Jedem seinen eigenen Tod
Campus (Verlag)
978-3-593-51235-8 (ISBN)
Nina Streeck ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich und Fachverantwortliche »Ethik und Lebensfragen« am Institut Neumünster, Zollikerberg.
Inhalt
Einleitung 11
I. Gut leben und gut sterben: Das gute Sterben und seine Bedingungen
Tod, Sterben oder Leben 27
Tod und Sterben 27
Sterben und Leben 31
Tod des Körpers, Tod des Bewusstseins, sozialer Tod 34
Sterben aus biologisch-medizinischer Sicht 35
Sterben aus psychologischer Sicht 37
Sterben aus soziologischer Sicht 39
Fazit 43
Eine Ethik des guten Sterbens 45
Kann das Sterben jemals gut sein? 45
Der Vorwurf des Paternalismus 49
Gut leben oder moralisch handeln 54
Glück versus Moral 54
Die Geschichte der Frage nach dem guten Leben 56
Die Renaissance der Frage nach dem guten Leben 58
Das gute Leben in der Medizinethik 60
Exkurs: Glück und Moral 61
Lustgefühle, erfüllte Wünsche und Güterlisten 64
Die Ganzheit des Lebens 64
Wer entscheidet, was gut ist? 65
Lustgefühle machen glücklich oder: Hedonistische Theorien 67
Glück dank erfüllter Wünsche oder: Wunschtheorien 68
Viele Güter für ein gutes Leben oder: Objektive Theorien 69
Fazit 71
Wessen es für ein gutes Leben bedarf: Sozialphilosophie 72
Pathologien des Sozialen 72
Das Problem der Geltung 74
Anerkennung als Voraussetzung für ein gutes Leben 76
Noch einmal: Das Problem der Geltung 78
Selbstverwirklichung als Authentizität 80
Authentisch sein und gut leben 83
Die Versöhnung von Subjektivismus und Objektivismus 83
Das Problem der Geltung zum Dritten 86
Authentizität als Diagnosebegriff 87
Die Versöhnung von Ethik und Moral 89
Authentizität versus Autonomie 90
Moralische und personale Autonomie 91
Personale Autonomie und Authentizität 92
Fazit 93
II. Im Einklang mit sich leben: Zur Rekonstruktion des Authentizitätsideals
Einführung 96
Authentizität von Sokrates bis Taylor 104
Erste Station: Antike – nach innen und oben 104
Zweite Station: Romantik – nonkonformistisch sein 106
Dritte Station: Nietzsche – schöpferische Selbsterschaffung 108
Vierte Station: Authentisch sein als Popkultur 110
Werde, der du bist – erschaffe dich selbst 113
Selbstfindung oder: Werde, der du bist 114
Kein wahres Selbst: Kritik an der Selbstfindung 119
Selbererschaffung oder: Erfinde dich selbst 121
Kein Kunstwerk: Kritik an der Selbsterfindung 127
Fazit 131
Transformation, Tätigsein und Bejahung 133
Antwort geben: Die Suche nach der eigenen Stimme 133
Die Transformation von Selbst und Welt 137
Authentifizierendes Tätigsein 143
Beherztes Bejahen 148
Widerstand und Neubeschreibung: Foucault und Rorty 158
Zwischen Widerstand und Ergebung: Foucault 160
Zwischen Aneignung und Neubeschreibung: Rorty 169
Orientierung ohne wahres Selbst: Narrative Kohärenz 180
Sich verstehen in gemeinsamen Horizonten 181
Sich verstehen durch Artikulation 186
Sich verändern und sich fortentwickeln 189
Seine Antworten kohärent auswählen 193
Fazit 200
Misslingende Authentiztitätsvollzüge 204
Kohärenz 205
Gleichgültigkeit, Ohnmacht und Rollenspiel 209
Paradoxale Verkehrung 212
Ausblick 217
III. Verkehrte Authentizität: Sterben mit Palliative Care und Sterbehilfe
Einführung 221
Die Geschichte der Palliative Care 225
Der tabuisierte Tod 225
Die Entstehung der modernen Hospizbewegung 228
Vom Hospiz zur Palliative Care 230
Interviews mit Sterbenden: Elisabeth Kübler-Ross 232
Die Geschichte der Sterbehilfebewegung 236
