Jedem seinen eigenen Tod (eBook)

Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
340 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44431-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jedem seinen eigenen Tod -  Nina Streeck
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Das Sterben wird längst nicht mehr verdrängt und verschwiegen, es gehört vielmehr zu den ausgiebig erörterten Themen unserer Zeit. Viele Debatten ranken sich um Sterbehilfe und um die Frage, was einen guten Tod ausmacht. Dabei scheinen wir uns bemerkenswert einig zu sein, dass gut stirbt, wer bis zuletzt er oder sie selbst bleibt. Wir wünschen uns, so die These dieses Buches, unseren »eigenen Tod«: ein Lebensende, wie es uns entspricht, ein authentisches Sterben. Dieses Ideal leitet in unterschiedlicher Weise die Palliativversorgung und die Sterbehilfebewegung an. Doch Nina Streeck zeigt, dass sich das, was so erstrebenswert klingt, als anspruchsvoll entpuppt. Die Idee des »eigenen Todes« droht sich in ihr Gegenteil zu verkehren: in einen Zwang zum authentischen Sterben.

Nina Streeck ist Fachverantwortliche »Ethik und Lebensfragen« am Institut Neumünster, Zollikerberg.

Nina Streeck ist Fachverantwortliche »Ethik und Lebensfragen« am Institut Neumünster, Zollikerberg.

Inhalt 6
Einleitung 12
I. Gut leben und gut sterben: Das gute Sterben und seine Bedingungen 26
Tod, Sterben oder Leben 28
Tod des Körpers, Tod des Bewusstseins, sozialer Tod 35
Eine Ethik des guten Sterbens 46
Gut leben oder moralisch handeln 55
Lustgefühle, erfüllte Wünsche und Güterlisten 65
Wessen es für ein gutes Leben bedarf: Sozialphilosophie 73
Authentisch sein und gut leben 84
Authentizität und Autonomie 91
II. Im Einklang mit sich leben: Zur Rekonstruktion des Authentizitätsideals 96
Einführung 98
Authentizität von Sokrates bis Taylor 105
Werde, der du bist – erfinde dich selbst 114
Transformation, Tätigsein und Bejahung 134
Widerstand und Neubeschreibung: Foucault und Rorty 159
Orientierung ohne wahres Selbst: Narrative Kohärenz 181
Misslingende Authentizitätsvollzüge 205
III. Verkehrte Authentizität: Sterben mit Palliative Care und Sterbehilfe 220
Einführung 222
Die Geschichte der Palliative Care 226
Die Geschichte der Sterbehilfebewegung 237
Sterben, wie man gelebt hat: Palliative Care 251
Macher bleiben: Sterbehilfe 264
Das Authentizitätsversprechen 274
Verkehrte Authentizität 284
Der uneigene Tod 291
Schluss 312
Der ›eigene Tod‹ als guter Tod 314
Anmerkungen 318
Literatur 334
Danksagung 358

Einleitung O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Rainer Maria Rilke Als Rainer Maria Rilke seine berühmten Verse über den Tod zu Papier brachte, hatte er das Sterben im Krankenhaus einer Großstadt am Anfang des 20. Jahrhunderts vor Augen: Der Mensch gerät in die Mühlen eines anonymen Medizinbetriebs, der ihn daran hindert, seinen Lebensweg auf ihm gemäße Weise zu beschließen und seinen »eignen Tod« zu sterben. Gegen ein solches Sterben, wie es in den damaligen städtischen Spitälern für gewöhnlich vorkommt, wendet sich Rilke im Buch von der Armut und vom Tode, dem die Zeilen entstammen. Den »kleinen Tod« in den Sterbebetten »ganz im Dunkel« in »verhüllten Hinterzimmern« kontrastiert er mit dem »großen Tod, den jeder in sich hat« (Rilke 1905). In ihm verbindet sich das Sterben mit der Biografie eines Menschen. Liebe, Sinn und Not, die einem Leben unvergleichliche Bedeutung verleihen, finden ihre Vollendung in einem ebenso einzigartigen Sterben, in dem sich die Geschichte des Einzelnen rundet. »Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer, dass es nicht unser Tod ist« (ebd.), schreibt Rilke. Unser Tod: Als solcher ist er die reife Frucht eines liebe- und sinnvollen, aber auch von Zeiten der Not geprägten