Die Vergeltung - Rhoon 1944 (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30896-9 (ISBN)
Jan Brokken, geboren 1949, gehört zu den wichtigsten Schriftstellern der Niederlande. Er wuchs als Sohn eines Pfarrers im niederländischen Rhoon auf, nachdem seine Eltern kurz zuvor aus Indonesien zurückgekehrt waren. Er arbeitete für die Zeitungen Trouw und Haagse Post. 1985 debütierte er mit dem Roman »De provincie« und hat seitdem ein vielfach preisgekröntes Werk vorgelegt, das neben Romanen und Erzählungen auch literarische Sachbücher umfasst. Jan Brokken lebt in Amsterdam und an der franzöischen Atlantikküste, seine Bücher erscheinen in elf Sprachen. Bei Kiepenheuer & Witsch erschien zuletzt »Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung«, ein Nummer-1-Bestseller in den Niederlanden, der in Deutschland glänzend besprochen wurde und auf der SWR-Bestenliste stand.
Jan Brokken, geboren 1949, gehört zu den wichtigsten Schriftstellern der Niederlande. Er wuchs als Sohn eines Pfarrers im niederländischen Rhoon auf, nachdem seine Eltern kurz zuvor aus Indonesien zurückgekehrt waren. Er arbeitete für die Zeitungen Trouw und Haagse Post. 1985 debütierte er mit dem Roman »De provincie« und hat seitdem ein vielfach preisgekröntes Werk vorgelegt, das neben Romanen und Erzählungen auch literarische Sachbücher umfasst. Jan Brokken lebt in Amsterdam und an der franzöischen Atlantikküste, seine Bücher erscheinen in elf Sprachen. Bei Kiepenheuer & Witsch erschien zuletzt »Die Vergeltung. Rhoon 1944. Ein Dorf unter deutscher Besatzung«, ein Nummer-1-Bestseller in den Niederlanden, der in Deutschland glänzend besprochen wurde und auf der SWR-Bestenliste stand. Helga van Beuningen, geboren 1945, lebt in Schleswig-Holstein. Sie übersetzt aus dem Niederländischen, u.a. A.F.Th. van der Heijden, Marcel Möring, Margriet de Moor und Cees Nooteboom. Für ihre Arbeit wurde sie u.a. mit dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet.
Eins
Sie hatte ein breites Gesicht, offen wie ein Buch. Ihre Augen verrieten eine Lebenslust, die nicht im Einklang mit dem grauen Ernst ihrer Umgebung war. Wenn sie morgens aus dem Bett kroch und aus dem Dachfenster schaute, sah sie, dass das Land unter Wasser stand, aus dem drei Meter lange Pfähle ragten, die die Landung alliierter Fallschirmjäger und Amphibienflugzeuge verhindern sollten. Alles hatte die Farbe von Schlamm – auch die Obstgärten waren überflutet.
In der Küche schlang sie, weil es keinen Zwieback gab, einen mehligen Apfel hinunter; der Holundertee musste ungesüßt getrunken werden. Es blieb schummerig in dem kleinen Haus, das wie ein Pickel am Deich klebte; erst am späten Nachmittag fiel auf der Rückseite ein schmaler Lichtstreifen herein. Dennoch funkelten ihre Augen, als sähen sie das kreisende Riesenrad auf dem Jahrmarkt.
Ihr jüngster Bruder beschrieb sie als Frohnatur und Jedermannsfreund. Letzteres wage ich zu bezweifeln. Sie suchte nach einem Blick, der länger als eine Sekunde auf ihr ruhte, nach einer Reaktion, einem Zeichen von Beachtung, notfalls von Missbilligung. Wenn man das zehnte von elf Kindern ist, steht man weit hinten in der Reihe: Sie wollte wahrgenommen werden.
Sandrien de Regt war im Herbst 1944 ein auffallendes Mädchen, vierzehn Jahre alt. Ernst Friedrich Lange, der seine gesamte Freizeit mit ihr verbrachte und sich nicht einmal die Zeit nahm, einen Brief nach Hause zu schreiben, gestand ihr jeden Abend, wie hinreißend er sie fand. Er tat das mit einer Flut von Worten, die sie längst nicht alle verstand. Für einen Soldaten redete er viel, überschwänglich, blumig; es war, als wolle er sie seine Uniform vergessen machen, indem er sie unentwegt ansah und zu ihr sprach.