Die Vorläufer der modernen Sterbehilfebewegung 236
Die Entstehung der modernen Sterbehilfebewegung 239
Sterben heute: Eine Vielfalt von Erzählungen 243
Sterben, wie man gelebt hat: Palliative Care 250
Leben statt sterben: Die Verbesserung der Lebensqualität 250
Authentizität im Sterben 252
Das Sterben selbst gestalten 255
Die Unterstützung der Palliative Care 256
Das Bewusstsein des nahenden Todes 258
Heroisches Sterben in der Palliative Care 260
Macher bleiben: Sterbehilfe 263
Selbstbestimmung und Würde 263
Authentizität und Sterbehilfe 266
Die Planung des eigenen Ablebens 268
Heroischer Suizid 269
Das Authentizitätsversprechen 273
Sterben als Projekt 273
Sterben und die Lebensgeschichte 276
Eine Heldenerzählung der Palliative Care 277
Heldenhafte Selbstbehauptung 279
Populäre Sterbeideale 281
Verkehrte Authentizität 283
Noch einmal: Das Phänomen der Verkehrung 283
Zwang zur Sterbegestaltung 285
Sinn für die Weiterlebenden 287
Der uneigene Tod 290
Im Würgegriff des wahren Selbst oder: Zu starke Kohärenz 292
Alles gleichgültig oder: Keine Transformation 297
Das Gefühl von Ohnmacht oder: Kein Tätigsein 300
Der Sterbende als Rollenspieler oder: Keine eigene Stimme 304
Fazit 309
Schluss
Der ›eigene‹ Tod als guter Tod 313
Anmerkungen 317
Literatur 333
Danksagung 357
»Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den 'eigenen' Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das [...] möglichst viele Leser*innen finden möge.« Jean-Pierre Wils, Soziopolis, 14.07.2020»Die Arbeit Nina Streecks erfreut sich vielfältiger und dennoch tiefgreifender Fundierungen in unterschiedlichen Disziplinen und Theorien. Mit ihrer begrifflichen Präzision und sprachlichen Gewandtheit gelingen ihr sowohl eine überzeugende Konzeption eines differenzierten Authentizitätsideals - mitsamt expliziter Benennung ihrer Grenzen - als auch eine ausgesprochen ausgewogene und distanzierte Darstellung der Palliative-Care- und Sterbehilfebewegung.« Florian Funer, Zeitschrift für medizinische Ethik, 67 / 2021»Nina Streeck hält mit ihrem Buch 'Jedem seinen eigenen Tod' Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.« palliative zh+sh, 04.09.2020»Das gut lesbare Buch sei deshalb allen empfohlen, die sich kritisch mit dem anspruchsvollen und zum Teil überfordernden Ideal des selbstbestimmten, authentischen, durchgeplanten Lebens und Sterbens auseinandersetzen wollen, aber auch jenen, die sich unabhängig von der Frage nach dem guten Sterben mit dem Authentizitätsbegriff beschäftigen möchten.« Martina Schmidhuber, Ethik Med (32), 425-426, 28.09.2020
»Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den ›eigenen‹ Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das […] möglichst viele Leser*innen finden möge.« Jean-Pierre Wils, Soziopolis, 14.07.2020
»Die Arbeit Nina Streecks erfreut sich vielfältiger und dennoch tiefgreifender Fundierungen in unterschiedlichen Disziplinen und Theorien. Mit ihrer begrifflichen Präzision und sprachlichen Gewandtheit gelingen ihr sowohl eine überzeugende Konzeption eines differenzierten Authentizitätsideals – mitsamt expliziter Benennung ihrer Grenzen – als auch eine ausgesprochen ausgewogene und distanzierte Darstellung der Palliative-Care- und Sterbehilfebewegung.« Florian Funer, Zeitschrift für medizinische Ethik, 67 / 2021
