Zwischen Intuition und Wissenschaft. Ein Versuch der soziologischen Interpretation von Oswald Spenglers Morphologie der Weltgeschichte (eBook)
100 Seiten
Diplomica Verlag GmbH
978-3-96146-124-0 (ISBN)
Froll Vladimirow wurde 1974 im südrussischen Badeort Sotschi geboren. Sein Studium als Geschichtslehrer an der Herzen-Universität in Sotschi schloss er im Jahr 1996 mit Auszeichnung ab. In dieser Zeit begann sein Interesse für das Werk von Oswald Spengler. Die Faszination von Spenglers Gesellschaftsprognosen war die Hauptmotivation für das Soziologiestudium an der Universität Konstanz, das der Autor im Jahre 2009 mit dem akademischen Grad des Magister Artium erfolgreich abschloss. Nach seiner Rückkehr nach Russland widmete sich F. Vladimirow der Erforschung eines weiteren Aspekts von Spenglers Werk: dem Thema der 'russischen Vorkultur'. Das vorliegende Buch stellt das Ergebnis einer methodologischen Vorarbeit für die Erschließung der Spenglerschen Texte dar.
Textprobe: Kapitel 1: Intuition gegen Analyse Zu den Vordenkern seines intuitivistischen Paradigmas zählte Spengler Nietzsche und in noch höherem Grade Goethe: Von Goethe habe er die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen. Von Goethe übernahm Spengler auch den zentralen für seine Theorie 'Morphologie'-Begriff. Morphologische Erkenntnismethode lässt sich als ein kognitiver Modus interpretieren, der die Korrespondenz zwischen extra- und intrapsychischen Phänomenen voraussetzt und den Forscher zur Anschauung der einheitlichen organischen Formen hinter den einzelnen Natur- und Sozialphänomenen befähigt. Morphologie war ursprünglich eine Art Goethes Antwort auf das Verlangen des wissenschaftlichen Menschen, 'die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. [...] Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen, welche wir die Morphologie nennen möchten.' (J.W. Goethe: Botanik [1807] in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 17. Zürich 1977, S. 13. In: Felken 1988:52) Konstitutiv für die Morphologie ist also Einfühlung des erkennenden Subjekts in die Ganzheit der Phänomene statt deren analytischen Zerlegung in Elemente. Goethe glaubte durch den intuitiven Vergleich der variierenden biologischen Formen einem 'Typus' bzw. einem 'Urphänomen' als einer idealen Form beikommen zu können. Spengler überträgt dieses Prinzip auf die Historie, wo er hinter der Vielfalt der miteinander korrelierenden politischen, wirtschaftlichen, technischen, sozialen, künstlerischen u. a. Erscheinungen eine morphologische Totalität, eine Kultur, erkannt zu haben glaubt. Das Projekt Morphologie der Weltgeschichte radikalisiert somit die epistemologischen Annahmen bisheriger intuitivistisch-historischen Ansätze, etwa die des 'Ahndungsvermögen(s)' - wie es Humboldt forderte oder des 'Akt(es) des Verständnisses' - welcher nach Droysen 'als unmittelbare Intuition' erfolge, 'als tauche sich die Seele in Seele, schöpferisch wie das Empfängnis in der Begattung.' (J.G. Droysen: Historik. München/Wien 1977, S. 329) Spenglers Morphologie unterscheidet sich jedoch sowohl von Goethe als auch von den Repräsentanten des Historismus dadurch, dass sie das intuitive Prinzip vom rationalen abkoppelt und zur historischen Erkenntnismethode schlechthin erhebt. Felken erblickt in dieser Gegenüberstellung von Intellekt und Intuition Spenglers Nähe zur Lebensphilosophie: 'Der Gegensatz zwischen einer schöpferischen Einfühlung und einem in der bloßen Extension der Erscheinung verharrenden Intellekt wurde von Bergson bis Ludwig Klages die stereotype Formel für den Angriff auf die wachsende Rationalisierung der Lebenswelt in der Moderne.' (Ebd., S. 51). Dilthey-Schüler Manfred Schröter, durch den Spengler an die Philosophie des Lebens herangeführt wurde, ordnet den 'Untergang des Abendlandes' als 'intellektuelle Blüte' und gleichzeitig Abschluss des sich metaphysisch ausdrückenden 'Kulturbewusstseins einer einheitlichen geistigen Gemeinschaft' einer viel älterer Tradition zu. In diesem 'Bogen des Entwicklungsganges der neueren Metaphysik' folgen 'drei entscheidende, im Genius sich aussprechende Entwicklungsstufen' aufeinander: '...Die aufsteigende Dreiheit Jakob Boehme, Leibnitz, Kant, die Dreiheit der idealistischen Vollendungshöhe Fichte, Schelling, Hegel und die absteigende Dreiheit Schopenhauer, Nietzsche, Spengler.' (Schröter 1949:227) Die Originalität der Spenglerschen Theorie und zugleich ihr eklektischer Charakter machen deren Rückführung auf eine bestimmte Tradition problematisch, mag sie so weit gefasst sein wie die späte deutsche Metaphysik oder unmittelbar wie die Lebensphilosophie. Die Hervorhebung des metaphysischen Elements in Spenglers Theorie und dessen lebensphilosophischen Fundierung sind aber insofern einleuchtend, als sie jenen radikalen Gegensatz zwischen Intuition und Analyse besser verstehen lässt, welchen Spengler der Philosophie Goethes zuschreibt. Im Unterschied zum 20. Jahrhundert stand Metaphysik zur Zeit Goethes nicht unter Generalverdacht der Unwissenschaftlichkeit, und Anschauung als Erkenntnismethode wurde noch nicht durch Empirismus ausdifferenzierter Wissenschaft delegitimiert. Goethe suchte eher nach synthetischen Erkenntnismöglichkeiten und dem Ausgleich verschiedener kognitiven Erfahrungen als nach deren Gegenpositionierung. Das Streben nach einer einheitlichen Erkenntnis war eine der Triebkräfte der Aufklärung. Erst in der späten Moderne musste dieser Anspruch zugunsten der Aufspaltung in rationalistische und intuitivistische Tradition aufgegeben werden, von welchen die letztere immer an Einfluss verlor. Es musste eher die lebensphilosophische Auseinandersetzung mit der empirischen Wende in der Wissenschaft als die eigentlichen Ideen Goethes gewesen sein, die Spengler für diese späte Problematik sensibilisierten. Er projizierte den erkenntnistheoretischen Konflikt der reifen Moderne in die früheren Epochen zurück und stilisierte Goethe samt Plato und Aristoteles zum Symbol einer Intuition/Analyse-Dichotomie: 'Die Stellung Goethes in der westeuropäischen Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden. Man nennt ihn nicht einmal, wenn von Philosophie die Rede ist. Unglücklicherweise hat er seine Lehre nicht in einem starren System niedergelegt; deshalb übersehen ihn die Systematiker. Aber er war Philosoph. Er nimmt Kant gegenüber dieselbe Stellung ein wie Plato gegenüber Aristoteles, und es ist ebenfalls eine missliche Sache, Plato in ein System bringen zu wollen. Plato und Goethe repräsentieren Philosophie des Werdens, Aristoteles und Kant die des Gewordenen. Hier steht Intuition gegen Analyse.' (Spengler 2003:68, Fußnote 1).
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2018 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-96146-124-4 / 3961461244 |
ISBN-13 | 978-3-96146-124-0 / 9783961461240 |
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