Lebens. Rilkes vor mehr als hundert Jahren niedergeschriebene Worte sprechen bis heute viele Menschen an, wovon zahllose Zitierungen in Ratgebern zum Thema Sterben und Tod, in Fachartikeln und Beiträgen zur Debatte um Sterbehilfe oder in Todesanzeigen und auf Trauerfeiern zeugen. Offenbar hat der »eigne Tod« für viele von uns einen hohen Wert. Obwohl über diverse Fragen, die das Lebensende betreffen, heiß gestritten wird, scheint uns der Wunsch, in eigener Weise zu sterben, zu einen. Auch wo die Meinungen differieren, ob assistierter Suizid oder die Tötung auf Verlangen moralisch zulässig sind, wann der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen angebracht ist oder inwiefern die Patientenverfügung einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person Berücksichtigung erfahren soll, lässt sich als gemeinsamer Nenner ausmachen, dass es wünschenswert sei, wenn jemand sterben kann, wie es ihm entspricht. Folgt man Rilke, verwirklicht sich diese Hoffnung, sofern der Tod zur Persönlichkeit und zur Lebensgeschichte eines Menschen passt. In diesem Sinne fällt die Antwort auf die alte und stets aktuelle Menschheitsfrage nach dem guten Tod einmütig aus: Gut stirbt, wer im Einklang mit sich selbst sein Leben zu einem individuell stimmigen Abschluss bringt. Was der ?eigene Tod? für den Einzelnen bedeutet, gestaltet sich freilich ebenso höchstpersönlich wie die gesamte Lebensführung zuvor. Wenn Rilke ihn erbittet, benennt er lediglich ein formales Kriterium für ein gelingendes Sterben, aber bestimmt keine konkreten Merkmale wie etwa Schmerzfreiheit oder inneren Frieden. Die Frage nach dem guten Sterben dient meinen Überlegungen als Ausgangspunkt und als roter Faden; für die Suche nach einer Antwort begebe ich mich auf Rilkes Spuren. Damit ist bereits im Groben umrissen, was ich im Folgenden beabsichtige: Ich nehme eine Untersuchung des Wunsches nach dem ?eigenen Tod? vor, gehe also dem Vorschlag nach, als gut ein Sterben zu betrachten, das zu einer Person und ihrem Leben wahrhaft passt. Meine Überlegungen drehen sich darum, was es mit diesem Sterbeideal auf sich hat, vorneweg, was sich hinter der opaken Wendung vom »wahrhaften Passen« verbirgt. Sie umfassen aber auch eine Kritik dieser Vorstellung von einem guten Sterben, die schließlich in die skeptische Frage mündet, ob man die Idee des ?eigenen Todes? nicht klugerweise verabschiedete, und falls nicht, wie sie sich sinnvoll verstehen lässt. Doch zunächst gilt es, grundsätzliche Fragen zu klären: Warum überhaupt sollte man sich Gedanken machen, wie man gut stirbt? Und weshalb könnte sich lohnen, darüber nachzudenken, was es mit dem ?eigenen Tod? auf sich hat? Zur Reflexion kann zunächst verleiten, dass Menschen seit jeher bewegt, was ein gutes Sterben ausmacht und wie es sich verwirklicht, obschon nicht jederzeit in gleichem Ausmaß. Nach einer längeren Phase des Schweigens oder der »Todesverdrängung« (Feldmann 2010: 64) im 20. Jahrhundert handelt es sich heute wieder um ein Thema, das offenkundig viele Menschen umtreibt. Zahlreiche Beiträge über das Sterben in Zeitungen und Zeitschriften, Weblogs, (auto-)biografischen Büchern, Talkshows oder Dokumentarfilmen deuten darauf hin, wie intensiv die Frage viele beschäftigt. Zur Diskussion steht sie darüber hinaus namentlich vor allem in zwei Kontexten: Erstens hat sie ihren angestammten Platz im Feld der Palliative Care und der Hospizbewegung. Wer Palliativversorgung in Anspruch nimmt oder ein Hospiz aufsucht, hat den Tod bereits vor Augen. Sein Leben neigt sich dem Ende zu, kurative Behandlungen gehören der Vergangenheit an, der Sterbeprozess hat begonnen, so dass die Frage in den Mittelpunkt rückt, wie sich die letzte Lebensphase in angemessener Weise begleiten und gestalten