»Nina Streeck hält mit ihrem Buch ›Jedem seinen eigenen Tod‹ Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.« palliative zh+sh, 04.09.2020
»Das gut lesbare Buch sei deshalb allen empfohlen, die sich kritisch mit dem anspruchsvollen und zum Teil überfordernden Ideal des selbstbestimmten, authentischen, durchgeplanten Lebens und Sterbens auseinandersetzen wollen, aber auch jenen, die sich unabhängig von der Frage nach dem guten Sterben mit dem Authentizitätsbegriff beschäftigen möchten.« Martina Schmidhuber, Ethik Med (32), 425–426, 28.09.2020
Einleitung O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Rainer Maria Rilke Als Rainer Maria Rilke seine berühmten Verse über den Tod zu Papier brachte, hatte er das Sterben im Krankenhaus einer Großstadt am Anfang des 20. Jahrhunderts vor Augen: Der Mensch gerät in die Mühlen eines anonymen Medizinbetriebs, der ihn daran hindert, seinen Lebensweg auf ihm gemäße Weise zu beschließen und seinen »eignen Tod« zu sterben. Gegen ein solches Sterben, wie es in den damaligen städtischen Spitälern für gewöhnlich vorkommt, wendet sich Rilke im Buch von der Armut und vom Tode, dem die Zeilen entstammen. Den »kleinen Tod« in den Sterbebetten »ganz im Dunkel« in »verhüllten Hinterzimmern« kontrastiert er mit dem »großen Tod, den jeder in sich hat« (Rilke 1905). In ihm verbindet sich das Sterben mit der Biografie eines Menschen. Liebe, Sinn und Not, die einem Leben unvergleichliche Bedeutung verleihen, finden ihre Vollendung in einem ebenso einzigartigen Sterben, in dem sich die Geschichte des Einzelnen rundet. »Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer, dass es nicht unser Tod ist« (ebd.), schreibt Rilke. Unser Tod: Als solcher ist er die reife Frucht eines liebe- und sinnvollen, aber auch von Zeiten der Not geprägten Lebens. Rilkes vor mehr als hundert Jahren niedergeschriebene Worte sprechen bis heute viele Menschen an, wovon zahllose Zitierungen in Ratgebern zum Thema Sterben und Tod, in Fachartikeln und Beiträgen zur Debatte um Sterbehilfe oder in Todesanzeigen und auf Trauerfeiern zeugen. Offenbar hat der »eigne Tod« für viele von uns einen hohen Wert. Obwohl über diverse Fragen, die das Lebensende betreffen, heiß gestritten wird, scheint uns der Wunsch, in eigener Weise zu sterben, zu einen. Auch wo die Meinungen differieren, ob assistierter Suizid oder die Tötung auf Verlangen moralisch zulässig sind, wann der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen angebracht ist oder inwiefern die Patientenverfügung einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person Berücksichtigung erfahren soll, lässt sich als gemeinsamer Nenner ausmachen, dass es wünschenswert sei, wenn jemand sterben kann, wie es ihm entspricht. Folgt man Rilke, verwirklicht sich diese Hoffnung, sofern der Tod zur Persönlichkeit und zur Lebensgeschichte eines Menschen passt. In diesem Sinne fällt die Antwort auf die alte und stets aktuelle Menschheitsfrage nach dem guten Tod einmütig aus: Gut stirbt, wer im Einklang mit sich selbst sein Leben zu einem individuell stimmigen Abschluss bringt. Was der ›eigene Tod‹ für den Einzelnen bedeutet, gestaltet sich freilich ebenso höchstpersönlich wie die gesamte Lebensführung zuvor. Wenn Rilke ihn erbittet, benennt er lediglich ein formales Kriterium für ein gelingendes Sterben, aber bestimmt keine konkreten Merkmale wie etwa Schmerzfreiheit oder inneren Frieden. Die Frage nach dem guten Sterben dient