Deutschland als multireligiöser Staat - eine Herausforderung (eBook)
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403653-3 (ISBN)
Hans Markus Heimann, geboren 1968, ist seit 2008 Professor für Öffentliches Recht und Staatstheorie an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Zuletzt erschienen von ihm ?Islamischer Religionsunterricht und Integration? (2011) und das Lehrbuch ?Staatsrecht II: Grundrechte? (2013).
Hans Markus Heimann, geboren 1968, ist seit 2008 Professor für Öffentliches Recht und Staatstheorie an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Zuletzt erschienen von ihm ›Islamischer Religionsunterricht und Integration‹ (2011) und das Lehrbuch ›Staatsrecht II: Grundrechte‹ (2013).
ein gut lesbares Buch über Deutschlands Religionsverfassung
Wer also differenzierte Einschätzungen sowie einen gut lesbaren Überblick zum Religionsverfassungsrecht sucht - und so etwas haben viele nötig -, der ist hier gut bedient.
ein für ein breites Publikum gedachtes informatives, lesbares und thesenreiches Buch
detailgenau, wohlstrukturiert und gut lesbar.
provozierend unaufgeregt […] Mag die Öffentlichkeit noch so erregt diskutieren, Heimann bleibt gelassen.
Verständlich geschrieben, trotzdem kein leichter Stoff.
5. Toleranz
Oftmals wird in der allgemeinen Diskussion auch der Begriff der Toleranz als Handlungsmaßstab für Konflikte mit religiöser Fundierung genannt. Toleranz kann jedoch nicht als Leitschnur für staatliche Entscheidungen in derartigen Konfliktsituationen dienen, selbst wenn die zugrundeliegende Intention in die richtige Richtung weist. Toleranz kann kein Schlüssel zur staatlichen Bewältigung multireligiöser Konfliktlagen sein, gleichgültig welcher Konzeption von Toleranz – auf der Basis von Erlaubnis, Koexistenz, Respekt oder Wertschätzung[18] – gefolgt wird. Sie ist ein außerrechtlicher Maßstab, das Bundesverfassungsgericht darf eine Entscheidung über die Zulässigkeit glaubensgeleiteter Verhaltensweisen jedoch nur anhand des Grundgesetzes treffen. Dort ist Toleranz kein expliziter Regelungsgegenstand. Das Bundesverfassungsgericht bemüht sie zwar in zahlreichen Entscheidungen als Begründungselement. Es stützt sich dabei jedoch nicht auf ein interpretativ entwickeltes Toleranzprinzip, sondern setzt dieses lediglich »als traditionelles, aus der gedanklichen Gewohnheit gewonnenes Klischee, als nicht näher konkretisierte formelhafte Wendung« ein, so dass es zur »substanzlosen Hülle«, zur »leeren Phrase« wird.[19] Die Erwähnung des Begriffs wird sogar darauf zurückgeführt, dass Toleranz eben ein »positiv klingendes Wort« sei.[20] Die neuere Staatsrechtslehre kann mit dem Begriff der Toleranz wenig anfangen: Toleranz wird allenfalls als ganz allgemein der Verfassung zugrundeliegendes Prinzip angesehen, das aber keine konkrete rechtliche Bedeutung für die Entscheidung von Konflikten entfalten kann.[21]
Verfassungsrechtlich betrachtet, krankt der Begriff der Toleranz als Maßstab für die Beurteilung staatlichen Handelns an dem Anachronismus, für eine vergangene Staatsform mit einem ganz anderen Verhältnis des Staates zur Religion geschaffen zu sein: Der moderne Grundrechtsstaat ist in seinem Handeln auf dem Feld von Glauben und Religion nämlich gerade nicht tolerant. Der Anachronismus hat seinen Grund darin, dass Toleranz nach allgemeiner Auffassung eine Ablehnungskomponente enthält. Die tolerierten Praktiken oder Überzeugungen werden in einem normativen Sinn als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt; wäre dies nicht der Fall, hätte man es begrifflich nicht mit Toleranz, sondern entweder mit Indifferenz oder sogar mit Bejahung zu tun. Selbst in Respekt- oder Wertschätzungskonzeptionen ist eine Ablehnungskomponente enthalten, Respekt und Wertschätzung können also nur beschränkt oder reserviert sein. Der Grund für die Herausbildung des Toleranzgedankens war die nichtplurale Herrschaftsstruktur des vormodernen Staates, der eine Antwort auf die grundlegenden religiösen Differenzen innerhalb der Gesellschaft – insbesondere infolge konfessioneller Spaltungen – finden musste. Im Gegensatz dazu und auch anders als der noch nicht grundrechtlich geprägte moderne Verfassungsstaat hat der moderne Grundrechtsstaat in religiösen und weltanschaulichen Fragen aber keine eigene Auffassung vom richtigen Glauben. Er ist eben neutral, jede Religion und jede Weltanschauung ist gleichberechtigt.
