Das Dritte Reich (eBook)
756 Seiten
Pantheon Verlag
978-3-641-30694-6 (ISBN)
Im ersten Band seiner gefeierten Trilogie zum Aufstieg und Fall des Dritten Reiches zeigt Richard J. Evans, wie die Folgen des Ersten Weltkriegs, die Schwäche der Weimarer Republik und die Weltwirtschaftskrise der nationalsozialistischen Bewegung den Weg zur Macht ebneten. Er widmet sich der moralischen und physischen Zerstörungskraft dieser politischen Bewegung, und schildert eindrücklich, wie die neuen Machthaber in den Jahren 1933 und 1934 die NS-Gewaltherrschaft gefestigt haben.
Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914« (DVA 2018), »Das Dritte Reich uns seine Verschwörungstheorien« (DVA 2021) und »Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910« (Pantheon 2022).
Deutsche Besonderheiten
I
Am Anfang war Bismarck. In verschiedener Hinsicht war er eine Schlüsselfigur für die Vorgeschichte des Dritten Reichs. Einerseits ließ der Kult, der nach seinem Tod mit ihm getrieben wurde, viele Deutsche die Wiederkehr jenes starken Führers ersehnen, für die der Name Bismarck stand. Andererseits besaßen seine Handlungen und seine Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Prägekraft. Bismarck war eine komplexe, widersprüchliche Gestalt – ebensosehr Europäer wie Deutscher, im gleichen Maße modern gesinnt wie traditionsverhaftet. Auch insofern wies der Fall Bismarck auf das verwirrende Gemenge aus Neuem und Altem voraus, das später für das Dritte Reich so bezeichnend sein sollte. Vergessen wir nicht, daß nur sechzig Jahre Bismarcks Reichsgründung 1871 von den triumphalen Wahlerfolgen der Nationalsozialisten zwischen 1930 und 1933 trennen. Daß es zwischen diesen zwei Ereignissen einen Zusammenhang gab, ist wohl unbestreitbar. Hier, und nicht in den weiter zurückliegenden religiösen Gesinnungen und hierarchisch geordneten Gemeinwesen der Reformationszeit oder im »aufgeklärten Absolutismus« des 18. Jahrhunderts, haben wir den ersten Augenblick der deutschen Geschichte vor uns, den man wirklich mit dem Aufkommen des Dritten Reichs 1933 in Verbindung bringen kann.1
1815 geboren, erwarb sich Otto von Bismarck Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruf eines Enfant terrible des deutschen Konservatismus. Er neigte zu krassen Äußerungen und gewaltsamen Handlungen und scheute nie davor zurück, mit drastischer Deutlichkeit auszusprechen, was vorsichtigere Leute nicht laut zu sagen wagten. Aus altem Adel stammend und verwurzelt in der grundbesitzenden Junkerklasse wie im Dienstadel, schien er für viele das Preußentum in seiner extremsten Form, mit allen seinen Vorzügen und Fehlern, zu verkörpern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er der hochmütige, brutale und uneingeschränkte Beherrscher der deutschen Politik. Für Liberalismus, Sozialismus, Parlamentarismus, Egalitarismus und viele andere Aspekte der modernen Welt empfand er unverhohlene Verachtung. Das alles tat aber dem geradezu mythischen Ruf keinen Abbruch, den Bismarck nach seinem Tod als Gründer des Deutschen Reiches erwarb. Bei der Feier seines hundertsten Geburtstags im Jahr 1915, als Deutschland mitten im Ersten Weltkrieg stand, vermochte selbst ein so humaner Liberaler wie der Historiker Friedrich Meinecke Trost, ja Begeisterung aus dem Bild vom »Eisernen Kanzler« als einem Mann der Macht und der Gewalt zu schöpfen:
»Es ist der Geist Bismarcks, der uns verbietet, es [ein Opfer deutscher Lebensinteressen] zu bringen, und zu dem heroischen Entschlusse drängt, den gewaltigen Kampf gegen Ost und West aufzunehmen, um mit Bismarck zu sprechen, ›wie ein starker Bursche, der zwei gute Fäuste zu seiner Verfügung hat, eine Faust für jeden Gegner‹.«2
Hier war der große, wegweisende Führer, den so viele Deutsche an diesem schicksalhaften Scheideweg in der Geschichte ihres Landes bitter vermißten. In den Jahren nach Kriegsende sollten sie das Fehlen eines solchen Führers noch schmerzlicher empfinden.
