Trauma und Bindung in der Kindheit -  Lilith König

Trauma und Bindung in der Kindheit (eBook)

Grundwissen für Fachkräfte der frühen Bildung
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
190 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-033533-2 (ISBN)
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Das Thema Trauma ist nicht auf die klinisch-therapeutische Praxis begrenzt, sondern genauso relevant für Fachkräfte in frühpädagogischen Kontexten. Als bedeutsame Bezugspersonen übernehmen sie in Betreuungs- und Kindertageseinrichtungen wichtige Fürsorgeaufgaben und sind im Umgang mit seelisch verletzten Kindern besonders herausgefordert. Das Buch vermittelt eine handlungsorientierte Verstehens- und Zugangsweise zu dem Phänomen Trauma und leitet aus der Bindungstheorie konkrete Überlegungen und Strategien für die frühpädagogische Praxis ab. Dabei wird ein Ressourcen orientierter Ansatz verfolgt, der die Perspektive und das individuelle Erleben von Kindern in den Mittelpunkt stellt.

Professorin Dr. Lilith König ist Leiterin des Instituts für allgemeine Sonderpädagogik, Sonderpädagogische Psychologie/Frühförderung an der PH Ludwigsburg.

Professorin Dr. Lilith König ist Leiterin des Instituts für allgemeine Sonderpädagogik, Sonderpädagogische Psychologie/Frühförderung an der PH Ludwigsburg.

Einleitung


 

 

 

Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, das heißt aber nicht, dass jedes Kind die gleichen Chancen hat, dieses Recht auch in angemessener Form in Anspruch nehmen zu können. Es gibt viele Gründe und Barrieren, die ein Kind daran hindern. In der frühen Kindheit geschieht das nicht selten, weil seine Kommunikationssignale und sein Verhalten nicht verstanden werden oder die Motive und Intentionen dahinter falsch gedeutet werden. Für Kinder, die von Traumatisierung betroffen sind, gilt dies in besonderer Weise – auch jenseits des Kleinkindalters. Sie haben Unberechenbarkeit und Kontrollverlust erlebt und sind deshalb latent immer in Alarmbereitschaft, um drohende Gefahren im Vorfeld zu erkennen. Sie fallen manchmal auf, weil sie vermeintlich provozieren, sich verstörend verhalten oder ihre unvermittelten emotionalen Ausbrüche und Grenzüberschreitungen willkürlich erscheinen. Oder sie sind gar nicht sichtbar, was fast noch schlimmer ist, weil so die Wahrscheinlichkeit noch größer ist, dass niemand auf ihr Leid und ihre Nöte aufmerksam wird.

Traumatische Erfahrungen wie Unfälle, Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt, Kriegs- und Fluchterfahrung hinterlassen oftmals keine äußeren Spuren, und die unspezifischen Symptome, die darauf hinweisen könnten, sind ohne die individuellen lebensgeschichtlichen Hintergründe nicht zu verstehen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass durch den Anstieg der Anzahl geflüchteter Familien, der 2015 in Deutschland auf dem Höhepunkt war, viele pädagogische Fachkräfte im Bereich der frühen Bildung in besonderer Weise auf das Thema Trauma aufmerksam wurden. Es liegt nahe, dass Kinder mit Fluchterfahrungen erschreckende Erfahrungen gemacht haben, allerdings sind nicht alle Geflüchteten von Traumatisierung betroffen, und umgekehrt leiden auch Kinder unter seelischen Verletzungen, deren Lebenskontext dies nicht unbedingt vermuten lässt. Auch wenn das Thema Trauma immer noch eher mit geflüchteten Kindern assoziiert wird, wie auch die Publikationen im KiTa-Bereich zeigen, hat dies doch zu einer zunehmenden Sensibilisierung geführt, die andere lebensgeschichtlichen Belastungen miteinschließt. Das ist ein erster wichtiger Schritt, damit das Bewusstsein wächst, dass traumatische Erfahrungen nicht ohne weiteres im offensichtlichen Verhalten erkennbar sind und seelisch verletzte Kinder Trauma sensible Lern- und Beziehungsangebote brauchen, die ausreichend Halt und die notwendige Sicherheit gewährleisten.

Traumatische Erfahrungen verletzen die Grundbedürfnisse und können die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern weitreichend beeinflussen, sie wirken allerdings nicht linear-kausal und müssen immer in Zusammenhang mit den Bindungsbeziehungen eines Kindes, aber auch mit anderen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie sowie den Kontextbedingungen im nahen und weiteren sozialen Umfeld betrachtet werden. Daraus ergeben sich für pädagogische Fachkräfte, als bedeutsame Bezugspersonen, besondere Aufgaben und Anforderungen: Unter anderem sich Wissen darüber anzueignen, wie traumatische Erfahrungen im Gehirn wirken und wie sich diese (dissoziativen) Prozesse im Verhalten von Kindern zeigen können. Auf dieser Basis und mit den entsprechenden anwendungsbezogenen Kenntnissen und Kompetenzen können Fachkräfte neue Handlungsräume erschließen, die seelisch verletzte Kinder unterstützen, und in der Kindertageseinrichtung dazu beitragen, dass ein soweit als möglich sicherer Ort entsteht.

Eine bindungsorientierte Herangehensweise, die Halt gebende Beziehungsangebote und empathische, feinfühlige Begegnungen ermöglicht, ist in jedem Fall unverzichtbar. Dies impliziert auch, (ver)störende Verhaltensweisen in ihrer Funktion zu verstehen und sie als Überlebensleistung zu würdigen. Einfache pädagogische Handlungskonzepte lassen sich daraus nicht ableiten – gerade auch dann, wenn in Rechnung gestellt wird, dass es meistens an zeitlichen Ressourcen, räumlichen Bedingungen und Unterstützung durch spezielle Fachkräfte mangelt. Aber schon mit einer verstehenden und zugewandten Grundhaltung und einem Trauma sensiblen Umgang ist sehr viel erreicht, wenn dadurch die Grundbedürfnisse von Kindern (an)erkannt werden und jedes Kind sich mit allen seinen Verhaltensweisen, Gedanken, Fragen und Gefühlen willkommen weiß.