Attraktiv sei sie. Verführerisch. Wie eine Italienerin, behauptete er eines warmen Nachmittags, als er ohne besonderen Anlass ein Stück mit ihr spazieren ging. Sandrien hatte tatsächlich kurzes, festes, schwarzes Haar und ziemlich große, dunkle Augen. Doch fast alle Mädchen aus dem Dorf hatten das, was Ernst wohl noch nicht aufgefallen war. Seit er Ende August ein paar Häuser weiter einquartiert worden war, hatte er nur für sie Augen gehabt. Dass das Dorf aus Deichen bestand, aus eingedämmten Flüssen, Wassergräben und Schleusen, musste er offenbar erst noch entdecken.
Ernst Lange war selbst alles andere als blond, allerdings konnte mir niemand sagen, ob seine Haarfarbe stark von Sandriens nicht einmal besonders auffällig dunklem Schopf abwich. Ich nehme an, dass er kastanienbraune Augen hatte. Ansonsten tat Ernst Lange seinem Namen alle Ehre an: Er war lang und ernst.
Manchmal stelle ich ihn mir nervös und argwöhnisch vor, musste er sich doch erst noch daran gewöhnen, Feind in einem Land zu sein, dessen Sprache ihm wie ein merkwürdiger Dialekt vorkam. In anderen Augenblicken hat er in meiner Vorstellung die siegesbewusste Haltung eines jungen Mannes, dem das Glück in den Schoß gefallen ist. Kurz nach der Ankunft das hübscheste Mädchen des Dorfes in den Armen halten zu dürfen ist nicht jedem Soldaten vergönnt.
Ich weiß es nicht. Ich räume das lieber von vornherein ein, um zu zeigen, dass diese Geschichte zwischen Fakten und Vermutungen hin- und herpendelt. Nicht, dass ich die Bilder schöner und die Gefühle stärker darstellen wollte, das würde dem bitteren Charakter dieser Geschichte zuwiderlaufen. Vielmehr habe ich Tausende von Seiten mit Notizen, Exzerpten, Dokumenten, Akten, Zeugenvernehmungen und Augenzeugenberichten studiert, um mir ein zutreffendes Bild von den Personen und Situationen zu machen. Manche Fakten lassen sich allerdings nicht mehr ermitteln.
Von allen Personen in diesem Buch ist Ernst Friedrich Lange jahrelang die unbekannteste für mich geblieben, die verschwommenste, der junge Mann, dem die Nebenrolle zukommt. Absolut sicher bin ich mir allerdings darin, dass Lange ein baumlanger Kerl war, wesentlich größer als seine Kameraden, die höchstens eins achtzig maßen. Diese Größe sollte ihm zum Verhängnis werden.
Was sein Alter betrifft, habe ich lange im Dunkeln getappt. In verschiedenen Polizeiberichten steht schwarz auf weiß, dass Ernst siebzehn war, als er in das südholländische Dorf Rhoon abkommandiert wurde, doch ich wusste anfangs nicht, ob er siebzehn Jahre und zwei Monate alt war oder siebzehn und elf Monate. Es ist schließlich ein großer Unterschied, ob er ein Junge am Ende der Pubertät war oder ein fast erwachsener Bursche. An keiner Stelle wird in den niederländischen Dokumenten sein exaktes Geburtsdatum genannt, lediglich: geboren im Jahr 1927. Das war, wie sich später herausstellte, nicht richtig. Vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde mir ein anderes Geburtsjahr genannt: 1926. Mitsamt der Angabe von Tag und Monat: 24. Juli. In jenem Oktober 1944 war Ernst Lange also achtzehn Jahre und zweieinhalb Monate alt.
In den offiziellen Papieren ist auch seine Konfession vermerkt: evangelisch. Als Protestant wird er eher im Westen oder Norden Deutschlands aufgewachsen sein als in Bayern. In Nordrhein-Westfalen, meinten einige Dorfbewohner, die sich an Ernst Lange noch schwach zu erinnern glaubten. In Essen. Die niederländischen Dokumente schweigen zu seinem Geburtsort.
Eine Nachfrage beim Militärarchiv in Freiburg ergab als Geburtsort Jörnsdorf im Kreis Weimar. Kreis Weimar heißt inzwischen Kreis Weimarer Land, doch kein Dorf oder Weiler hat dort einen Namen, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit Jörnsdorf hätte. Unter Ernst aus Essen stelle ich mir einen anderen jungen Mann vor als unter Ernst aus Weimar. Den Ernst aus Weimar schätze ich strenger ein.
Alles falsch. Ernst Friedrich Lange, so stellt sich heraus, stammt aus Jörnstorf, mit t anstatt d. Ein einziger Buchstabe Unterschied, und ich sehe ein anderes Gesicht vor mir. Jörnstorf liegt im Nordosten Deutschlands, in Mecklenburg-Vorpommern, nicht weit von der Ostsee entfernt. Das macht Ernst für mich wesentlich sympathischer, als wenn er ein Deutscher aus Thüringen gewesen wäre. Als zwölfjähriger Junge muss er häufig zum Strand geradelt sein oder in die nächstgelegene Hafenstadt – Rostock –, um allein oder mit seinem Vater den Schiffen zuzuschauen.