In Wirklichkeit war Bismarck ein viel komplexerer Charakter, als es dieses holzschnittartige, nach seinem Tod von seinen Anhängern verbreitete Bild vermuten läßt. Bismarck war nicht die tollkühne, zu jedem Risiko bereite Spielernatur, als die ihn eine spätere Legendenbildung hinstellte. Nur die wenigsten Deutschen erinnerten sich später daran, daß es kein anderer als Bismarck gewesen war, der das Wort von der Politik als der »Kunst des Möglichen« geprägt hatte.3 Er hatte immer wieder betont, daß seine Methode darin bestehe, den voraussichtlichen Gang der Ereignisse zu berechnen, um sie dann für seine Zwecke zu nutzen, oder wie er selbst es ausdrückte: »Der Staatsmann kann nichts selber schaffen, er kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört, dann vorzuspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen, das ist alles.«4 Bismarck wußte, daß er die Ereignisse nicht mit Gewalt in die ihm genehme Form bringen konnte. Wenn also – um eine andere seiner Lieblingsmetaphern zu verwenden – die Kunst der Politik darin bestand, das Schifflein des Staates durch den Strom der Zeiten zu steuern: in welche Richtung floß dann dieser Strom für Deutschland im 19. Jahrhundert?
Im 18. Jahrhundert war Mitteleuropa in unzählige autonome Staaten zersplittert. Manche, wie Bayern oder Sachsen, waren mächtig und straff organisiert; andere waren kleine oder mittelgroße »Freie Reichsstädte« oder winzige Fürstentümer und Ritterschaften, die aus kaum mehr bestanden als einer Burg mit bescheidenem Gutsbesitz. Zusammengefaßt waren sie alle im sogenannten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, gegründet 800 von Karl dem Großen und aufgelöst von Napoleon 1806 – das berühmte »tausendjährige Reich«, dessen Wiedererweckung unter anderen Vorzeichen das Ziel der Nationalsozialisten werden sollte. Als dieses Reich unter dem Gewicht der napoleonischen Invasionen zusammenbrach, war es in einem prekären Zustand. Versuche zur Errichtung einer hinreichend funktionstüchtigen Zentralgewalt waren gescheitert, und ehrgeizige Mitgliedsstaaten wie Österreich und Preußen neigten immer mehr dazu, ihr Gewicht auf eine Weise geltend zu machen, als ob das Reich überhaupt nicht existiere. Es war somit kein Wunder, daß das Reich so leicht zerstört werden konnte. Doch sein Mythos und sein Name lebten weiter und waren in den folgenden Jahrzehnten ständig in der deutschen Politik präsent. Der Begriff »Reich« beschwor für viele nicht nur das Bild eines einzelnen, von Deutschen dominierten Staates herauf, der über ganz Mitteleuropa herrschte, sondern noch vieles mehr: den vergangenen Ruhm des Römischen Reiches mit seinem Anspruch auf eine europäische oder gar Welthegemonie: das Königreich Gottes auf Erden; das ewige Reich des Himmels, das Rettung und Erlösung mit sich bringt. »Reich verwies auf die Grenzenlosigkeit« hat ein Historiker geschrieben.5 Der Name verschwand vorübergehend 1806, geriet jedoch nicht in Vergessenheit. Er sollte unter völlig anderen Umständen 1871 wiederbelebt werden.6
Sobald sich nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo 1815 die Wogen geglättet hatten, gründeten die europäischen Staaten eine Nachfolgerorganisation für das Reich in Gestalt des Deutschen Bundes, dessen Grenzen in etwa dieselben waren und zu dem auch, wie früher, die deutsch- und tschechischsprachigen Teile Österreichs gehörten. Das Polizeiregime, das der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich in ganz Mitteleuropa einführte, hielt den Deckel auf dem brodelnden Kessel liberaler und revolutionärer Umtriebe, die vor 1815 von den Franzosen angeheizt worden waren. Doch Mitte der 1840er Jahre artikulierte eine neue Generation von Intellektuellen, Juristen, Studenten und Lokalpolitikern nachdrücklich ihre Unzufriedenheit. Sie gelangten zu der Überzeugung, daß Deutschland seine vielen großen und kleinen Tyranneien am schnellsten los würde, wenn es die einzelnen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes beseitigte und durch ein einheitliches deutsches Gemeinwesen ersetzte, das sich auf Repräsentativeinrichtungen gründete und jene elementaren Rechte und Freiheiten – Freiheit der Rede, Pressefreiheit usw. – garantierte, die den Menschen im Deutschen Bund noch weithin vorenthalten wurden. Armut und Not der »hungrigen Vierziger« schürten die Unzufriedenheit im Volk und brachten die ersehnte Chance. 