meinen Überlegungen als Ausgangspunkt und als roter Faden; für die Suche nach einer Antwort begebe ich mich auf Rilkes Spuren. Damit ist bereits im Groben umrissen, was ich im Folgenden beabsichtige: Ich nehme eine Untersuchung des Wunsches nach dem ›eigenen Tod‹ vor, gehe also dem Vorschlag nach, als gut ein Sterben zu betrachten, das zu einer Person und ihrem Leben wahrhaft passt. Meine Überlegungen drehen sich darum, was es mit diesem Sterbeideal auf sich hat, vorneweg, was sich hinter der opaken Wendung vom »wahrhaften Passen« verbirgt. Sie umfassen aber auch eine Kritik dieser Vorstellung von einem guten Sterben, die schließlich in die skeptische Frage mündet, ob man die Idee des ›eigenen Todes‹ nicht klugerweise verabschiedete, und falls nicht, wie sie sich sinnvoll verstehen lässt. Doch zunächst gilt es, grundsätzliche Fragen zu klären: Warum überhaupt sollte man sich Gedanken machen, wie man gut stirbt? Und weshalb könnte sich lohnen, darüber nachzudenken, was es mit dem ›eigenen Tod‹ auf sich hat? Zur Reflexion kann zunächst verleiten, dass Menschen seit jeher bewegt, was ein gutes Sterben ausmacht und wie es sich verwirklicht, obschon nicht jederzeit in gleichem Ausmaß. Nach einer längeren Phase des Schweigens oder der »Todesverdrängung« (Feldmann 2010: 64) im 20. Jahrhundert handelt es sich heute wieder um ein Thema, das offenkundig viele Menschen umtreibt. Zahlreiche Beiträge über das Sterben in Zeitungen und Zeitschriften, Weblogs, (auto-)biografischen Büchern, Talkshows oder Dokumentarfilmen deuten darauf hin, wie intensiv die Frage viele beschäftigt. Zur Diskussion steht sie darüber hinaus namentlich vor allem in zwei Kontexten: Erstens hat sie ihren angestammten Platz im Feld der Palliative Care und der Hospizbewegung. Wer Palliativversorgung in Anspruch nimmt oder ein Hospiz aufsucht, hat den Tod bereits vor Augen. Sein Leben neigt sich dem Ende zu, kurative Behandlungen gehören der Vergangenheit an, der Sterbeprozess hat begonnen, so dass die Frage in den Mittelpunkt rückt, wie sich die letzte Lebensphase in angemessener Weise begleiten und gestalten lässt. Das ›gute Sterben‹ gehört deshalb zu den zentralen Themen palliativmedizinischer Schriften; sowohl in der Fachliteratur als auch in populärwissenschaftlichen Ratgebern wird es ausgiebig erörtert. Zweitens stößt die Frage nach dem guten Tod in der Medizinethik und in der Moralphilosophie zunehmend auf Interesse. Dort verbindet sie sich vielfach mit dem Wunsch, die als festgefahren erlebten Debatten über Sterbehilfe in einem Dialog über ein gemeinsames Ethos oder eine »Kultur des Sterbens« zu entkrampfen und einen »Kontrapunkt zur Verengung der Diskussion auf die Suizidbeihilfe« (Nationale Ethikkommission 2015: 1) zu setzen. Kurzum, die bleibende Aktualität des Themas und das gegenwärtig wieder aufflammende Interesse, in der Öffentlichkeit wie in Fachkreisen, motivieren mich, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Damit ist nicht bloß angedeutet, warum mich das gute Sterben bewegt, sondern auch, in welchem Rahmen ich meine Frage verhandeln möchte, nämlich mit Blick auf den Umgang mit dem Sterben in der Palliativversorgung und in der Sterbehilfebewegung, zumal in der Öffentlichkeit meistens diese Weisen der Sterbebegleitung zur Diskussion stehen. In beiden diskursprägenden Kontexten findet der Gedanke des ›eigenen Todes‹ Anklang, wenngleich er