingeschränktes Angenommensein, sprich Geborgenheit, wünschte.
Dem menschlichen Verhalten liegt ein tiefer, aber nicht immer leicht zu durchschauender Sinn zugrunde, den es im Kontakt zu erschließen gilt (Bettelheim 1988, Merten / Vorsteher 1990). Deshalb wird in der Psychotherapie mit Hilfe des Pferdes das jeweilige Verhalten als eine Leistung des Klienten begriffen und der ganze Mensch akzeptiert.
Die Übertragung
Übertragung des Klienten
Bestimmte Verhaltensweisen entstehen aus dem Bewältigungsversuch von Lebenssituationen. Hat sich eine bestimmte Verhaltensweise im Alltag eines Menschen bewährt, wird dieses Verhalten immer wieder angewendet, denn es hat ihm – subjektiv gesehen – Erfolg gebracht, im Sinne von Aufmerksamkeit, Beachtung und Zuwendung. Und jeder Mensch ist gerne erfolgreich (Flammer 1990). Auch negatives Verhalten wird so beibehalten, um die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn das Kind schon keine positive Beachtung bekommt, dann wenigstens negative. Warum sollte es sein Verhalten also ändern?
Das Beispiel von Meggie zeigt, dass sie sich mit ihrem schwierigen Verhalten die anderen Menschen gut „vom Leib halten“ konnte. Denn wer so krätzig ist, mit dem geht niemand gerne um, wenn es nicht sein muss. Aus Meggies Sicht ist ihr Verhalten absolut logisch, zumal sie ja auf eine, von ihr als feindlich empfundene Welt reagiert. Heute jedoch ist es nicht mehr das adäquate Verhalten, sprich, sie wendet es heute an, obwohl die Welt ihr nicht grundsätzlich feindlich gesinnt ist. Meggie kann nicht die reale Situation – z. B. ein Mensch begegnet ihr mit einem freundlichen Gruß – sehen, sondern sie reagiert auf neutrale Situationen mit alten Verhaltensweisen im Sinne einer sog. Übertragungssituation: Sie überträgt die Gefühle, Personen und Situationen ihrer Kindheit auf den aktuellen Alltag und reagiert inadäquat und unverständlich.
„Übertragungen sind die Vergegenwärtigung ‚alter‘ Atmosphären und Szenen in einer Art und Weise, dass die Gegenwart verstellt wird und die Realitäten des anderen nicht gesehen werden können. Übertragungen verhindern Intersubjektivität“ (Petzold 1993, 1128). Die Intensität der Übertragung ergibt sich aus den erlittenen und dann verdrängten Einwirkungen auf den jungen Menschen. Werden die Quellen der Schädigung durch wiederholtes Aufdecken, Bewusstwerden und Bearbeiten in der Therapie unschädlich gemacht – in der Gestalttherapie wird hier vom Schließen von Gestalten gesprochen (Glanzer 1989) –, erlischt die Übertragung, und Intersubjektivität kann entstehen.
Übertragung findet in der Interaktion zwischen allen Menschen statt, ist also ein ganz normaler, weitgehend unbewusster Vorgang. Sie dient der Ökonomisierung, d. h. der Überprüfung und dem Sortieren von fremden Situationen und Personen vor dem Hintergrund der bisherigen Lebenserfahrungen. Übertragungen führen u. a. dazu, dass wir andere sympathisch oder unsympathisch finden. Wenn wir genauer hinsehen würden, könnten wir oft feststellen, dass unser Gegenüber beispielsweise die Gestik einer Tante oder die Mimik unseres Vaters zeigt – jeweils mit der Bedeutung, die die Mimik unseres Vaters oder die Gestik der Tante für uns besaß.
Wird die Übertragung jedoch übermächtig und ist sie zudem noch negativ getönt, dann verhindert sie – wie oben ausgeführt – das direkte und authentische Umgehen zweier Menschen miteinander. Das bedeutet auf Meggie angewandt, dass sie heute in ihren Interaktionen mit ihren Gegenübern nicht diese selbst sieht, sondern alte Bilder oder Szenen assoziiert und darauf unangemessen reagiert.
Bei der Übertragung handelt es sich also um ein Verhalten, das seinen Sinn in der Vergangenheit hatte. Das Verhalten diente dort der Bewältigung von einer zumeist feindseligen Atmosphäre und wurde dann stereotyp. Die Persönlichkeit des betroffenen Menschen ist heute nicht mehr so flexibel, dass in jetzigen Alltagssituationen, unabhängig von der Vergangenheit, die reale Situation wahrgenommen und darauf reagiert werden kann.
Übertragung des Therapeuten
Jeder Mensch überträgt Szenen aus seiner Kindheit auf heutige Situationen – somit auch der Therapeut. Aufgrund der Aufarbeitung der eigenen Geschichte können Therapeuten ihre Übertragungen jedoch meistens rechtzeitig erkennen.
FALLBEISPIEL
Dies passierte einer Reittherapeutin, Hella, die ein Kind, Morten, mit Wahrnehmungsstörungen und Zwängen in Therapie genommen hatte, aber bei jeder Begegnung äußerst heftig auf ihn reagierte; z. B. wurde sie schnell ärgerlich und ungeduldig. Ihr fiel auf, wie distanzlos sie ihren Gefühlen ausgeliefert war. Diese Erkenntnis hatte Signalcharakter. In einer Supervision wurde ihr dann bewusst, dass sie so heftig reagierte, weil Morten sie an ihren Bruder und dessen Verhalten, dem sie als Kind ausgeliefert gewesen war, erinnerte. Als dieser Zusammenhang für sie durchschaubar wurde, war es ihr möglich, wesentlich gelassener mit Morten umzugehen, und der Junge konnte seinen eigenen Prozess in der Therapie fortsetzen.
Eine Übertragung des Therapeuten stört den Prozess des...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Reihe/Serie | mensch & tier |
Co-Autor | Susanne Blume, Dr. med. Georgina Brandenberger, Ruth Brühwiler Senn, Prof. Dr. Dorothée Debuse, Christina Diercks-Kowalewski, Dipl.-Päd. Sabine Häuser, Dr. Karin Hediger, Dr. Gondi Kunz, Eva Schneider-Schunker, Dipl.-Ing. (FH) Christiane Schüller, Martina Schur-Althaus, Dorothee Schütte, Petra Schwaiger, Dr. med. Beate Seide, Dipl.-Psych. Barbara Vorsteher, Christina Bär |
Vorwort | Prof. Dr. Gerd Hölter, Dipl.-Päd. Marietta Schulz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | heilpädagogisches Reiten • HIPPOTHERAPEUTISCHE ASPEKTE • Hippotherapie • Jugendliche • Kinder • Mensch-Tier-Beziehung • Pferd • pferdegestützte Psychotherapie • Pferdegestützte Therapie • Psychotherapie • REITTHERAPEUT • Reittherapeutin • Reittherapie • Therapeutisches Reiten • Therapiepferd • Tiergestützte Intervention • Traumabewältigung |
ISBN-10 | 3-497-61430-0 / 3497614300 |
ISBN-13 | 978-3-497-61430-1 / 9783497614301 |
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