1848 brach überall in Deutschland die Revolution los. Die bestehenden Regierungen wurden beseitigt, und die Liberalen kamen an die Macht.7
Die Revolutionäre hielten unverzüglich Wahlen im ganzen Deutschen Bund ab, und in Frankfurt trat eine Nationalversammlung zusammen. Nach langen Beratungen beschloß sie einen Katalog von Grundrechten und errichtete eine deutsche Verfassung in klassischliberalem Geist. Allerdings vermochten die Revolutionäre nicht, die Kontrolle über die Armeen der zwei führenden Staaten Österreich und Preußen zu erringen. Das sollte sich als entscheidender Nachteil erweisen. Im Herbst 1848 hatten die Monarchen, Höflinge und Generale dieser zwei Staaten ihr politisches Selbstbewußtsein zurückerlangt. Sie weigerten sich, die neue Verfassung anzunehmen, und nach einer neuen Welle radikaldemokratischer Aktivitäten, die im Frühjahr 1849 über Deutschland hinweggegangen war, lösten sie das Frankfurter Parlament gewaltsam auf und schickten die Abgeordneten nach Hause. Die Revolution war vorbei. Der Deutsche Bund wurde wiederhergestellt, die führenden Köpfe der Revolution verhaftet und ins Gefängnis gesteckt oder ins Exil getrieben. Das folgende Jahrzehnt, die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, wird von Historikern fast übereinstimmend als eine Zeit der tiefsten Reaktion beschrieben. Wesentliche liberale Wertvorstellungen und bürgerliche Freiheitsrechte wurden überall vom eisernen Stiefel des deutschen Autoritarismus zertreten.
Dennoch betrat Deutschland nicht schon gleich nach 1848 einen direkten oder unbeirrbaren »deutschen Sonderweg« zu aggressivem Nationalismus und politischer Diktatur.8 Unterwegs sollte es noch viele vermeidbare Kurven und Abwege geben. Zunächst einmal hatte das Schicksal der Liberalen Anfang der 1860er Jahre eine neuerliche, dramatische Wende genommen. Zwar hatte die nachrevolutionäre Befriedung, weit davon entfernt, eine simple Rückkehr zur alten Ordnung zu sein, den Deutschen nationale Einigung und parlamentarische Souveränität verwehrt, aber die Liberalen durch Erfüllung vieler ihrer Forderungen beschwichtigt. Geschworenenprozeß in öffentlicher...
Erscheint lt. Verlag | 10.8.2023 |
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Übersetzer | Holger Fliessbach, Udo Rennert |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen und 14 Karten |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Coming of the Third Reich |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | 2023 • Antisemitismus • Aufstieg • das dritte reich: diktatur • das dritte reich: krieg • das dritte reich und seine verschwörungstheorien • Deutschland • Diktatur • Drittes Reich • eBooks • Ernst Röhm • Faschismus • Franz von Papen • Führer • Geschichte • Hermann Göring • Hitler • Holocaust • Judenverfolgung • Kapp-Putsch • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Paul von Hindenburg • Rassismus • Standardwerk • tod in hamburg • Totalitarismus • Versailler Vertrag • Volksgemeinschaft • Weimarer Republik • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-30694-9 / 3641306949 |
ISBN-13 | 978-3-641-30694-6 / 9783641306946 |
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Größe: 34,2 MB
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