freilich verschiedenartige Deutungen erfährt, was auf meine zweite Ausgangsfrage – weshalb sich das Nachdenken über den ›eigenen Tod‹ lohnt – verweist: Rilkes Verse bringen nicht nur ein Anliegen vieler Menschen zum Ausdruck, vielmehr findet das in ihnen ausgesprochene populäre Sterbeideal sowohl in der Palliativversorgung als auch in der Sterbehilfebewegung deutlichen Widerhall, so sehr sich beide Formen der Sterbebegleitung in vielem unterscheiden. Man stimmt darin überein, Menschen am Lebensende dabei helfen zu wollen, ein Sterben gemäß den eigenen Wünschen zu verwirklichen, sei es durch die Behandlung körperlichen, psychosozialen und spirituellen Leidens in der Palliative Care, sei es durch Unterstützung beim Suizid durch eine Sterbehilfeorganisation. Trotz aller Verschiedenheit der Vorstellungen vom guten Sterben teilen die Palliativ- und die Sterbehilfebewegung mit dem Sterbeideal des ›eigenen Todes‹ ein basales gemeinsames Ethos: Einem jeden möge vergönnt sein, seinen Lebensweg bis zuletzt in individueller Weise zu gestalten. Ähnlich wie mich die gegenwärtige Präsenz der Frage nach dem guten Sterben motiviert, ihr nachzugehen, animieren mich die Popularität des Leitbildes und dessen Auswirkung auf die heutige Begleitung Sterbender, mich damit zu befassen. Auf einen Begriff gebracht schlage ich vor, im Wunsch nach dem ›eigenen Tod‹ eine Orientierung am Ideal der Authentizität zu erkennen. Wer sein Leben in ihm gemäßer Weise vollenden möchte und darauf hofft, auf eigene Art zu sterben, wünscht sich Authentizität, lautet die Annahme, von der meine Überlegungen ausgehen. Er will, so lässt sich dieser Gedanke andeutungsweise reformulieren, im Sterben im emphatischen Sinne er selbst oder mit sich eins sein. Wenn Palliativversorger und Sterbehilfeorganisationen sich in ihrem Bemühen, Sterbenden ihren ›eigenen Tod‹ zu ermöglichen, auf dieses populäre Leitbild beziehen, legen sie es allerdings – so lautet eine meiner zentralen Thesen – auf problematische Weise aus. Einerseits beschreibe ich im Folgenden also, wie sich Sterbeverläufe heute, vorrangig geprägt durch die Palliativ- und die Sterbehilfebewegung, gestalten, und behaupte, der Umgang mit dem Lebensende lasse sich mithilfe des Authentizitätsbegriffs besser verstehen, worin der deskriptive Schwerpunkt meiner Arbeit liegt. Andererseits zeige ich auf, welche bedenklichen Konsequenzen die gegenwärtige Orientierung am Sterbeideal des ›eigenen Todes‹ zeitigt. Aufgefasst wie in der Palliative Care und der Sterbehilfebewegung, droht sich das Leitbild in einen überfordernden und leidverursachenden Anspruch an Sterbende zu verkehren, was die Frage aufwirft, ob es überhaupt je zu einem guten Sterben beizusteuern vermag. Trotz gewisser Vorbehalte verteidige ich jedoch schließlich den ›eigenen Tod‹ als ein hilfreiches Ideal, an dem zu orientieren sich lohnt – allerdings nur, so man sich eines anderen Begriffsverständnisses als desjenigen der Palliativ- und der Sterbehilfebewegung befleißigt, und selbst dann bloß mit Abstrichen. Entsprechend zurückhaltend fällt meine Zustimmung zu der Vorstellung aus, es sterbe gut, wer im Sterben authentisch bleibt. Ihren normativen Schwerpunkt gibt meiner Arbeit mithin, die Frage nach dem guten Sterben mithilfe des Authentizitätsbegriffs auszudeuten, zu beantworten und die Antwort abzuwägen. Der skizzierte Gedankengang weist bereits auf ein