Es ist aber genauso gut möglich, dass er bereits beim Gedanken an Wellen seekrank wurde und die Marine als Strafe empfand. Von ihm sind keine Briefe erhalten geblieben, und selbst wenn, so hätte er darin den Markigen spielen können.
Ein Militärangehöriger hat eine Nummer, gehört einer Teilstreitkraft an und einer Einheit. Solche Angaben scheinen wertvoller, als sie tatsächlich sind. Was sagt es über Lange aus, dass er der 6. Kompanie der 20. Schiffsstammabteilung (SStA) der Land-Kriegsmarine angehörte und dass in die Erkennungsmarke, die er an einer Kette um den Hals trug, die Nummer 38190/44D eingraviert war? Nur dies: Die Zahl nach dem Schrägstrich steht für das Jahr seines Dienstantritts: 1944. Aber das wusste ich bereits aus einer anderen Quelle.
Die Marke diente der Identifizierung. Ernst wurde damit beigesetzt, zunächst in Rotterdam-Crooswijk und vier Tage danach auf dem deutschen Militärfriedhof Ysselsteyn in der Provinz Limburg. Dort liegt er zwischen 32000 Deutschen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden gefallen sind. Im Block BW, Reihe 5, Grab 103. Merkwürdig, dass ich von Anfang an wusste, wo sein Grab lag, als dürfte ich nur über seinen Tod ein paar Einzelheiten in Erfahrung bringen, nicht aber über seine Jugend und seine Schuljahre unter dem Naziregime.
Wie jeder deutsche Wehrmachtsangehörige hatte Ernst Lange eine Feldpostnummer, M (für Marine) 64802 (Nachrichten-Kompanie Führungsstab Nordküste). Unter dieser Nummer ist nie Post für ihn eingegangen.
Ernst Lange war Matrose in Ausbildung. Nicht verwunderlich, das gesamte junge Kanonenfutter, das Hitler 1944 für seinen totalen Krieg benötigte, befand sich »in Ausbildung«. »Matrose« ist eher eine falsche Fährte denn ein nützlicher Hinweis: Gut und gern die Hälfte der Mannschaften der Kriegsmarine hat nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt. Ernst gehörte zu den Truppenteilen, die gemeinhin als »Landmarine« bezeichnet wurden. Das Fußvolk dieser Landmarine musste Häfen, Wasserstraßen, Brücken und mögliche Landeplätze der Alliierten bewachen.
Die meisten der fast achtzehnjährigen Jungen meldeten sich freiwillig zur Kriegsmarine, um einer Einberufung zur Waffen-SS oder zum Heer zu entgehen und damit einem Marschbefehl ohne Rückkehr in Richtung Ostfront. Die Landmarine überwachte die Küste von Bremen bis Biarritz. Nach dem D-Day war auch das kein Zuckerschlecken, doch theoretisch hatte ein Matrose der Landmarine eine größere Überlebenschance als die Soldaten, die in Schnee und Schlamm auf Einheiten der Roten Armee stießen.
Ernst Lange wuchs in ausreichender Nähe zu Polen auf, um die Winter an der Ostfront zu fürchten, aber ob er sich tatsächlich freiwillig zur Marine in Rostock gemeldet hat, vermag kein Archivdienst mir anhand eines Dokuments nachzuweisen.
Bei Sandrien bleiben weniger Fragezeichen. Geboren am 11. August 1930, war sie zu dem Zeitpunkt, da ich sie hier auftreten lasse, vierzehn Jahre und zwei Monate alt. Sie sah mindestens zwei Jahre älter aus, habe ich von verschiedenen Zeugen erfahren. Sie war nicht kleiner als ihre Schwester Dien, von der sie neun Jahre trennten. Im Übrigen waren beide nicht besonders groß: 1,71. Sandrien musste zu Ernst aufblicken, der sie um sechzehn oder siebzehn Zentimeter überragte.
Damals wie heute ist Sandrien kein geläufiger Name für ein protestantisches...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2015 |
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Übersetzer | Helga van Beuningen |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 1944 • Besatzung • Dokumentation • Ermittlung • Kriegsverbrechen • Kriegs-Verbrechen • Rekonstruktion • Rhoon • Rhoon 1944 • Sabotage • Verbrechensaufklärung • Vergangenheit • Vergeltung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-462-30896-3 / 3462308963 |
ISBN-13 | 978-3-462-30896-9 / 9783462308969 |
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