lässt. Das ?gute Sterben? gehört deshalb zu den zentralen Themen palliativmedizinischer Schriften; sowohl in der Fachliteratur als auch in populärwissenschaftlichen Ratgebern wird es ausgiebig erörtert. Zweitens stößt die Frage nach dem guten Tod in der Medizinethik und in der Moralphilosophie zunehmend auf Interesse. Dort verbindet sie sich vielfach mit dem Wunsch, die als festgefahren erlebten Debatten über Sterbehilfe in einem Dialog über ein gemeinsames Ethos oder eine »Kultur des Sterbens« zu entkrampfen und einen »Kontrapunkt zur Verengung der Diskussion auf die Suizidbeihilfe« (Nationale Ethikkommission 2015: 1) zu setzen. Kurzum, die bleibende Aktualität des Themas und das gegenwärtig wieder aufflammende Interesse, in der Öffentlichkeit wie in Fachkreisen, motivieren mich, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Damit ist nicht bloß angedeutet, warum mich das gute Sterben bewegt, sondern auch, in welchem Rahmen ich meine Frage verhandeln möchte, nämlich mit Blick auf den Umgang mit dem Sterben in der Palliativversorgung und in der Sterbehilfebewegung, zumal in der Öffentlichkeit meistens diese Weisen der Sterbebegleitung zur Diskussion stehen. In beiden diskursprägenden Kontexten findet der Gedanke des ?eigenen Todes? Anklang, wenngleich er freilich verschiedenartige Deutungen erfährt, was auf meine zweite Ausgangsfrage - weshalb sich das Nachdenken über den ?eigenen Tod? lohnt - verweist: Rilkes Verse bringen nicht nur ein Anliegen vieler Menschen zum Ausdruck, vielmehr findet das in ihnen ausgesprochene populäre Sterbeideal sowohl in der Palliativversorgung als auch in der Sterbehilfebewegung deutlichen Widerhall, so sehr sich beide Formen der Sterbebegleitung in vielem unterscheiden. Man stimmt darin überein, Menschen am Lebensende dabei helfen zu wollen, ein Sterben gemäß den eigenen Wünschen zu verwirklichen, sei es durch die Behandlung körperlichen, psychosozialen und spirituellen Leidens in der Palliative Care, sei es durch Unterstützung beim Suizid durch eine Sterbehilfeorganisation. Trotz aller Verschiedenheit der Vorstellungen vom guten Sterben teilen die Palliativ- und die Sterbehilfebewegung mit dem Sterbeideal des ?eigenen Todes? ein basales gemeinsames Ethos: Einem jeden möge vergönnt sein, seinen Lebensweg bis zuletzt in individueller Weise zu gestalten. Ähnlich wie mich die gegenwärtige Präsenz der Frage nach dem guten Sterben motiviert, ihr nachzugehen, animieren mich die Popularität des Leitbildes und dessen Auswirkung auf die heutige Begleitung Sterbender, mich damit zu befassen. Auf einen Begriff gebracht schlage ich vor, im Wunsch nach dem ?eigenen Tod? eine Orientierung am Ideal der Authentizität zu erkennen. Wer sein Leben in ihm gemäßer Weise vollenden möchte und darauf hofft, auf eigene Art zu sterben, wünscht sich Authentizität, lautet die Annahme, von der meine Überlegungen ausgehen. Er will, so lässt sich dieser Gedanke andeutungsweise reformulieren, im Sterben im emphatischen Sinne er selbst oder mit sich eins sein. Wenn Palliativversorger und Sterbehilfeorganisationen sich in ihrem Bemühen, Sterbenden ihren ?eigenen Tod? zu ermöglichen, auf dieses populäre Leitbild beziehen, legen sie es allerdings - so lautet eine meiner zentralen Thesen - auf problematische Weise aus. Einerseits beschreibe ich im Folgenden also, wie sich Sterbeverläufe heute, vorrangig geprägt durch die Palliativ- und die Sterbehilfebewegung, gestalten, und behaupte, der Umgang mit dem Lebensende lasse sich mithilfe des Authentizitätsbegriffs besser verstehen, worin der deskriptive Schwerpunkt meiner Arbeit liegt. Andererseits zeige ich auf, welche bedenklichen Konsequenzen die gegenwärtige Orientierung am Sterbeideal des ?eigenen Todes? zeitigt. Aufgefasst wie in der