Eine Ausnahme vom Prinzip der Neutralität zeigt sich für den deutschen Staat allein dort, wo er durch das Grundgesetz ermächtigt ist, eine eigene Vorstellung davon, was richtig ist, zu entwickeln. Dies ist der Bereich, der üblicherweise mit der Formel der Bewahrung der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« umschrieben wird. Er betrifft die Sicherung der Existenz des Verfassungsstaates selbst. Diese umfasst die Grundlagen der grundgesetzlichen Ordnung wie beispielsweise die Achtung der Menschenwürde und die grundsätzliche Geltung der Grundrechte, Gewaltlosigkeit, die Achtung vor dem Leben, die Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaats mit der Achtung vor dem Gesetz und vor der Mehrheitsentscheidung sowie der Rücksicht auf Minderheiten.[22] Man mag dies als »Ideologie« des Grundgesetzes bezeichnen.[23] Doch Toleranz hat auch hier keinen Platz: Bestrebungen, die Demokratie zu beseitigen, darf der Staat des Grundgesetzes nicht tolerieren – auch wenn seine konkreten Abwehrhandlungen stets einem politischen Ermessen unterliegen und nicht jede zuweilen geübte Handlungszurückhaltung mit Toleranz verwechselt werden darf. Wenn also die Bundesregierung nicht für jede offensichtlich verfassungsfeindliche Partei einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht stellt, wählt sie vielleicht nur das aus ihrer Sicht besser geeignete Mittel, verfassungsfeindliche Bestrebungen unter Kontrolle zu halten. Für Toleranz bleibt bei staatlichem Handeln im modernen Verfassungsstaat also kein Raum. Kurz: Wo dem freiheitlichen Staat – wie in Angelegenheiten der Religion – eine eigene Meinung nicht gestattet wird, ist er nicht tolerant, sondern neutral, während er dort, wo ihm die Verfassung eine eigene inhaltliche Position auferlegt, gerade nicht tolerant sein darf.
Die Bewahrung der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« bedeutet aber nicht, dass sich Religionen und religionsgeleitete Handlungsweisen ihrerseits nach den Grundrechten oder aus ihnen ableitbaren Werten zu richten hätten. Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundgesetz zwar – ziemlich missverständlich – als »Werteordnung« bezeichnet, bezog sich dabei aber nur auf das staatliche Handeln.[24] Die Normen des Grundgesetzes sind zuallererst Maßstab für den Staat, nicht aber für das private Leben des Einzelnen. Gerade mit der Religionsfreiheit schützt das Grundgesetz die Freiheit, sich für ein eigenständiges moralisches System zu entscheiden. Allenfalls mittelbar muss die private Lebensgestaltung die Grundrechte anderer beachten. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes haben nämlich nicht nur die klassische Funktion, Bedrohungen abzuwehren, sondern verpflichten den Gesetzgeber auch zum Schutz dieser Ordnung: Der Staat ist nicht nur zur Beachtung der Religionsfreiheit in seinem eigenen Handeln verpflichtet, sondern muss sie grundsätzlich auch vor unerträglichen Beeinträchtigungen schützen, die ihren Ursprung außerhalb der staatlichen Sphäre haben. Auf eine solche grundrechtliche Schutzpflicht lässt sich beispielsweise die Strafbarkeit der Störung der Religionsausübung in § 167 STGB stützen. Insofern kann die »Werteordnung« des Grundgesetzes Verbindlichkeit für den Einzelnen nur über die Konkretisierungen des Gesetzgebers oder über gerichtliche Entscheidungen bei sogenannten »unbestimmten Rechtsbegriffen« (also solchen, deren Regelungsprogramm sehr offen ist, wie zum Beispiel in § 138 BGB die »guten Sitten«) erlangen.
