Mitte des Lebens (eBook)
272 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28088-5 (ISBN)
Im Leben ist irgendwann vieles entschieden: wen wir lieben, wo wir arbeiten, wie wir wohnen. Manche sind froh, angekommen zu sein - andere fürchten, festzustecken in einem Leben voller Routinen, und fragen sich, ob es das schon war. Wie finden wir neue Lebensziele, wenn vieles erreicht ist? Wie gehen wir damit um, dass sich die Zeithorizonte langsam verengen und einige Züge mittlerweile abgefahren sind? Philosophisch fundiert und voller Bezüge aus dem Alltag denkt Barbara Bleisch nach über Lebenserfahrung, Leichtigkeit und Gelassenheit. Dem Klischee der 'midlife crisis' setzt sie eine Philosophie der Lebensmitte entgegen, die hineinführt in die existenziellen Fragen unserer Jahrzehnte als Erwachsene - und in die beste Zeit unseres Lebens.
Barbara Bleisch, geboren 1973, lebt mit ihrer Familie in Zürich und ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Seit 2010 moderiert sie die Sendung 'Sternstunde Philosophie' beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Von 2017 bis 2019 war sie akademischer Gast am Collegium Helveticum. Bei Hanser erschienen: Warum wir unseren Eltern nichts schulden (2018) und Kinder wollen. über Autonomie und Verantwortung (2020).
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Den See erblickt man erst, wenn man zur Mitte des Hochplateaus gelangt ist. Eingerahmt von lichten Lärchenwäldern und dahinter schroff aufragenden Felswänden, liegt er ruhig und dunkel inmitten der Ebene: der Lai Nair, der schwarze See. Seinen Namen hat der Moorsee von der Farbe des Wassers, das je nach Lichtverhältnissen goldbraun bis tiefschwarz schimmert. Das Hochmoor liegt im Schweizer Engadin in einer Senke am Fuß des Piz Pisoc und gibt den Blick frei auf die Gebirgsgruppe der Silvretta, die sich vor zweihundert Millionen Jahren aus Meeresablagerungen an die Oberfläche wölbte. Die ganze Schönheit der Landschaft ist geprägt vom Werden und Vergehen: Im sauren Boden zersetzen sich die abgestorbenen Pflanzen nur langsam und bilden eine Torfschicht, die Jahr für Jahr rund einen Millimeter wächst. Auf dem fruchtbaren Untergrund wachsen immer neue Birken und Föhren, Heidelbeeren und Alpenrosen — der perfekte Lebensraum für Insekten, Schmetterlinge und Vögel, die hier oben ihre Runden drehen.
Ich weiß nicht, wie oft ich den Weg bereits gegangen bin, der auf die Hochebene führt. Ich erinnere mich an das Gefühl als Kind, wie das hohe Gras an den nackten Beinen kitzelte und uns hier und da eine Brennnessel erwischte, wenn wir den Waldweg emporrannten, anstatt langsam zu gehen und auf das Gestrüpp zu achten. Ich erinnere mich auch an die erlösende Kühle im Sommer, wenn wir verschwitzt vom Aufstieg in den Moorsee glitten. Später ging ich mit meinen Kindern denselben Weg, erzählte ihnen Geschichten, um sie davon abzulenken, dass sich der Weg noch eine Weile durch den Wald schlängeln würde. Heute rutscht nur noch dann und wann eine kleinere Hand in meine, warm wie ein weiches Tier. Meist wandern die nun groß gewordenen Kinder voraus und hüpfen geschickt über Wurzeln und umgefallene Bäume. Öfters aber gehe ich inzwischen allein oder in Gesellschaft von Freundinnen und Freunden, froh, nicht jeden Gedanken nach zwei Wendungen unterbrechen zu müssen, manchmal aber auch wehmütig, dass kein Kind mehr zum Weitergehen ermuntert werden muss.
Beim See angekommen, ist der Blick damals wie heute atemberaubend. Wie oft werde ich noch hier stehen und über die vollkommene Schönheit dieser Landschaft staunen? Im Vergleich zum Alter dieses Fleckens ist mein Verbleib auf Erden unfassbar kurz, ein belangloser Wimpernschlag der Ewigkeit, mehr nicht. Manchmal finde ich das tröstlich, weil es mir Distanz schenkt zum eigenen Leben. All die Fragen, die mich umtreiben — wogegen ich ankämpfen, was ich hinnehmen, was noch anpacken, was sein lassen soll —, all diese Fragen scheinen angesichts der zeitlichen Dimensionen der Landschaft um mich an Relevanz zu verlieren. Manchmal finde ich die Einsicht in die ungebührliche Kürze meines eigenen Lebens aber auch zum Verzweifeln, weil das Leben schön ist und ich noch so viel vorhabe — mir aber die Zeit davonzulaufen scheint. Werde ich achtzig Jahre alt, bleiben mir heute noch 1560 Wochen. Das scheint mir erschreckend wenig.
Als ich in meinem Freundeskreis von meiner Arbeit an einem Buch über die Lebensmitte zu erzählen begann, gaben sich einige erstaunt: So alt bist du doch noch nicht! Dabei habe ich, betreiben wir reine Statistik, die Hälfte meines Lebens längst hinter mir. Mit meinem Jahrgang und Wohnort habe ich die Schwelle an meinem neununddreißigsten Geburtstag passiert. Vermutlich waren die Reaktionen schmeichelhaft gemeint: Zwar wollen die meisten alt werden, also ein langes Leben vor sich haben — aber niemand möchte älter werden, zumindest nicht mehr ab einem bestimmten Alter. Einige waren auch peinlich berührt: ein Selbsthilfebuch gegen die »midlife crisis«, eine Art Anleitung für die Wechseljahre? Auch solche Reaktionen überraschten mich. Ich habe die Lebensmitte bis jetzt selten als peinlich oder unangenehm empfunden. Irritierend finde ich eher, dass irgendwann ab dreißig bei jedem Geburtstagsfest irgendein Spaßvogel verlässlich sein Glas hebt und mit dem Geburtstagskind auf ein fiktives Alter anstößt, das es längst hinter sich gelassen hat. Wenn es für die Pubertät zuweilen heißt, sie beginne, wenn die Eltern schwierig werden, gilt für die Phase der mittleren Jahre offenbar, dass sie anfängt, wenn andere einen jünger reden, als man ist — und das als Kompliment verstehen.