Palliative Care und der Sterbehilfebewegung, droht sich das Leitbild in einen überfordernden und leidverursachenden Anspruch an Sterbende zu verkehren, was die Frage aufwirft, ob es überhaupt je zu einem guten Sterben beizusteuern vermag. Trotz gewisser Vorbehalte verteidige ich jedoch schließlich den ?eigenen Tod? als ein hilfreiches Ideal, an dem zu orientieren sich lohnt - allerdings nur, so man sich eines anderen Begriffsverständnisses als desjenigen der Palliativ- und der Sterbehilfebewegung befleißigt, und selbst dann bloß mit Abstrichen. Entsprechend zurückhaltend fällt meine Zustimmung zu der Vorstellung aus, es sterbe gut, wer im Sterben authentisch bleibt. Ihren normativen Schwerpunkt gibt meiner Arbeit mithin, die Frage nach dem guten Sterben mithilfe des Authentizitätsbegriffs auszudeuten, zu beantworten und die Antwort abzuwägen. Der skizzierte Gedankengang weist bereits auf ein erstes Spezifikum des Authentizitätsbegriffs hin: Ich verwende ihn zugleich deskriptiv und normativ; er dient mir also der Erschließung, der Deutung und der Bewertung bestimmter Phänomene. Mit Bernard Williams gesprochen handelt es sich um ein »thick ethical concept« (Williams 2006: 140), in dem sich die Beschreibung mit der Beurteilung verknüpft, so dass der Begriff zugleich etwas darüber aussagt, wie die Welt ist und ob eine Situation, eine Person oder eine Handlung als gut oder schlecht einzuschätzen sind. Etwas als authentisch zu beschreiben, bedeutet dementsprechend, es auch zu bewerten - und zwar, sofern es sich um ein Ideal handelt, als grundsätzlich positiv. Warum aber könnte es erstrebenswert sein, im Sterben Authentizität zu verwirklichen? Und was heißt es überhaupt, authentisch zu sterben? Ein Gutteil meiner Arbeit widmet sich der Rekonstruktion und der Interpretation des Authentizitätsideals, wozu auch die Klärung der Frage gehört, weshalb sich die philosophische Wiedergewinnung und die Fruchtbarmachung des Begriffs für eine Ethik des guten Sterbens lohnen. Dabei beziehe ich mich auf Autoren wie Martin Heidegger, Michel Foucault, Richard Rorty und Charles Taylor. Um verschiedene Aspekte zu veranschaulichen und zu vertiefen, wähle ich außerdem Ausschnitte aus einigen Tagebüchern und Selbsterzählungen über das Sterben aus, beispielsweise von Tom Lubbock, Christoph Schlingensief oder Wolfgang Herrndorf, weil sie mir helfen, mit Blick auf das Lebensende beispielhaft zu verdeutlichen, inwiefern Authentizitätsvollzüge eine Rolle spielen können. Vorläufig möchte ich nur knapp umreißen, was ich unter Authentizität verstehe, diesem Modewort, das faszinierte ebenso wie verächtliche Reaktionen hervorruft: Wer oder was authentisch ist, gilt gemeinhin als glaub-würdig, echt und wahrhaftig. Gelingt es einer Person, ein authentisches Leben zu führen, bleibt sie sich treu und lässt sich nicht von den Vorstellungen anderer beirren, wer sie zu sein und wie sie zu leben habe. Vielmehr handelt sie nach Prinzipien, Werten und Wünschen, die nicht bloß in dem oberflächlichen Sinne die ihren sind, dass sie als deren Urheberin in Erscheinung tritt, sondern die zum Ausdruck bringen, wer diejenige wirklich ist. Kurzum, Authentizität manifestiert sich in der Lebensführung einer Person, und zwar in dem Verhältnis, das sie zu sich und zur Welt pflegt. Eine solche Beziehungsqualität verwirklicht sich in einem Vollzug, so dass sich Authentizität trefflicher als Prozess der Authentifizierung charakterisieren lässt, denn es handelt sich um keine Eigenschaft, die jemandem zukäme oder eben nicht, sondern um eine Weise, sich zu sich und zur Welt zu verhalten und sich sein Leben anzueignen. Ich steuere in meiner Untersuchung somit auf einen formalen Begriff von Authentizität zu und interessiere mich für das Wie des