erstes Spezifikum des Authentizitätsbegriffs hin: Ich verwende ihn zugleich deskriptiv und normativ; er dient mir also der Erschließung, der Deutung und der Bewertung bestimmter Phänomene. Mit Bernard Williams gesprochen handelt es sich um ein »thick ethical concept« (Williams 2006: 140), in dem sich die Beschreibung mit der Beurteilung verknüpft, so dass der Begriff zugleich etwas darüber aussagt, wie die Welt ist und ob eine Situation, eine Person oder eine Handlung als gut oder schlecht einzuschätzen sind. Etwas als authentisch zu beschreiben, bedeutet dementsprechend, es auch zu bewerten – und zwar, sofern es sich um ein Ideal handelt, als grundsätzlich positiv. Warum aber könnte es erstrebenswert sein, im Sterben Authentizität zu verwirklichen? Und was heißt es überhaupt, authentisch zu sterben? Ein Gutteil meiner Arbeit widmet sich der Rekonstruktion und der Interpretation des Authentizitätsideals, wozu auch die Klärung der Frage gehört, weshalb sich die philosophische Wiedergewinnung und die Fruchtbarmachung des Begriffs für eine Ethik des guten Sterbens lohnen. Dabei beziehe ich mich auf Autoren wie Martin Heidegger, Michel Foucault, Richard Rorty und Charles Taylor. Um verschiedene Aspekte zu veranschaulichen und zu vertiefen, wähle ich außerdem Ausschnitte aus einigen Tagebüchern und Selbsterzählungen über das Sterben aus, beispielsweise von Tom Lubbock, Christoph Schlingensief oder Wolfgang Herrndorf, weil sie mir helfen, mit Blick auf das Lebensende beispielhaft zu verdeutlichen, inwiefern Authentizitätsvollzüge eine Rolle spielen können. Vorläufig möchte ich nur knapp umreißen, was ich unter Authentizität verstehe, diesem Modewort, das faszinierte ebenso wie verächtliche Reaktionen hervorruft: Wer oder was authentisch ist, gilt gemeinhin als glaub-würdig, echt und wahrhaftig. Gelingt es einer Person, ein authentisches Leben zu führen, bleibt sie sich treu und lässt sich nicht von den Vorstellungen anderer beirren, wer sie zu sein und wie sie zu leben habe. Vielmehr handelt sie nach Prinzipien, Werten und Wünschen, die nicht bloß in dem oberflächlichen Sinne die ihren sind, dass sie als deren Urheberin in Erscheinung tritt, sondern die zum Ausdruck bringen, wer diejenige wirklich ist. Kurzum, Authentizität manifestiert sich in der Lebensführung einer Person, und zwar in dem Verhältnis, das sie zu sich und zur Welt pflegt. Eine solche Beziehungsqualität verwirklicht sich in einem Vollzug, so dass sich Authentizität trefflicher als Prozess der Authentifizierung charakterisieren lässt, denn es handelt sich um keine Eigenschaft, die jemandem zukäme oder eben nicht, sondern um eine Weise, sich zu sich und zur Welt zu verhalten und sich sein Leben anzueignen. Ich steuere in meiner Untersuchung somit auf einen formalen Begriff von Authentizität zu und interessiere mich für das Wie des Authentizitätsvollzugs, der sich auch als Suche nach der eigenen Stimme umschreiben lässt. Nun mag die Idee eines ›authentischen Sterbens‹ spontan auf Widerspruch stoßen, denn lässt sich das Authentizitätsideal überhaupt sinnvoll auf das Lebensende anwenden? Über den eigenen Tod können wir nicht verfügen, allenfalls über gewisse Begleitumstände, es sei denn, jemand wählt den Suizid. Mors certa, hora incerta, der Tod ist gewiss, die Todesstunde ungewiss, lautet ein bekanntes Sprichwort – und nicht allein der Zeitpunkt des Ablebens, sondern