Dabei kommen mir meine frühen Erwachsenenjahre im Rückblick um einiges beschwerlicher vor als die Zeiten, in denen ich mich heute befinde. Beruflich war zwischen zwanzig und Mitte dreißig noch vieles offen, um nicht zu sagen: unfertig. Die Konkurrenz in den Bereichen, die mich beruflich interessierten, war hart, die meisten mir vorschwebenden Stellen waren befristet. Ich erwog, mich ins Ausland zu bewerben, um noch etwas von der Welt zu sehen und meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Zugleich hatte ich das jahrelange WG-Leben eben erst gegen die erste eigene Wohnung eingetauscht und genoss meine Freiheit in vollen Zügen. Allerdings wollte ich auch nicht für immer allein leben. Die Frage nach eigenen Kindern begann mich umzutreiben, und ich fürchtete das viel zitierte Ticken der biologischen Uhr. Es kam mir vor, als müsste ich unzählige Dinge gleichzeitig tun und als würden die Ansprüche, denen ich gerecht werden sollte, zu haushohen Türmen anwachsen, zwischen denen ich ängstlich saß und immer weniger wusste, was ich selbst wollte.
Je mehr ich dann später auf die vierzig und damit auf die statistische Mitte zuging, umso klarer konturiert erschien mir dagegen mein Leben. Einige Fragen hatten sich mittlerweile erledigt, zahlreiche Entscheidungen hatte ich unumkehrbar getroffen. Die Schriftstellerin Lindsey Mead schreibt: »Jetzt, wo wir in den Vierzigern sind, sind viele der Fragen, die uns in früheren Jahrzehnten beschäftigt haben, beantwortet. Das ist natürlich wunderbar und traurig zugleich, denn mit den Antworten schließen sich auch Türen.«3 Die sich allmählich schließenden Türen lösten bei mir aber nur selten Angst oder Schmerz aus. Ich stellte sie mir stets als hinter mir liegend vor, während ich vorwärtsschreitend in neue Räume eindrang, die ich meist freudig gegen das eintauschte, was mir zeitgleich entschwand.
Das hat sich seither nicht entscheidend verändert. Zwar vermisse ich heute bereits einen Menschen schmerzlich, der unerwartet früh verstorben ist — der Tod hat Einzug gehalten in mein Leben. Und während sich befreundete Paare bei Partys früher noch aufteilten, um die Kinderbetreuung zuhause sicherzustellen, sind einige von ihnen mittlerweile für immer getrennt. Bei Einladungen gilt es nun, auf Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Das Leben erscheint mir heute definitiv brüchiger als noch mit dreißig, aber in vielerlei Hinsicht auch tiefer und kostbarer. Immer stärker begann mich angesichts dessen in den letzten Jahren die Frage umzutreiben, worin die empfundene Kostbarkeit und Tiefe bestehen und was wir womöglich gewinnen, wenn wir älter werden. Denn hoffentlich summieren sich die Jahre nicht nur, sondern es lässt sich in ihnen und vor allem auch an ihnen reifen. Bloß: Was bedeutet das eigentlich, und wozu reifen wir in unseren mittleren Jahren heran?
Natürlich gehören zu dieser Lebensphase auch schmerzliche Momente, die mit der schlichten Tatsache zu tun haben, dass das Älterwerden auch körperlich spürbar wird: Wer kann mit Mitte vierzig noch problemlos Nächte durchfeiern und anderntags taufrisch am Schreibtisch sitzen? Die Vorstellung, nur mit Zelt und Schlafsack loszuwandern, hat zwar nach wie vor etwas Romantisches, in erster Linie aber etwas Unbequemes. Und wird einem in der Drogerie plötzlich ein Muster für eine Pflege für »reife Haut« überreicht, ist das zugegebenermaßen nicht der erbaulichste Moment des Tages. Zwar heißt es lapidar, das Beste komme zum Schluss. Aber das stimmt wohl nur, wenn man sich das Leben wie ein orchestriertes Feuerwerk denkt, in einer bombastischen Steigerung, das seinen Höhepunkt im Finale erreicht. In aller Regel macht das pralle Leben mit zunehmendem Alter aber eher dem Leisen und Zerbrechlichen Platz, was sich zwar im Einzelfall als perfekte Vollendung entpuppen kann, mitten im Leben aber selten als erstrebenswertes Ziel erscheint, auf das wir begeistert zusteuern. Wer das Leben liebt, wird öfters bedauern, dass es allmählich, aber unwiederbringlich vorüberzieht und das Reservoir an noch verbleibenden Jahren schwindet.
Allerdings spreche ich, wenn ich »Lebensmitte« sage, nicht vom hohen Alter. Noch bleibt den meisten, die in dieser...
Erscheint lt. Verlag | 22.7.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Alter • Altern • Eilenberger • Glück • Heimat • Kind • Körper • Krise • Lebensfreude • Perry • Positiv • Schweiz • Sinn • Stress • Therapie |
ISBN-10 | 3-446-28088-X / 344628088X |
ISBN-13 | 978-3-446-28088-5 / 9783446280885 |
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