Authentizitätsvollzugs, der sich auch als Suche nach der eigenen Stimme umschreiben lässt. Nun mag die Idee eines ?authentischen Sterbens? spontan auf Widerspruch stoßen, denn lässt sich das Authentizitätsideal überhaupt sinnvoll auf das Lebensende anwenden? Über den eigenen Tod können wir nicht verfügen, allenfalls über gewisse Begleitumstände, es sei denn, jemand wählt den Suizid. Mors certa, hora incerta, der Tod ist gewiss, die Todesstunde ungewiss, lautet ein bekanntes Sprichwort - und nicht allein der Zeitpunkt des Ablebens, sondern auch, wie es sich gestaltet, richtet sich bloß in begrenztem Maß nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen. Trotz allem medizinischen Fortschritt lassen sich Sterbeverläufe nur teilweise steuern und vorhersehen; sie bleiben stets geprägt von Unwägbarkeiten und Eventualitäten. Nicht selten gewärtigen Sterbende zudem kognitive Einschränkungen oder entwickeln eine Demenz, weshalb sich erst recht die Frage stellt, was es heißen soll, authentisch zu sterben, und ob es sich womöglich um ein elitäres Ideal handelt, dem kaum jemand zu entsprechen vermag. Was soll die Rede vom eigenen Tod also bedeuten, wenn weitgehend dem Zufall überlassen bleibt und zudem von den geistigen Fähigkeiten abhängt, ob es jemandem vergönnt ist, so zu sterben, wie es seinen Wertvorstellungen, Überzeugungen und Wünschen entspricht? Setzt die Verwirklichung von Authentizität nicht voraus, dass sich das Leben gestalten lässt, und trifft das nicht gerade im Sterben nicht (mehr) oder zumindest kaum zu? Obwohl wir nur ausnahmsweise darüber bestimmen, wann und auf welche Weise der Tod uns ereilt, erschöpft sich in einer Haltung der Passivität nicht, wie wir ihm begegnen können. So besteht die Möglichkeit, sich auf das Sterben bereits früh im Leben vorzubereiten, indem wir uns mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen, uns Gedanken machen, wie wir uns die letzte Lebensphase vorstellen, und das zum Beispiel in einer Patientenverfügung festhalten. Zudem geht dem Tod oft eine mehr oder weniger lange währende Zeitspanne voraus, in der sich das Lebensende deutlich ankündigt und einer Person absehbar nur noch Wochen, Monate, allenfalls wenige Jahre verbleiben. Diese Phase lässt sich in gewissem Maße gestalten, was auch den Augenblick des Ablebens umfassen oder zumindest beeinflussen kann. Auf den Lebensabend in diesem Sinne konzentrieren sich meine Überlegungen, zumal er das Wirkungsfeld für Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter aus der Palliative Care und aus Sterbehilfeorganisationen eröffnet, deren Umgang mit dem Sterben mich hier interessiert. Zu meinem Thema mache ich mithin ein »Sterben mit Vorlauf«; ein Lebensende, wie es heute vielen Menschen bevorsteht. Weder interessieren mich der jähe Exitus etwa durch einen Blitzschlag oder auch der plötzliche Herztod noch weitere Sterbeverläufe, die sich vollumfänglich der Beeinflussung durch das sterbende Individuum entziehen. Freilich verbindet sich damit nicht die Behauptung, es stürbe schlecht, wer dergestalt aus dem Leben scheidet, unter Umständen gilt sogar das Gegenteil: Nach einem erfüllten Leben unerwartet des Nachts zu entschlafen, halten nicht wenige Menschen für den besten Tod.

Erscheint lt. Verlag 11.3.2020
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte Angst • authentisch • Authentizität • Debatte • guter Tod • gutes Sterben • Hospiz • Palliative Care • Palliativmedizin • Palliativversorgung • Selbstbestimmt • Selbstbestimmtes Sterben • Sterbebegleitung • Sterbehilfe • Sterbehilfebewegung • Sterbeideale • Sterbekultur • Sterben • Sterben begleiten • Tod • Trauer
ISBN-10 3-593-44431-3 / 3593444313
ISBN-13 978-3-593-44431-4 / 9783593444314
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