In diesem Buch steht die Bedeutung von lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Kindern im Vorschulalter im Kontext der familiären und außerfamiliären sozialen Umwelt im Mittelpunkt. Dabei wird ein ressourcenorientierter Ansatz verfolgt, der die wesentlichen Grundbedürfnisse in den Blick nimmt und vor diesem Hintergrund die individuellen Verhaltensweisen von Kindern als Anpassung an unterschiedliche Anforderungen und Lebenswirklichkeiten würdigt. Die daraus abgeleiteten Qualitätsmerkmale, die für einen Trauma sensiblen Umgang mit Kindern in der frühen Bildung relevant sind, fokussieren die Fachkraft-Kind-Interaktion. Sie sind an einem responsiven und achtsamen Fürsorgeverhalten orientiert, das alle Bedürfnisbereiche einschließt und die besondere Situation von seelisch verletzten Kindern berücksichtigt. Die dargelegten bindungstheoretischen und psychotraumatologischen Grundlagen basieren auf dem aktuellen Diskussions- und Forschungsstand. Sie werden teilweise ausführlicher ausgearbeitet, wenn sie für das vorliegende Thema besonders wichtig sind und die Komplexität dies verlangt, und teilweise komprimiert dargeboten, wenn es um Themen geht, die nicht unberücksichtigt bleiben sollen, aber eine eingehendere Auseinandersetzung den Rahmen sprengt und auf die weiterführende Literatur verwiesen werden muss. Die Auswahl der herangezogenen traumapädagogischen Konzepte ist daran orientiert, dass sie auf den Bereich der frühen Bildung übertragbar sind, der in der einschlägigen traumapädagogischen Literatur bisher noch wenig berücksichtigt wird.

Aufbau des Buches


Im ersten Kapitel ( Kap. 1) werden die wesentlichen bindungstheoretischen Grundlagen zusammengefasst, die für Trauma sensibles pädagogisches Handeln relevant sind. Dies impliziert auch eine präzise Definition der Konstrukte, die teilweise schon auf der begrifflichen Ebene zu Missverständnissen führen können, wenn beispielsweise Bindung mit Beziehung gleichgesetzt wird. Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe und Verbundenheit ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und wird in unterschiedlichen Formen sozialer Beziehungen deutlich, ist aber nicht mit dem für Säuglinge und Kleinkinder überlebensnotwendigen Bindungsbedürfnis gleichzusetzten. Eine Bindungsbeziehung baut ein Kind nur zu wenigen vertrauten Bezugspersonen auf (meistens zu Mutter und Vater), während es temporär auch Bindungsverhalten gegenüber anderen wichtigen Bezugspersonen zeigen kann, die ersatzweise die Funktion einer Bindungsperson übernehmen. Die Qualität der Bindung, das heißt, ob sie als sicher oder unsicher einzuschätzen ist, lässt sich deshalb nicht über die Stärke der emotionalen Verbundenheit bestimmen. Alle Kinder lieben ihre Eltern, auch die Kinder, deren Bindungsbedürfnisse nicht angemessen erfüllt werden. Selbst Misshandlungen heben diese emotionale Verbundenheit nicht auf, die das betroffene Kind zu einer Bindungsperson aufgebaut hat. Die zentrale Funktion des Bindungssystems ist die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Sicherheit und emotionaler Stabilität, die beim Kleinkind die körperliche Nähe zu einer vertrauten Bezugsperson voraussetzt. Die Bindungsqualität bezieht sich deshalb auf die individuellen Verhaltensvarianten im Kontext der Bindungsbeziehung und nicht auf die Beziehung selbst. Sie resultieren aus wiederholten Interaktionserfahrungen, die das Kind als inneres Arbeitsmodell von sich selbst mit seiner Bindungsperson konstruiert. Diese Arbeitsmodelle (Bindungsrepräsentationen) beeinflussen, ob und wie bedrohlich Situationen erlebt bzw. eingeschätzt werden, wie groß das Vertrauen in die eigenen und in soziale Ressourcen ist und welche Ressourcen infolgedessen mobilisiert werden. Wie gut ein Kind in der Lage ist, vorhandene Ressourcen zu nutzen, wird aber auch durch die aktuellen Kontextbedingungen beeinflusst, sodass Bindungsrepräsentationen dynamisch zu betrachten sind und durch neue Erfahrungen modifiziert werden. Hier liegt auch die Schnittstelle zum Thema Trauma. Psychosoziale Stressoren entstehen in Abhängigkeit von Bewertungsprozessen und den antizipierten Bewältigungsmöglichkeiten, die in engem Zusammenhang mit den Bindungsrepräsentationen stehen. Bindungsrepräsentationen spiegeln aber nicht nur die bisherigen Erfahrungen wider, sondern sind zukunftsorientiert und können auch bei inkohärenten Lebenserzählungen Erwartungen und Potenziale enthalten, die Anhaltspunkte für alternative Konstruktionen bieten.

Kapitel zwei ( Kap. 2) widmet sich dem vielschichtigen...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2020
Zusatzinfo 22 Abb., 8 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Vorschulpädagogik
Schlagworte Bindung • Frühpädagogik • Sonderpädagogik
ISBN-10 3-17-033533-2 / 3170335332
ISBN-13 978-3-17-033533-2 / 9783170335332
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