auch, wie es sich gestaltet, richtet sich bloß in begrenztem Maß nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen. Trotz allem medizinischen Fortschritt lassen sich Sterbeverläufe nur teilweise steuern und vorhersehen; sie bleiben stets geprägt von Unwägbarkeiten und Eventualitäten. Nicht selten gewärtigen Sterbende zudem kognitive Einschränkungen oder entwickeln eine Demenz, weshalb sich erst recht die Frage stellt, was es heißen soll, authentisch zu sterben, und ob es sich womöglich um ein elitäres Ideal handelt, dem kaum jemand zu entsprechen vermag. Was soll die Rede vom eigenen Tod also bedeuten, wenn weitgehend dem Zufall überlassen bleibt und zudem von den geistigen Fähigkeiten abhängt, ob es jemandem vergönnt ist, so zu sterben, wie es seinen Wertvorstellungen, Überzeugungen und Wünschen entspricht? Setzt die Verwirklichung von Authentizität nicht voraus, dass sich das Leben gestalten lässt, und trifft das nicht gerade im Sterben nicht (mehr) oder zumindest kaum zu? Obwohl wir nur ausnahmsweise darüber bestimmen, wann und auf welche Weise der Tod uns ereilt, erschöpft sich in einer Haltung der Passivität nicht, wie wir ihm begegnen können. So besteht die Möglichkeit, sich auf das Sterben bereits früh im Leben vorzubereiten, indem wir uns mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen, uns Gedanken machen, wie wir uns die letzte Lebensphase vorstellen, und das zum Beispiel in einer Patientenverfügung festhalten. Zudem geht dem Tod oft eine mehr oder weniger lange währende Zeitspanne voraus, in der sich das Lebensende deutlich ankündigt und einer Person absehbar nur noch Wochen, Monate, allenfalls wenige Jahre verbleiben. Diese Phase lässt sich in gewissem Maße gestalten, was auch den Augenblick des Ablebens umfassen oder zumindest beeinflussen kann. Auf den Lebensabend in diesem Sinne konzentrieren sich meine Überlegungen, zumal er das Wirkungsfeld für Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter aus der Palliative Care und aus Sterbehilfeorganisationen eröffnet, deren Umgang mit dem Sterben mich hier interessiert. Zu meinem Thema mache ich mithin ein »Sterben mit Vorlauf«; ein Lebensende, wie es heute vielen Menschen bevorsteht. Weder interessieren mich der jähe Exitus etwa durch einen Blitzschlag oder auch der plötzliche Herztod noch weitere Sterbeverläufe, die sich vollumfänglich der Beeinflussung durch das sterbende Individuum entziehen. Freilich verbindet sich damit nicht die Behauptung, es stürbe schlecht, wer dergestalt aus dem Leben scheidet, unter Umständen gilt sogar das Gegenteil: Nach einem erfüllten Leben unerwartet des Nachts zu entschlafen, halten nicht wenige Menschen für den besten Tod.
Erscheinungsdatum | 08.03.2020 |
---|---|
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 141 x 212 mm |
Gewicht | 425 g |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Mikrosoziologie | |
Schlagworte | Angst • authentisch • Authentizität • Debatte • guter Tod • gutes Sterben • Hospiz • Palliative Care • Palliativmedizin • Palliativversorgung • Selbstbestimmt • Selbstbestimmtes Sterben • Sterbebegleitung • Sterbehilfe • Sterbehilfebewegung • Sterbeideale • Sterbekultur • Sterben • Sterben begleiten • Tod • Trauer |
ISBN-10 | 3-593-51235-1 / 3593512351 |
ISBN-13 | 978-3-593-51235-8 / 9783593512358 |
Zustand | Neuware |
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