Umstritten ist, ob der Aspekt der Schutzpflichtwirkung eines Grundrechts außer für Freiheitsgrundrechte auch für Gleichheitsgrundrechte gilt. Dabei gilt das Augenmerk jenen Merkmalen wie dem Geschlecht, die dem besonderen Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG unterliegen. Ein solches Verständnis hätte auch für die Religionsfreiheit weitreichende Folgen. Wenn die Glaubenslehre einer Religion für Männer und Frauen unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft vorschreibt: Kann dies noch Bestand haben, oder würde hier die klare staatliche Position zur Werteordnung die Religionsfreiheit entsprechend verengen? Also: Gilt die Religionsfreiheit nur noch bei Beachtung der Gleichbehandlung von Mann und Frau? Politisch und für weite Teile der Gesellschaft ist ein sehr traditionelles Verständnis der Rolle von Mann und Frau, wie es letztlich auch im Ausschluss von Frauen vom Priesteramt in der katholischen Kirche zum Ausdruck kommt, nur schwer erträglich. Ein Beispiel: Wenn ein Gastprediger in einer Neuköllner Moschee die Gläubigen darüber aufklärt, weshalb aus Sicht des Islam nur eine dem Mann dienende Rolle der Frau richtig sei, und dies exemplarisch verdeutlicht, sprechen sich empörte Berliner Landespolitiker für ein Predigtverbot aus.[25] Gesellschaftliche Kritik an derartigen Vorstellungen ist unbedingt berechtigt, doch geht es hier um die Zulässigkeit eines staatlichen Eingriffs. Die Gesellschaft muss sich fragen, inwieweit sie vom Mainstream abweichendes Verhalten zu tolerieren bereit ist und nicht mit einem rechtlichen Verbot belegen möchte. Prinzipiell ist es für einen freiheitlichen Staat sehr fragwürdig, die Ausübung von Freiheitsgrundrechten an den Gleichheitsvorstellungen für staatliches Handeln zu messen. Dies gilt mit Sicherheit für den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG, der ansonsten das Einfallstor für alle möglichen jeweils aktuellen Gleichheitsvorstellungen zu Lasten individueller Freiheitsrechte sein könnte. Dies sollte aber weiterhin auch für die besonderen Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG gelten, selbst wenn sich diese im Kern auf die Menschenwürde zurückführen lassen. Es macht nämlich einen grundlegenden Unterschied, ob man die Religionsfreiheit gegenüber einem Gleichheitsrecht oder einem Freiheitsrecht abwägt: Ein Verhalten, dass einer Gleichheitsvorstellung für staatliches Handeln widerspricht, ist Ausdruck der Inanspruchnahme von Freiheit des Einzelnen. Kollidiert es mit einem anderen Freiheitsgrundrecht, ist es gerade die Freiheit, die hier geschützt werden muss. Jede Form der Religionsausübung, so fremd sie uns vorkommen mag, hat sich nicht nach dem Grundgesetz zu richten, solange sie...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Beschneidung • Burka • Deutschland • Einwanderung • Grundgesetz • Islam • Kirchensteuer • Kopftuch • Kruzifix • Muslim • Religion • Religionsfreiheit • Religionsgemeinschaft • Religionsrecht • Religionsunterricht • Sachbuch • Staatsrecht • Vielfalt |
ISBN-10 | 3-10-403653-5 / 3104036535 |
ISBN-13 | 978-3-10-403653-3 / 9783104036533 |
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